Leitsatz (amtlich)
Eine versicherungspflichtige Beschäftigung oder Tätigkeit wird durch eine Zeit krankheitsbedingter Arbeitsunfähigkeit nicht unterbrochen, sondern beendet, wenn daneben fortwährend bis zum Versicherungsfall des Alters eine Erwerbsunfähigkeit besteht. Der zusätzliche Bezug einer Erwerbsunfähigkeitsrente ist dabei nicht entscheidend; er bestärkt nur die Annahme, daß der erwerbsunfähige Versicherte nicht mehr am Erwerbsleben teilnehmen konnte.
Normenkette
AVG § 36 Abs. 1 Nr. 1 Fassung: 1965-06-09; RVO § 1259 Abs. 1 Nr. 1 Fassung: 1965-06-09
Tenor
Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 28. Februar 1975 aufgehoben.
Der Rechtsstreit wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Tatbestand
Umstritten ist, ob Zeiten krankheitsbedingter Arbeitsunfähigkeit auch dann Ausfallzeiten sind, wenn daneben Erwerbsunfähigkeit besteht, ohne daß deswegen schon Rente gewährt wird.
Der Kläger war infolge eines Herzinfarkts seit 20. April 1971 arbeitsunfähig krank. Bis zum 31. Mai bezog er noch Gehalt und danach bis 30. November 1971 Krankengeld. Vom 14. Oktober bis 11. November 1971 wurde ein Heilverfahren ohne Erfolg durchgeführt. Auf den darauf im Dezember gestellten Antrag gewährte die Beklagte Rente wegen Erwerbsunfähigkeit ab 1. Dezember 1971; als Zeitpunkt des Eintritts des Versicherungsfalles wurde der 20. April 1971 angenommen. Mit Wirkung vom 1. Juni 1973 wurde die Rente nach Vollendung des 62. Lebensjahres in Altersruhegeld umgewandelt. Der Rentenberechnung lagen Beitragszeiten bis Mai 1971 zugrunde. Die Zeit vom 1. Juni bis 30. November 1971 wurde nicht als Ausfallzeit angerechnet, weil sie eine versicherungspflichtige Beschäftigung nicht unterbrochen, sondern beendet habe (Bescheid vom 14. März 1974). Der Kläger erstrebt die Anrechnung dieser Zeit als Ausfallzeit.
Die Klage hatte in erster Instanz keinen Erfolg. Das Landessozialgericht (LSG) dagegen verurteilte die Beklagte, beim Altersruhegeld zusätzlich eine Ausfallzeit vom 1. Juni bis 30. November 1971 anzurechnen. Es hielt die Voraussetzungen des § 36 Abs. 1 Nr. 1 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG) für erfüllt. Der Kläger sei bis zur Stellung des Rentenantrages im Dezember 1971 noch arbeitswillig gewesen mit der erkennbaren Absicht, die bisherige oder eine entsprechende Erwerbstätigkeit wieder aufzunehmen. Daß dauernde Erwerbsunfähigkeit bestand, habe sich erst später herausgestellt. Entsprechend der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) zur Unterbrechung von Beitragszeiten durch Arbeitslosigkeit (SozR Nr. 4 zu § 1259 RVO) sei daher anzunehmen, daß der Kläger nicht schon mit Eintritt der Erwerbsunfähigkeit, sondern erst mit dem Rentenbezug aus dem Erwerbsleben ausgeschieden sei.
Mit der zugelassenen Revision beantragt die Beklagte,
das angefochtene Urteil aufzuheben und die Berufung des Klägers gegen das erstinstanzliche Urteil zurückzuweisen.
Sie rügt die Verletzung des § 36 Abs. 1 Nr. 1 AVG. Die Erwägungen des BSG zur Unterbrechung von Beitragszeiten durch Arbeitslosigkeit seien auf den vorliegenden Fall nicht übertragbar.
Der Kläger beantragt
die Zurückweisung der Revision.
Er bestreitet, bereits ab April 1971 erwerbsunfähig gewesen zu sein.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
Entscheidungsgründe
Die Revision der Beklagten ist insofern begründet, als der Rechtsstreit an das LSG zurückzuverweisen ist.
Die Zeit vom 1. Juni bis 30. November 1971 ist dann eine Ausfallzeit, wenn in dieser Zeit eine versicherungspflichtige Beschäftigung (oder Tätigkeit) durch eine krankheitsbedingte Arbeitsunfähigkeit unterbrochen gewesen ist. Das läßt sich nach den bisherigen Feststellungen des LSG nicht abschließend beurteilen.
