Leitsatz (amtlich)
Eine nach dem Kriege durch einen früheren Feindstaat erfolgte Bestrafung eines Deutschen wegen im Kriege im deutsch besetzten Gebiet verübter Handlungen stellt sich nicht als feindliche Maßnahme iS von AVG § 28 Abs 1 Nr 3 (= RVO § 1251 Abs 1 Nr 3) dar, wenn sie ein nach allgemeingültigen Rechtsgrundsätzen von Anfang an unrechtmäßiges Verhalten sühnt (Weiterentwicklung von BSG 1981-12-16 11 RA 82/80 = BSGE 53, 37 = SozR 2200 § 1251 Nr 91).
Normenkette
AVG § 28 Abs 1 Nr 3 Fassung: 1965-06-09; RVO § 1251 Abs 1 Nr 3 Fassung: 1965-06-09
Verfahrensgang
LSG Rheinland-Pfalz (Entscheidung vom 25.02.1982; Aktenzeichen L 5 A 89/81) |
SG Speyer (Entscheidung vom 13.10.1981; Aktenzeichen S 8 A 142/81) |
Tatbestand
Streitig ist die Berücksichtigung einer Zeit der Untersuchungs- und Strafhaft als Ersatzzeit nach § 28 Abs 1 Nr 3 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG).
Der 1919 geborene Kläger befand sich 1944/45 hauptamtlich im Dienst der NSDAP in Lothringen. Wegen "Beihilfe zur illegalen Festnahme" von Familienmitgliedern kriegsdienstpflichtiger Lothringer, die sich der nach deutschen Wehrerfassungsgesetzen angeordneten Einberufung zur Wehrmacht entzogen hatten, wurde er nach dem Kriege von einem französischen Militärgericht zu vier Jahren Haft verurteilt, die er vom 3. August 1946 bis zum 3. August 1950 in Frankreich verbüßte. Bei der Berechnung des Altersruhegeldes ließ die Beklagte diese Zeit - mit Ausnahme des Monats August 1950, für den schon ein Pflichtbeitrag geleistet ist - unberücksichtigt; der Kläger begehrt die Anrechnung als Ersatzzeit mit der Begründung, er sei, ohne Kriegsteilnehmer zu sein, durch feindliche Maßnahmen an der Rückkehr aus dem Ausland verhindert gewesen.
Das Sozialgericht (SG) hat die Klage abgewiesen, das Landessozialgericht (LSG) hat ihr stattgegeben. Im Urteil vom 25. Februar 1982 hat es ausgeführt, die feindliche Maßnahme iS des § 28 Abs 1 Nr 3 AVG, bei der es sich um eine solche aufgrund der Kriegsereignisse handeln müsse, könne auch gegen einen einzelnen Deutschen gerichtet sein. Dieser müsse nicht schlechthin alle in seiner Person liegenden Gründe, sondern nur die ihm zuzurechnenden vertreten. Eine Verurteilung wegen einer Straftat habe er zu vertreten, wenn er mit der Tat gegen seinerzeit geltendes Recht des Feindstaates verstoßen habe; das setze die volle Souveränität des Staates voraus. Der Kläger habe indes nach dem damals in Lothringen geltenden deutschen Recht gehandelt und folglich nicht zugleich französisches Recht verletzen können. Seine nachträgliche Bestrafung in Frankreich wegen der Ausführung deutschen (Kriegs-)Rechts könne ihm daher nicht zugerechnet werden.
Mit der vom LSG zugelassenen Revision beantragt die Beklagte, das angefochtene Urteil aufzuheben und die Berufung des Klägers zurückzuweisen.
Ihrer Meinung nach hat das LSG den Begriff der feindlichen Maßnahme verkannt. Eine solche liege nicht vor, wenn für das Festhalten aus der Sicht des fremden Staates andere Beweggründe als die deutsche Staats- oder Volkszugehörigkeit vorrangig gewesen seien. Betrachte der Staat als Grund für die Inhaftierung dem Betreffenden selbst zuzurechnende Umstände - hier eine Straftat -, dann liege keine feindliche Maßnahme vor. Überdies habe Frankreich aus ähnlichen Anlässen auch eigene Staatsangehörige inhaftiert; das Vorgehen habe sich sonach nicht in erster Linie auf Deutsche beschränkt. Auf die Strafwürdigkeit der Tat nach deutschem Recht komme es bei der Anwendung von § 28 Abs 1 Nr 3 AVG nicht an.
Der Kläger beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Die Beteiligten sind mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden.
Entscheidungsgründe
Die Revision der Beklagten ist begründet; entgegen dem LSG kann die Zeit von August 1946 bis Juli 1950 nicht als Ersatzzeit auf das Altersruhegeld rentensteigernd angerechnet werden.
Von den Ersatzzeittatbeständen in § 28 Abs 1 AVG (= § 1251 Abs 1 RVO), der idF des Rentenversicherungs-Änderungsgesetzes (RVÄndG) vom 9. Juni 1965 (BGBl I 476) Anwendung findet, will der Kläger für sein Begehren den der Nr 3 in Anspruch nehmen. Hierin ist ihm das LSG gefolgt. Zutreffend hat es dabei festgestellt, daß die übrigen Tatbestände - schon vom Sachverhalt her - nicht in Erwägung zu ziehen sind.
