Entscheidungsstichwort (Thema)
Geschiedenenwitwenrente. Unterhalt iS des Sozialversicherungsrechts. freie Beweiswürdigung. Bindung des Revisionsgerichts
Orientierungssatz
Eine fehlerhafte Beweiswürdigung ist in der Regel ein Mangel in der Urteilsfindung und kein Verfahrensfehler. Ein Verstoß gegen § 128 SGG liegt nur dann vor, wenn die Grenzen der freien Beweiswürdigung verfahrensfehlerhaft nicht beachtet sind oder das Gericht gegen allgemeine Erfahrungssätze oder Denkgesetze verstoßen hat (vgl BSG 1960-08-15 4 RJ 291/59 = SozR Nr 56 zu § 128 SGG).
Normenkette
RVO § 1265 S 1 Fassung: 1957-02-23; SGG § 128 Fassung: 1953-09-03
Verfahrensgang
LSG Rheinland-Pfalz (Entscheidung vom 29.10.1979; Aktenzeichen L 2 J 78/79) |
SG Speyer (Entscheidung vom 22.02.1979; Aktenzeichen S 11 J 150/77) |
Tatbestand
Die im Jahr 1924 geborene Klägerin heiratete 1948 den im Jahr 1926 geborenen Arbeiter S H (Versicherter). Die Ehe wurde im Jahr 1970 aus dem Verschulden des Mannes geschieden; eine Unterhaltsregelung wurde nicht getroffen. Die Klägerin bezog ab 1. Juli 1975 Sozialhilfe. Der Versicherte ist am 18. September 1975 bei einem Arbeitsunfall gestorben.
Der Antrag der Klägerin auf Rente nach § 1265 Reichsversicherungsordnung (RVO) lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 15. Juni 1976 ab.
Auf die Klage hin hat das Sozialgericht (SG) Speyer mit Urteil vom 22. Februar 1979 den Bescheid aufgehoben und die Beklagte verurteilt, der Klägerin für die Zeit vom 1. Oktober 1975 an Rente zu gewähren. Das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung der Beklagten als unbegründet zurückgewiesen (Urteil vom 29. Oktober 1979). In den Entscheidungsgründen des Berufungsurteils ist ausgeführt: Der Versicherte habe zur Zeit seines Todes der Klägerin Unterhalt nach den Vorschriften des Ehegesetzes (EheG) zu leisten gehabt; er sei in der Lage gewesen, der Klägerin mindestens 100,-- DM monatlich zu zahlen. Die Aussage der Tochter der Klägerin, H P, vor dem SG über die Zahlungen des Versicherten an die Klägerin seien glaubhaft, wenn auch nicht verkannt werde, "daß die Klägerin zur Frage der Unterhaltsleistungen des Versicherten widersprüchliche Angaben gemacht" habe. Der - von der Beklagten beantragten - Vernehmung der Sachbearbeiter, die die Anträge der Klägerin auf Rente und auf Sozialhilfe entgegengenommen hätten, bedürfe es nicht.
Die Beklagte hat das Urteil des SG mit dem Bescheid vom 19. Mai 1979 ausgeführt und der Klägerin für die Zeit vom 22. Februar 1979 an Hinterbliebenenrente nach § 1265 RVO in Höhe von 565,50 DM monatlich gewährt. In dem "Versicherungsverlauf", der Teil des Bescheides ist, werden die Entgelte des Versicherten für die Zeit nach dem 30. Juni 1973 wie folgt ausgewiesen:
1973-11-12 bis 1973-12-31 2.345,-- DM
1974-01-01 bis 1974-02-25 2.892,-- DM
1975-08-01 bis 1975-09-18 1.173,-- DM
Mit der vom Senat zugelassenen Revision rügt die Beklagte die unrichtige Anwendung des § 1265 Satz 1 RVO und der §§ 128, 103 Sozialgerichtsgesetz (SGG). Sie beanstandet ua, daß das LSG ihrem Beweisantrag nicht gefolgt sei und nicht geprüft habe, ob der Betrag, den der Versicherte angeblich habe zahlen können, 25 vH des Mindestbedarfs der Klägerin erreicht habe.
Sie beantragt,
die Urteile der Vorinstanzen aufzuheben
und die Klage abzuweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Revision der Beklagten als unbegründet
zurückzuweisen.