Sollte der Kläger damals schon erwerbsunfähig gewesen sein, wäre entgegen der Auffassung des LSG allerdings das Vorliegen einer Ausfallzeit im Sinne von § 36 Abs. 1 Nr. 1 AVG zu verneinen. Dann wäre nämlich in der streitigen Zeit die versicherungspflichtige Beschäftigung des Klägers nicht unterbrochen, sondern beendet gewesen.
Fälle, in denen zur Arbeitsunfähigkeit eine Erwerbsunfähigkeit hinzutritt, hat die Rechtsprechung bisher wie folgt beurteilt: Nach BSG 28, 68 (= SozR Nr. 20 zu § 1255 RVO) wird die versicherungspflichtige Beschäftigung, wenn Rente wegen Erwerbsunfähigkeit gewährt wird, spätestens mit dem Eintritt der dauernden Erwerbsunfähigkeit beendet, sofern der Versicherte nicht vor dem Bezug des Altersgeldes wieder erwerbsfähig wird. Nach BSG 32, 232 (= SozR Nr. 34 zu § 1259 RVO) ist der Empfänger einer Erwerbsunfähigkeitsrente voll aus dem Erwerbsleben ausgeschieden, bei vorübergehender Erwerbsunfähigkeit wenigstens für deren Dauer. Nach SozR Nr. 36 zu § 1259 RVO beendet die bis zum Versicherungsfall des Alters bestehende Erwerbsunfähigkeit mit ihrem Eintritt die versicherungspflichtige Beschäftigung, auch wenn vor der unbefristeten Erwerbsunfähigkeitsrente zunächst Übergangsgeld und Zeitrente bezogen wurde; in früheren Urteilen (u. a. einem unveröffentlichten Urteil des 11. Senats vom 22. November 1968) sei bereits ausgesprochen, daß Empfänger von Erwerbsunfähigkeitsrenten nach der Vorstellung des Gesetzgebers jedenfalls eine versicherungspflichtige Beschäftigung (Tätigkeit) in aller Regel nicht mehr ausüben könnten; jedoch könne erst eine vom Versicherungsfall des Alters her rückschauende Betrachtungsweise das endgültige Ausscheiden aus dem Erwerbsleben feststellen; sei die Erwerbsunfähigkeit inzwischen beseitigt, dann sei die versicherungspflichtige Beschäftigung unterbrochen, anderenfalls sei sie beendet gewesen. Nach SozR Nr. 55 zu § 1259 RVO ist ein Versicherter mit dem Zeitpunkt aus dem Arbeits- und Versicherungsleben ausgeschieden, von dem an er zeitlich unbefristete Erwerbsunfähigkeitsrente erhält; denn zum einen sei er von da an so weit in seiner Erwerbsfähigkeit gemindert, daß er auf nicht absehbare Zeit eine Erwerbstätigkeit in gewisser Regelmäßigkeit nicht mehr ausüben oder nicht mehr als nur geringfügige Einkünfte durch eine Erwerbstätigkeit erzielen könne (gesetzliche Definition der Erwerbsunfähigkeit); zum anderen erhalte er nun als Ersatz für das ausgefallene Arbeitseinkommen die mit dem höchsterreichbaren Steigerungssatz ausgestattete Rente, d. h. die bei Beendigung des Erwerbs- und Versicherungslebens vorgesehene "Vollversicherung". Keine Bedeutung wurde dort dem Umstand beigemessen, daß der Versicherte nach der streitigen Zeit vier Monate wieder versicherungspflichtig beschäftigt war (als Golfplatzwärter, möglicherweise auf Kosten seiner Gesundheit). Die Entscheidung SozR 2200 Nr. 6 zu § 1259 RVO folgt im wesentlichen SozR Nr. 36 zu § 1259 RVO, nimmt also, wenn der Versicherte später wieder versicherungspflichtig beschäftigt (tätig) war, - rückschauend - nur eine vorübergehende, im anderen Falle eine dauernde Erwerbsunfähigkeit an; mit dem Eintritt einer solchen dauernden Erwerbsunfähigkeit wird die versicherungspflichtige Beschäftigung als beendet erachtet. Schließlich ist noch auf das zur Veröffentlichung vorgesehene Urteil des 4. Senats vom 18. September 1975 (4 RJ 303/74) hinzuweisen, wonach Zeiten dauernder Invalidität (§ 1253 Abs. 1 Nr. 1 RVO aF) die versicherungspflichtige Beschäftigung nicht unterbrechen; nach dem Recht vor 1957 sei ein Versicherter, der invalide geworden sei, aus dem Erwerbsleben ausgeschieden und habe kein weiterer Versicherungsfall mehr für ihn eintreten können; auch hier wird dem Umstand, daß der Versicherte nach der streitigen Zeit (1940 bis 1952) von 1953 bis 1971 wieder versicherungspflichtig beschäftigt war, keine Bedeutung beigemessen.