Die in Rede stehende Nr 3 des § 28 Abs 1 AVG setzt in der vorliegend interessierenden Teilregelung das Vorhandensein von Zeiten voraus, in denen der Versicherte während oder nach Beendigung eines Krieges, ohne Kriegsteilnehmer zu sein, durch feindliche Maßnahmen an der Rückkehr aus dem Ausland verhindert gewesen oder dort festgehalten worden ist. Von diesen Tatbestandsmerkmalen ist allein streitig, ob die den Kläger an der Rückkehr nach Deutschland hindernden französischen Maßnahmen "feindliche" Maßnahmen im Sinne dieser Vorschrift waren. Das LSG hat das bejaht. Seiner Auffassung kann der erkennende Senat jedoch nicht folgen.
Was unter dem Begriff der "feindlichen Maßnahmen" zu verstehen ist, hat das Gesetz nicht erläutert. Der Senat hat indessen für Nachkriegsgeschehnisse im Urteil vom 16. Dezember 1981 (SozR 2200 § 1251 Nr 91) bereits dargelegt, daß darunter nicht sämtliche Maßnahmen eines ehemaligen Feindstaates fallen; vielmehr muß es sich um Maßnahmen handeln, die sich noch gegen den Kriegsgegner Deutschland richten. Hierunter fallen Maßnahmen, die allein oder hauptsächlich deutsche Bevölkerungsteile treffen oder gerade eine Ausreise nach Deutschland verhindern sollen; unter besonderen Umständen kann jedoch auch in einem für alle Bewohner des betreffenden Staates geltenden Ausreiseverbot eine feindliche Maßnahme gegen einzelne Deutsche liegen (s hierzu BSGE 43, 218, 220; 47, 113, 115). Die bisher anerkannten Unterfälle sind jedenfalls nicht als eine erschöpfende Aufzählung zu verstehen. Entscheidend ist stets, ob der Maßnahme eine Richtung gegen den früheren Kriegsgegner Deutschland innewohnt.
Das ist nicht schon dann zu bejahen, wenn die Maßnahme mit früheren Kriegsereignissen zusammenhängt und durch sie ausgelöst worden ist. Deshalb kann auch nicht in jeder Bestrafung eines Deutschen durch einen Feindstaat wegen im Kriege verübter Handlungen eine feindliche Maßnahme gesehen werden. Der Bestrafung könnte jedoch dann eine Richtung gegen den früheren Kriegsgegner Deutschland zukommen, wenn der frühere Feindstaat für während des Krieges von Deutschland besetzte oder annektierte Gebiete nachträglich sein eigenes Recht anwendet, obwohl dies vom deutschen Standpunkt aus damals dort nicht gegolten hat. Einen solchen Fall hat das LSG hier angenommen.
Dabei hat das LSG allerdings nicht näher begründet, inwiefern der Kläger gemäß dem damals in Lothringen geltenden deutschen Recht gehandelt habe. Das LSG selbst ordnet die Festnahme von Familienangehörigen der sich der Einberufung entziehenden Kriegsdienstpflichtigen der "sog. Sippenhaft" zu. Es führt jedoch nicht an, durch welche Rechtsgrundlage diese gerechtfertigt gewesen sein soll; mangels einer bekannten damals geltenden Norm können der Sippenhaft allenfalls auf die herrschenden Verhältnisse zugeschnittene "Erlasse" oder "Befehle" zugrunde gelegen haben, die nicht ohne weiteres als Rechtsnorm gelten konnten.
Selbst wenn es jedoch damals für die Sippenhaft eine "Rechtsnorm" gegeben haben sollte, dann widersprach sie eindeutig dem anerkannten Rechtsgrundsatz, daß niemand wegen der Tat eines anderen, auch nicht der Tat eines Familienangehörigen, bestraft oder seiner Freiheit beraubt werden darf, ohne daß seine Beteiligung an der Tat erwiesen ist. Dementsprechend wurden die im Kriege getroffenen Maßnahmen einer "Sippenhaft" auch in Deutschland nach dem Kriege als ein "offensichtliches Unrecht" angesehen (so im Rahmen von § 1 Abs 2 Buchst d Bundesversorgungsgesetz und von § 1 Abs 2 Nr 3 Bundesentschädigungsgesetz -BEG-, vgl dazu Blessin/Ehrig/Wilden, BEG, 3. Aufl, RdNr 50 zu § 1 BEG). Eine Bestrafung wegen der Beteiligung an der Durchführung von "Sippenhaft" hätte somit nach dem Kriege gleichfalls in Deutschland erfolgen können.
Hiernach kann aber in den streitigen französischen Maßnahmen keine Zielrichtung gegen den früheren Kriegsgegner Deutschland gefunden werden. Abgesehen davon, daß deswegen nicht nur deutsche, sondern auch französische Staatsangehörige zur Rechenschaft gezogen wurden, erklären sich die Maßnahmen ausreichend als Sühne eines Verhaltens, das nach allgemeingültigen Rechtsgrundsätzen von Anfang an niemals rechtmäßig sein konnte.
Auf die Revision war daher das klageabweisende Urteil des Sozialgerichts zu bestätigen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 des Sozialgerichtsgesetzes.
Fundstellen