Leitsatz (amtlich)
Ein Unfall, den ein Soldat während des Wochenendurlaubs auf dem Weg von der Familienwohnung zur Kaserne und zurück erleidet, wurde nicht deswegen durch wehrdiensteigentümliche Verhältnisse herbeigeführt, weil der Soldat in der Kaserne ein Schreiben der Wehrbereichsverwaltung vergessen hatte, das eine Inanspruchnahme auf Schadensersatz unter kurzer Fristsetzung enthielt, worüber er sich mit seinem Vater beraten wollte.
Normenkette
SVG § 80 S. 1 Fassung: 1971-09-01, § 81 Abs. 1 Fassung: 1971-09-01, Abs. 3 S. 1 Nr. 4 Fassung: 1971-09-01, § 85 Abs. 1 Fassung: 1971-09-01; SG § 24
Verfahrensgang
Tenor
Auf die Revisionen der Beklagten und des Beigeladenen wird das Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 6. Juli 1976 aufgehoben.
Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Koblenz vom 9. Dezember 1975 wird zurückgewiesen.
Kosten des Berufungs- und des Revisionsverfahrens sind nicht zu erstatten.
Tatbestand
Der im Februar 1954 geborene Kläger war von 1972 bis 1974 Soldat auf Zeit (Unteroffizier) bei der Bundeswehr. Ende Juli 1973 erhielt er einen Bescheid der Wehrbereichsverwaltung über eine Schadensersatzforderung von 56,15 DM wegen verschuldeten Verlustes persönlicher Ausrüstungsgegenstände, gegen den binnen zwei Wochen nach Aushändigung Beschwerde möglich war. Da er den Bescheid am Freitag, den 3. August 1973, bei der Heimfahrt von der Garnison Westerburg nach der 30 km entfernten Familienwohnung in Altenkirchen vergessen hatte, holte er ihn am Samstag, den 4. August 1973, mit dem Pkw seines Vaters in der Kaserne ab, um sich von diesem beraten zu lassen. Auf der Rückfahrt verunglückte er so schwer, daß ihm das linke Bein amputiert werden mußte.
Das Wehrbereichsgebührnisamt lehnte mit Bescheid vom 5. Mai 1975 die vom Kläger begehrten Ausgleichsleistungen ab, weil die Fahrt eigenwirtschaftlichen Interessen gedient habe und deshalb versorgungsrechtlich nicht geschützt gewesen sei. Die Klage blieb nach Beiladung des Landes Rheinland-Pfalz ohne Erfolg (Urteil vom 9. Dezember 1975). Auf die Berufung des Klägers hob das Landessozialgericht (LSG) den angefochtenen Bescheid und das Urteil des Sozialgerichts (SG) auf, verurteilte die Beklagte, dem Kläger für die Unfallfolgen einen Ausgleich gemäß § 85 Soldatenversorgungsgesetz (SVG) zu gewähren, und ließ die Revision zu (Urteil vom 6. Juli 1976). Das LSG führte aus: Um eine Heimfahrt zur Familienwohnung i.S. von § 81 Abs. 3 Nr. 4 Soldatenversordnungsgesetz (SVG) i.d.F. vom 1. September 1971 (BGBl I 1481) habe es sich allerdings nicht gehandelt. Dem Kläger stehe aber für seine restliche Wehrdienstzeit ein Ausgleich wegen der Unfallfolgen zu, weil die Unfallfahrt allein wegen wehrdiensteigentümlicher Verhältnisse (§ 81 Abs. 1 SVG) durchgeführt worden sei. Von diesen würden die Verhältnisse erfaßt, die dem militärischen Bereich eigen, mit dem Soldatendienst zwangsläufig verbunden und vom bürgerlichen Leben abgegrenzt seien (BSGE 18, 199). Der Pflicht des Klägers, Ausrüstungsgegenstände sorgsam zu behandeln und vor Verlust zu schützen, habe das Recht entsprochen, sich gegen ungerechtfertigte Schadensersatzforderungen in der vorgesehenen Form zu wehren und sich hierüber beraten zu lassen. Der Vorwurf des Verlustes persönlicher Ausrüstungsgegenstände berühre die dienstlichen Interessen und sei nicht vorwiegend privater Natur. Maßnahmen zur Wahrnehmung dieser Belange seien versorgungsrechtlich geschützt. Anhaltspunkte dafür, daß der innere Zusammenhang mit den dienstlichen Belangen unterbrochen wäre, seien nicht ersichtlich. Das Vergessen des Bescheides auf der Heimfahrt am Vortage oder der geringe Betrag der Schadensersatzforderung seien hierfür ohne Bedeutung, auch sei die Fahrt allein wegen der Abholung des Bescheides durchgeführt worden und nicht nur als Nebenzweck. Schließlich habe die kurze Beschwerdefrist von zwei Wochen kaum die Wahl gelassen, die für erforderlich gehaltene Besprechung mit dem Vater auf ein späteres Wochenende zu verschieben.