Dieser Überblick über die bisherige Rechtsprechung läßt verstehen, wenn Tabert, u. a. mit Bezug auf den hier zu entscheidenden Fall meint (AnV 1975, S. 542), daß "der gesamte Fragenkomplex noch lange nicht geklärt" sei. Immerhin wird deutlich, daß im wesentlichen zwei Gesichtspunkte maßgebend sind. Das ist einmal der Zustand der Erwerbsunfähigkeit. Insoweit wird aus der gesetzlichen Definition der Erwerbsunfähigkeit und den Vorstellungen bzw. der generalisierenden Betrachtungsweise des Gesetzgebers der Schluß gezogen, daß ein Erwerbsunfähiger regelmäßig nicht mehr am Erwerbsleben teilnehmen kann. Der zusätzliche Bezug einer Erwerbsunfähigkeitsrente ist hierbei nur ein diese Annahme bestärkendes Moment. Außerdem wird aber auf die Dauer der Erwerbsunfähigkeit abgestellt. Insofern scheint freilich, wenn die Erwerbsunfähigkeit später wieder entfällt, noch keine klare Linie erkennbar. Anders verhält es sich dagegen, wenn Erwerbsunfähigkeit fortwährend bis zum Versicherungsfall des Alters besteht; hier wird mit dem Eintritt der Erwerbsunfähigkeit die versicherungspflichtige Beschäftigung für beendet erachtet.
Dieser Auffassung folgt der Senat auch im vorliegenden Fall. Denn hier hätte der Versicherte mit dem Eintritt der Erwerbsunfähigkeit einen Zustand erreicht gehabt, in dem ein Versicherter generell zur Teilnahme am Erwerbsleben nicht mehr fähig ist; außerdem hat er von da an tatsächlich nicht mehr am Erwerbsleben teilgenommen, hier allerdings ausgenommen die Zeit bis Ende Mai 1971, in der er noch Gehalt bezogen hat.
Dieser Entscheidung steht die Rechtsprechung zur Unterbrechung der versicherungspflichtigen Beschäftigung durch Arbeitslosigkeit (BSG SozR Nr. 4 zu § 1259 RVO) nicht entgegen. Das hat der 1. Senat des BSG bereits in BSG 28, 68 (= SozR Nr. 20 zu § 1259 RVO) dargelegt. Der Unterschied liegt darin, daß hier zu dem gesetzlichen Tatbestandsmerkmal der Arbeitsunfähigkeit eine Erwerbsunfähigkeit hinzutritt, während in dem vom LSG herangezogenen Vergleichsfall nur das Tatbestandsmerkmal der Arbeitslosigkeit vorliegt. Der Zustand der Erwerbsunfähigkeit besteht aber unabhängig von subjektiven Vorstellungen und Absichten des Versicherten und ebenso unabhängig von ärztlichen Prognosen (vgl. SozR Nr. 36 zu § 1259 RVO). Es ist deshalb unerheblich, ob der Kläger in der streitigen Zeit arbeitswillig war und sobald wie möglich wieder tätig sein wollte.
Aus den Feststellungen des LSG läßt sich jedoch nicht entnehmen, daß das LSG den Kläger in der streitigen Zeit für erwerbsunfähig im Sinne von § 24 Abs. 2 AVG hielt. Das LSG hat deutlich nur auf die entsprechende Annahme der Beklagten hingewiesen; ob es selbst von der Erwerbsunfähigkeit des Klägers in dieser Zeit überzeugt war, wird dagegen auch aus dem Gesamtzusammenhang des Berufungsurteils nicht hinreichend klar, zumal vom Rechtsstandpunkt des LSG wohl eine solche Feststellung entbehrlich war. Der Klärung der Erwerbsunfähigkeit durch das LSG bedarf es aber, auch wenn die Beklagte in dem Bescheid über die Gewährung der Erwerbsunfähigkeitsrente den Eintritt der Erwerbsunfähigkeit für den 20. April 1971 festgestellt hatte; denn diese Feststellung der Beklagten ist von der Bindungswirkung des Rentenbescheides nicht erfaßt worden (ebenso 12. Senat, SozEntsch IX Bc 9 Nr. 6).
Unter diesen Umständen bleibt nur übrig, das angefochtene Urteil aufzuheben und den Rechtsstreit an das LSG zurückzuverweisen, das abschließend auch über die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden haben wird.
Fundstellen