Auf den Schriftsatz ihres Prozeßbevollmächtigten vom 3. September 1980 wird Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
Die Revision der Beklagten führt zur Zurückverweisung der Sache an das LSG. Die von diesem getroffenen tatsächlichen Feststellungen reichen für eine abschließende Entscheidung nicht aus.
Der Anspruch der Klägerin auf Rente aus der Versicherung ihres geschiedenen Ehemannes kann nach Lage der Dinge nur auf die Vorschrift des § 1265 Satz 1 RVO gestützt werden. Danach wird einer früheren Ehefrau des Versicherten, deren Ehe mit diesem vor dem 1. Juli 1977 geschieden ist, nach dem Tode des Versicherten Rente gewährt,
- wenn ihr der Versicherte zur Zeit seines Todes Unterhalt
-- nach den Vorschriften des EheG (Fall 1) oder
-- aus sonstigen Gründen (Fall 2)
zu leisten hatte oder
- wenn er im letzten Jahr vor seinem Tode Unterhalt
geleistet hat (Fall 3).
Das LSG sieht die Klage deshalb als begründet an, weil der Versicherte zur Zeit seines Todes der Klägerin Unterhalt nach den Vorschriften des EheG zu leisten gehabt habe (Fall 1). Gegen diese Rechtsansicht bestehen Bedenken.
Daß das LSG die eigenen Entscheidungsgründe zum größten Teil durch eine Bezugnahme auf die Entscheidungsgründe des SG ersetzt, mag gerade noch hingenommen werden, wenn der Senat auch (wie schon im Urteil vom 15. Januar 1981 - 4 RJ 109/79) darauf hinweist, daß § 543 Zivilprozeßordnung (ZPO) idF der Vereinfachungsnovelle vom 3. Dezember 1976 (BGBl I 3281) im sozialgerichtlichen Verfahren nicht entsprechend anwendbar ist (BSG, Urteil vom 5. Juli 1979 - 9 RV 72/77 - SozR 1750 § 543 Nr 2).
Das LSG hat richtig erkannt, daß eine etwaige Unterhaltspflicht des Versicherten gegenüber der Klägerin auch von den Vermögens- und Erwerbsverhältnissen des Versicherten abhing (§ 59 Abs 1 Satz 1 EheG, der für "Altehen" fortgilt, vgl Art 12 Nr 3 Abs 2 des 1. EheRG). Es hat dazu festgestellt, der Versicherte habe der Klägerin von September 1974 bis Juni 1975 monatlich 300,-- DM Unterhalt gezahlt und sei deshalb in der Lage gewesen, ihr zur Zeit seines Todes (September 1975) einen Unterhalt von mindestens 100,-- DM monatlich zu gewähren (Bl 6 des SG-Urteils, auf das das LSG auf Bl 7 seines Urteils Bezug genommen hat). Diese Feststellungen beruhen auf den "glaubhaften" Aussagen" der Tochter der Klägerin, die das SG zweimal, im Erörterungstermin vom 16. Juni 1977 und in der mündlichen Verhandlung vom 25. Oktober 1978, vernommen und bei der zweiten Vernehmung auch vereidigt hat. Nach Auffassung des LSG ist die Richtigkeit dieser Aussagen durch den ebenfalls am 25. Oktober 1978 vernommenen Rentner F B M bestätigt worden, der als Werkmeister der D Schiffahrt und Spedition GmbH, Zweigniederlassung M, Vorgesetzter des Versicherten war.
An die tatsächliche Feststellung des Berufungsgerichts, der Versicherte sei wirtschaftlich in der Lage gewesen, der Klägerin zur Zeit seines Todes einen Unterhaltsbetrag von mindestens 100,-- DM monatlich zu zahlen, ist der Senat nach § 163 SGG gebunden. Zwar hat die Beklagte in bezug auf diese Feststellung Revisionsgründe vorgebracht. Diese sind aber nicht begründet.
