Entscheidungsstichwort (Thema)
Berufskundliche Dokumentation. Verweisbarkeit
Orientierungssatz
1. Eine berufskundliche Dokumentation (hier: Berufsdokumentation des LSG Essen) darf nicht als Beweismittel für die Benennung von Verweisungstätigkeiten verwertet werden, ohne daß sie in die mündliche Verhandlung eingeführt wurde (vgl BSG vom 1978-12-20 4 RJ 23/78).
2. Bei der Verweisung auf gesundheitlich zumutbare Tätigkeiten ist zu prüfen, ob der Versicherte auch über die Kräfte und Fähigkeiten verfügt, die zur Ausübung der jeweiligen Berufstätigkeit im einzelnen erforderlich sind.
Normenkette
RVO § 1246 Abs 2 S 2 Fassung: 1957-02-23; SGG § 128 Abs 2 Fassung: 1953-09-03
Verfahrensgang
LSG Rheinland-Pfalz (Entscheidung vom 14.03.1980; Aktenzeichen L 6 J 193/79) |
SG Trier (Entscheidung vom 18.07.1979; Aktenzeichen S 3 J 102/78) |
Tatbestand
Der im Jahr 1922 geborene Kläger, gelernter Maurer, war bis 1976 als Maurer beschäftigt. Wegen einer Allergie gegen Kaliumdichromat, Sublimat und Epoxidharz kann er jetzt nicht mehr als Maurer arbeiten; darüber hinaus ist seine Erwerbsfähigkeit nicht eingeschränkt.
Der Kläger beantragte im März 1978 bei der Beklagten Rente wegen Berufs- oder Erwerbsunfähigkeit. Die Beklagte lehnte diesen Antrag mit Bescheid vom 29. Mai 1978 ab. Das Sozialgericht Trier hat mit Urteil vom 18. Juli 1979 die Klage des Klägers abgewiesen. Das Landessozialgericht (LSG) Rheinland-Pfalz hat mit Urteil vom 14. März 1980 die Berufung des Klägers als unbegründet zurückgewiesen. Es hat in den Entscheidungsgründen ausgeführt: Der Kläger könne auf Tätigkeiten im Biegeschuppen sowie auf Arbeiten eines Maschinen- oder Magazinverwalters, Hilfsschraubers, Turbomaschinisten, Platz- oder Lagerverwalters verwiesen werden; für Einzelheiten hat es auf die "Berufsdokumentation des LSG Nordrhein-Westfalen" Bezug genommen.
Mit der vom Senat zugelassenen Revision rügt der Kläger eine Verletzung der §§ 62 sowie 128 Abs 2 Sozialgerichtsgesetz und führt aus: Das LSG habe ihn nicht darauf hingewiesen, daß es sich auf die Berufsdokumentation stützen wolle. Damit habe es ihm unmöglich gemacht, geeignete Erklärungen zu dieser Dokumentation abzugeben und Beweisanträge zu stellen. Der Kläger beantragt,
die Urteile der Vorinstanzen sowie den Bescheid
der Beklagten vom 1978-05-29 aufzuheben und die
Beklagte zu verurteilen, ihm für die Zeit vom
1978-06-01 an Rente wegen Erwerbsunfähigkeit,
hilfsweise: Rente wegen Berufsunfähigkeit, zu zahlen.
Die Beklagte stellt keinen Antrag.
Entscheidungsgründe
Die Revision des Klägers führt zur Zurückverweisung des Rechtsstreits an das LSG, da die von diesem getroffenen tatsächlichen Feststellungen für eine abschließende Entscheidung nicht ausreichen.
Das LSG hat den Kläger deshalb nicht als berufsunfähig - und auch nicht als erwerbsunfähig - angesehen, weil dieser auf andere Tätigkeiten außerhalb des Maurerberufes verwiesen werden könne. Seine Feststellungen, die Tätigkeiten entsprächen den "Kräften und Fertigkeiten" (§ 1246 Abs 2 Satz 2 Reichsversicherungsordnung) des Klägers, sind nicht verfahrensfehlerfrei zustandegekommen. Für die Tätigkeiten im Biegeschuppen sowie als Maschinen- oder Magazinverwalter hat das Berufungsgericht auf die "Berufsdokumentation" des LSG Nordrhein-Westfalen Bezug genommen, ohne diese Dokumentation vorher ordnungsmäßig in das Verfahren eingeführt zu haben. Dazu hat der Senat bereits im Urteil vom 20. Dezember 1978 - 4 RJ 23/78 - unter Hinweis auf seinen Beschluß vom 31. Oktober 1978 - 4 BJ 149/78 - (SozR 1500 § 128 Nr 15) ausgeführt, das Berufungsgericht habe die Dokumentation nicht als Beweismittel verwerten dürfen, ohne die Beteiligten vorher darauf aufmerksam zu machen, insbesondere auch darauf, zu welchen Verweisungstätigkeiten die Dokumentation herangezogen werden solle; auch wenn vom Inhalt der Dokumentation als "gerichtskundiger Tatsache" hätte ausgegangen werden sollen, hätte der Kläger vorher gehört werden müssen. Das Unterlassen dieser Anhörung wird vom Kläger auch im vorliegenden Rechtsstreit gerügt; die Rüge ist begründet.
Wenn das LSG darüber hinaus erklärt, für den Kläger kämen auch noch Tätigkeiten als Hilfsschrauber, Turbomaschinist, Platz- oder Lagerverwalter in Betracht, so fehlt es auch insoweit an den erforderlichen Feststellungen, insbesondere daran, ob diese Tätigkeiten den Kräften und Fähigkeiten des Klägers entsprächen. Das LSG beschränkt sich auf die Feststellung, bei diesen Tätigkeiten könne eine unmittelbare Berührung mit allergieauslösenden Materialien vermieden werden. Zu der Frage, welche Kräfte und Fähigkeiten diese Tätigkeiten verlangen und ob der Kläger den Anforderungen genügt, hat das LSG sich nicht geäußert. Feststellungen dazu waren nicht etwa deshalb entbehrlich, weil der Kläger nur durch die Allergie in seiner Erwerbsfähigkeit eingeschränkt ist. Denn wenn auch der Kläger aus gesundheitlichen Gründen - abgesehen von der Allergie - nicht gehindert ist, alle vorkommenden Tätigkeiten auszuüben, so ist damit noch nicht gesagt, daß er auch die beruflichen Kenntnisse und Fertigkeiten sowie die geistigen Voraussetzungen für die Tätigkeiten erfüllt. Es wäre deshalb erforderlich gewesen, die körperlichen, geistigen, beruflichen und sonstigen Anforderungen zu ermitteln, die die Tätigkeiten des Hilfsschraubers (der Begriff erscheint weder in der Sammlung "Berufstätigkeiten in der Bundesrepublik Deutschland", herausgegeben 1966 vom Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung, noch im Verzeichnis der anerkannten Ausbildungsberufe 1980), des Turbomaschinisten (entspricht möglicherweise der Berufsklasse 4311 "Maschinist an Kraftmaschinen"), des Platzverwalters (Berufsklasse 6713) und des Lagerverwalters (Berufsklasse 3817) verlangen, und diese Anforderungen mit den Kräften und Fähigkeiten des Klägers zu vergleichen.
Da der Senat diese Ermittlungen nicht selbst anstellen kann, war die Sache an das Berufungsgericht zurückzuverweisen.
Fundstellen