Gegen dieses Urteil haben die Beklagte und das beigeladene Land Revision eingelegt. Das beigeladene Land meint, der durch die Rechtsprechung konkretisierte Begriff "wehrdiensteigentümliche Verhältnisse" (BSGE 10, 252; 18, 199; 33, 239; 37, 283) verlange einen Sachverhalt, dem nichts an Art, Maß und Grad Vergleichbares im Zivilleben gegenüberstehe (Fehl, VersBea 1976, 4). Hätte das Berufungsgericht Vergleiche mit den Verhältnissen ziviler Arbeitnehmer oder Beamter angestellt, dann hätte es ähnliche Gegebenheiten wie beim Kläger finden können (BVerwG, NJW 1964, 2030; 1965, 458; 1966, 364; 1967, 2424). Eine Verpflichtung, Rechtsmittel einzulegen, weil die Übereinstimmung von formeller und materieller Rechtslage im dienstlichen Interesse liege, bestehe jedenfalls nicht. Eine allgemeine Feststellung, der Rechtsschutz des Soldaten sei wegen der wehrdiensteigentümlichen Kasernierung beeinträchtigt lasse sich nicht treffen. Die extensive Auslegung des Berufungsgerichts sei nicht zu vertreten (BSG 18, 199; OVG Koblenz, NJW 1966, 1472).
Die Beklagte und das beigeladene Land beantragen,
das Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 6. Juli 1976 aufzuheben und die Berufung gegen das Urteil des Sozialgerichts Koblenz vom 9. Dezember 1975 als unbegründet zurückzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Revision der Beklagten und des Beigeladenen zurückzuweisen.
Er hält das Berufungsurteil für richtig und bezieht sich ergänzend auf die Urteile des Bundessozialgerichts (BSG) in BSGE 10, 251; 18, 199; 33, 239 und 37, 282.
Die Beteiligten haben ihr Einverständnis mit einem Urteil ohne mündliche Verhandlung erklärt.
Entscheidungsgründe
Die Revisionen der Beklagten und des nach § 75 Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) beigeladenen Landes sind zulässig. Zwar hat die Beklagte die Revision nicht innerhalb der gesetzlichen Frist begründet (§ 164 Abs. 2 SGG), sondern nur auf die Begründung des Beigeladenen verwiesen. Für die Begründung der Revision genügt aber die Bezugnahme auf die ordnungsgemäße Revisionsbegründung eines - auch nur einfach - Beigeladenen, jedenfalls dann, wenn der Beigeladene dieselben Anträge stellt wie der Revisionskläger (BSGE 16, 227). Andererseits erlaubt § 75 Abs. 4 SGG dem nach § 75 Abs. 1 SGG Beigeladenen, selbständig Angriffsmittel geltend zu machen und alle Verfahrenshandlungen wirksam vorzunehmen, sofern er keine abweichenden Sachanträge stellt (BSGE 8, 291). Da solche nicht vorliegen, bestehen gegen die Zulässigkeit der Revisionen keine Bedenken. Sie erweisen sich in der Sache auch als begründet. Das LSG hat der Klage zu Unrecht stattgegeben.