Die Beklagte beanstandet zunächst, daß das Berufungsgericht seine Überzeugung unter Verstoß gegen § 128 SGG (offenbar Abs 1 Satz 1: "Das Gericht entscheidet nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung") gewonnen habe. Sie ist der Ansicht, das LSG hätte aufgrund der nur gelegentlichen Tätigkeiten des Versicherten und der vorliegenden Gesamtumstände den Bekundungen der Zeugin P keine ausschlaggebende Bedeutung beimessen dürfen; gegen die Annahme, der Versicherte sei zur Zeit seines Todes unterhaltsfähig gewesen, sprächen gewichtige Umstände. Dabei beachtet sie aber nicht, daß eine fehlerhafte Beweiswürdigung in der Regel ein Mangel in der Urteilsfindung und kein Verfahrensfehler ist und daß ein Verstoß gegen § 128 SGG nur dann vorliegt, wenn die Grenzen der freien Beweiswürdigung verfahrensfehlerhaft nicht beachtet sind oder das Gericht gegen allgemeine Erfahrungssätze oder Denkgesetze verstoßen hat (BSGE 1, 150, 153; SozR Nr 34 und 56 zu § 128 SGG; Meyer-Ladewig, Rz 10 zu § 128 SGG). Die Beweiswürdigung, die das LSG vorgenommen hat, verstößt aber - selbst wenn sie zu einem "falschen" Ergebnis geführt hätte -, weder gegen Denkgesetze noch gegen Erfahrungssätze, und sie liegt auch nicht außerhalb der - verhältnismäßig weiten - Grenzen der freien richterlichen Beweiswürdigung. Aus den Zeugenaussagen konnte das LSG die von ihm festgestellten Tatsachen entnehmen; die von der Beklagten geäußerten Bedenken sind zwar ernst zu nehmen, müssen aber gegenüber dem Grundsatz der freien Beweiswürdigung zurücktreten.
Aber auch die Rüge der Beklagten, das LSG habe gegen § 103 SGG ("Das Gericht erforscht den Sachverhalt von Amts wegen") verstoßen, greift nicht durch. Soweit sie den Umstand betrifft, daß das LSG die Tochter der Klägerin, H P, nicht vorgenommen hat, geht sie von vornherein fehl. Denn Frau P war vor dem SG zweimal vernommen und bei der zweiten Vernehmung auch vereidigt worden. Eine dritte Vernehmung wäre allenfalls bei Vorliegen besonderer Umstände geboten gewesen, die weder von der Beklagten behauptet noch sonst ersichtlich sind. Die Sachbearbeiter, die den Sozialhilfe- und den Rentenantrag aufgenommen haben, hätten im Sinn des von der Beklagten gestellten Beweisantrags nur aussagen können, daß die Klägerin die Erklärung, sie habe kein Geld von dem Versicherten erhalten, tatsächlich abgegeben hat. Das hat aber das LSG auch ohne diese Vernehmung festgestellt (zweiter Absatz seiner Entscheidungsgründe), so daß eine weitere Aufklärung in dieser Richtung vom Standpunkt der Beklagten aus nicht erforderlich war.
Gehen auch die erörterten Rügen der Beklagten fehl, kann dennoch das Urteil nicht bestehen bleiben. Es fehlen vielmehr Feststellungen des LSG darüber, daß die 100,-- DM monatlich, die der Versicherte zur Zeit seines Todes zu zahlen in der Lage gewesen sein soll, Unterhalt im Sinne des Sozialversicherungsrechts seien, also etwa 25 vH des notwendigen Mindestbedarfs der Klägerin ausmachen konnten (BSG, Urteil vom 25. Juni 1975 - 4 RJ 209/74 - BSGE 10, 79 = SozR 2200 § 1265 Nr 5 mwN, stRspr). Da einerseits der Regelsatz für den Haushaltungsvorstand im September 1975 in L etwa 250,-- DM monatlich betragen haben dürfte (das wird das LSG noch zu ermitteln haben), andererseits die Klägerin nach ihren Angaben im Zusatzfragebogen zum Rentenantrag einen Mietzins von 230,-- DM monatlich zu zahlen hatte, kommt es auf genaue Feststellungen hier an.
Diese Erwägungen gelten auch für einen etwaigen Anspruch der Klägerin nach § 1265 Satz 1 Fall 3 RVO; dieser könnte allerdings möglicherweise schon daran scheitern, daß die Zahlungen des Versicherten zweieinhalb Monate vor seinem Tod geendet haben, ohne daß "außergewöhnliche Umstände" (BSG, SozR Nr 55 zu § 1265 RVO) als Hinderungsgründe erkennbar wären.
Die erforderlichen Feststellungen kann der Senat nicht selbst treffen. Die Sache war deshalb an das Berufungsgericht zurückzuverweisen. Dieses wird auch über die Kosten entscheiden.
Fundstellen