Nach § 85 Abs. 1 SVG idF der Bekanntmachung der Neufassung des SVG vom 1. September 1971 (BGBl I 1481) und unter Berücksichtigung der Neufassungen vom 5. März 1976 (BGBl I 457) und vom 18. Februar 1977 (BGBl I 337) erhalten Soldaten wegen der Folgen einer Wehrdienstbeschädigung (WDB) während ihrer Dienstzeit ua einen Ausgleich in Höhe der Grundrente nach § 30 Abs. 1 Bundesversorgungsgesetz (BVG), sobald seine Voraussetzungen erfüllt sind (§ 85 Abs. 4 Satz 1 SVG). WDB ist eine gesundheitliche Schädigung, die durch eine Wehrdienstverrichtung, durch einen während der Ausübung des Wehrdienstes erlittenen Unfall oder durch die dem Wehrdienst eigentümlichen Verhältnisse herbeigeführt worden ist (§ 81 Abs. 1 SVG). Zum Wehrdienst gehört auch das Zurücklegen des mit dem Wehrdienst zusammenhängenden Weges nach und von der Dienststelle; das gilt auch für den Weg von und nach der ständigen Familienwohnung (81 Abs. 3 Nr. 4 SVG aF, später Abs. 3 Satz 1 Nr. 4, Satz 2, Abs. 4 Satz 1 Nr. 2, Satz 3). Die Heimfahrt zur Familienwohnung hatte der Kläger bereits am Vortage zurückgelegt. Der versorgungsrechtlich geschützte Tatbestand war für ihn also am 3. August 1973 mit der Ankunft in der elterlichen Wohnung abgeschlossen; erst die Rückfahrt nach Westerburg zum Dienstantritt - vermutlich am 6. August 1973 - wäre wieder als das Zurücklegen des mit dem Wehrdienst zusammenhängenden Weges von der Familienwohnung nach der Dienststelle in Betracht gekommen. Die Bemerkung im Urteil des 10. BSG-Senats vom 6. August 1968, der Versorgungsschutz müsse "sinnvoll für jede familienbedingte Heimfahrt bestehen, unabhängig zu welcher Zeit sie begonnen wird" (BSGE 28, 190, 197), bezieht sich allein auf die Frage, welcher zeitliche Zusammenhang zwischen dem Ende der Dienstausübung und dem Beginn der Familienheimfahrt vorauszusetzen ist, bedeutet aber keineswegs, daß als versorgungsrechtlich geschützt auch beliebig viele Wiederholungsfahrten vom Dienstort zur Familienwohnung und zurück während einer Wochenendfreizeit gelten sollen. Nur in Ausnahmefällen kann die Wiederholung eines mit dem Erreichen des Ziels bereits beendeten Weges nach oder von der Dienststelle erneut mit dem Dienst zusammenhängen, nämlich wenn hierfür eine dienstliche Notwendigkeit bestanden hat (vgl. zu Wegeunfällen in der gesetzlichen Unfallversicherung: SozR Nr. 11 zu § 543 RVO aF; Urteile vom 25. Januar 1977 - 2 RU 99/75 - und 26. Mai 1977 - 2 RU 97/75 -; anders - vom Tatbestand her - Urteil vom 25. Januar 1977 - 2 RU 57/75 -). Zu Recht hat das LSG deshalb die Anwendbarkeit des § 81 Abs. 3 Nr. 4 SVG verneint. Hiergegen hat auch der Kläger in seiner Revisionserwiderung nichts vorgebracht.
Nicht geschützt sind dagegen in der Regel sonstige Wege von und zur Dienststelle, zumal die Fahrten, die ein Soldat während seiner Wochenendfreizeit unternimmt (zB für private Besorgungen, Gaststätten- und Bekanntenbesuche, Urlaubsfahrten etc; BSG BVBl 1973, 6; SozR 3200 § 81 Nr. 6), sofern nicht etwa im Einzelfall die letzte Alternative des § 81 Abs. 1 SVG durchgreift. Es kommt also darauf an, ob die erneute Heimfahrt, die der Kläger am 4. August 1973 durchgeführt hat, dadurch im inneren Zusammenhang mit dem Wehrdienst gestanden hat, daß sie von wehrdiensteigentümlichen Verhältnissen wesentlich bestimmt wurde. Dies hat das LSG bejaht, nach Auffassung des Senats jedoch zu Unrecht. Zwar ist das LSG von einem zutreffenden Inhalt des Begriffs "wehrdiensteigentümliche Verhältnisse" (BSGE 37, 282, 283 = SozR 3200 § 81 Nr. 1; 3200 § 80 Nr. 2; 3200 § 81 Nr. 7) ausgegangen, jedoch hat es ihn auf den vorliegenden Fall unrichtig angewandt.
Die Fahrt, die der Kläger am Unfalltage von seiner Familienwohnung zur Kaserne und wieder zurück unternahm, war nicht durch Besonderheiten des Wehrdienstes gekennzeichnet, die sich von normalen Verhältnissen des Zivillebens grundlegend unterscheiden. Solche Besonderheiten wären z.B. sicherlich gegeben, wenn dem Soldaten ein Befehl erteilt wird, dessen Befolgung Konflikte auslösen würde (§ 11 Abs. 1 Satz 3, Abs. 2 Soldatengesetz - SoldatenG - idF vom 22. April 1969, BGBl I 313); auch Disziplinarmaßnahmen wegen Dienstvergehen (§ 23 SoldatenG iVm §§ 18, 54 Wehrdisziplinarordnung idF vom 4. September 1972 - BGBl I 1665) können in diesem Zusammenhang relevant sein. Diese oder ähnliche - gleichermaßen vom Wehrdienst geprägte - Umstände hatten aber den Kläger zu seiner unfallbringenden Fahrt nicht bewogen. Daß er den aufgrund seines Dienstverhältnisses gegen ihn ergangenen Bescheid der Wehrbereichsverwaltung nach Hause holen wollte, um sich mit seinem Vater über eine Anfechtung dieses Bescheides zu beraten, stellte nur eine äußerliche Beziehung zum Wehrdienst dar, die nicht dazu geeignet ist, den ganzen Vorgang als wehrdiensteigentümlich zu beurteilen. Denn in gleicher Weise wie ein Soldat (gemäß § 24 SoldatenG) ist auch ein Arbeitnehmer im Zivilleben, insbesondere jeder im öffentlichen Dienst tätige Beamte, Angestellte oder Arbeiter zur sorgsamen Behandlung und Verwahrung der ihm anvertrauten Arbeitsgeräte und bei deren Beschädigung oder Verlust zum Ersatz des Schadens verpflichtet, den er seinem Arbeitgeber oder Dienstherrn rechtswidrig schuldhaft zugefügt hat (Mankohaftung, vgl. Hueck/Nipperdey, Lehrbuch des Arbeitsrechts, Bd. I, 7. Aufl. S. 226 ff; Palandt/Putzo, BGB, 36. Aufl, Anm. 3 e zu § 611; Reinecke, Zeitschrift für Arbeitsrecht 1976, 215; zum Beamtenrecht: Plog/Wiedow, BBG, RdNr. 1, 17 ff zu § 78). Auch wenn es für den Soldaten mit einer solchen vermögensrechtlichen Inanspruchnahme nicht sein Bewenden hätte, sondern darüber hinaus - wie das LSG annimmt - ein Schuldvorwurf der hier gegebenen Art die dienstliche Beurteilung und damit die Beförderungschancen ungünstig beeinflussen könnte, ergibt sich hieraus keine wehrdiensteigentümliche Besonderheit. Auch ein ziviler Bediensteter kann nämlich ebenso wie ein Soldat im Interesse seiner dienstlichen Entwicklung, insbesondere seines beruflichen Aufstiegs, daran interessiert sein, die Unrechtmäßigkeit einer gegen ihn geltend gemachten Mankohaftung klarstellen zu lassen und ebenfalls darauf angewiesen sein, sich hierüber mit seiner Familie zu beraten. Grundlegende Unterschiede zwischen dem Wehrdienstverhältnis und zivilen Arbeits- oder Dienstverhältnissen sind also insoweit nicht ersichtlich.
Sprechen diese allgemeinen Erwägungen gegen die Annahme von wehrdiensteigentümlichen Verhältnissen, so sind die speziellen Merkmale des hier zu beurteilenden Sachverhalts nicht dazu angetan, ein abweichendes Ergebnis zu rechtfertigen. Der Kläger - Abiturient, im Urfallzeitpunkt 19 Jahre alt und Unteroffizier - wußte über die gegen ihn erhobenen Vorwürfe, zu denen er im April 1973 dienstlich vernommen worden war, längst Bescheid und hätte dies also schon früher seinem Vater mitteilen können. Ob er überhaupt auf Beratung an seinem Familienwohnort angewiesen war oder ob nicht vielmehr die in der Garnison verfügbaren Möglichkeiten (vgl. etwa § 10 Abs. 2 SoldatenG: Sorgepflicht des Vorgesetzten, § 35 Abs. 2 SoldatenG: Vertrauensmann) bei einem derartigen, auch finanziell nicht allzu schwerwiegenden Anlaß ausgereicht hätten, mag dahinstehen. Die durch den Wehrdienst bedingte Trennung vom Elternhaus, von der übrigens in ähnlicher Weise auch Auszubildende und jüngere Arbeitnehmer bei ihrer Berufsausübung betroffen sein können, hätte sich schließlich überhaupt nicht ausgewirkt, wenn der Kläger den Bescheid am 3. August 1973 auf seiner Familienheimfahrt mit nach Hause gebracht oder sich jedenfalls seinen wesentlichen - leicht faßbaren - Inhalt gemerkt hätte. Daß dies unterblieb, war eine vom Wehrdienst unbeeinflußte Fehlleistung des Klägers. Die Fahrt zur Kaserne am 4. August 1973 kann hiernach nicht als eine Auswirkung wehrdiensteigentümlicher Verhältnisse angesehen werden.
Auf die begründeten Revisionen ist das Urteil des LSG aufzuheben (§ 170 Abs. 2 SGG). Die Berufung des Klägers war zurückzuweisen.
Außergerichtliche Kosten des Revisionsverfahrens sind nicht zu erstatten (§ 193 SGG).
Fundstellen