Orientierungssatz

Zur Frage, ob die Verhaftung und Verschleppung eines Volksdeutschen polnischer Staatsangehörigkeit in Polen durch die sowjetische Besatzungsmacht im Jahre 1940 eine Internierung iSd § 1 Abs 2 Buchst c BVG darstellt (vgl BSG 1959-02-04 10 RV 918/51 = VersorgB 1959, 71).

 

Normenkette

BVG § 1 Abs. 2 Buchst. c

 

Verfahrensgang

LSG Niedersachsen (Entscheidung vom 26.09.1957)

SG Lüneburg (Entscheidung vom 13.08.1956)

 

Tenor

Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des Landessozialgerichts Celle vom 26. September 1957 aufgehoben und die Sache zur erneuten Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen.

Die Kostenentscheidung bleibt dem Schlußurteil vorbehalten.

Von Rechts wegen.

 

Gründe

Der Ehemann der Klägerin, ein Volksdeutscher polnischer Staatsangehörigkeit, wurde am 16. August 1940 in seinem Wohnort S in Galizien - in dem von den Russen besetzten Teil Polens - bei einer Aktion gegen die einheimische Bevölkerung aus politischen Gründen verhaftet. Die Klägerin gab hierzu an, sie habe kurz nach der Verhaftung von einem Angehörigen des russischen Staatssicherheitsdienstes erfahren, ihr Mann sei als Konterrevolutionär verhaftet worden. Als er im Gefängnis in Stanislau in Haft gewesen sei, habe sie ihm noch bis Anfang April 1941 in Abständen von vier Wochen ein Päckchen mit Lebensmitteln bringen dürfen; sie habe dafür Empfangsbescheinigungen bekommen. Dann sei er - angeblich nach Sibirien - verschleppt worden; seitdem sei sie ohne Nachricht von ihm. Auf Antrag der Klägerin erklärte das Amtsgericht Celle ihren Ehemann für tot und stellte als Zeitpunkt des Todes den 31. Dezember 1945 fest.

Das Versorgungsamt II H lehnte durch Bescheid vom 4. Oktober 1954 den Antrag der Klägerin auf Hinterbliebenenrente ab, weil die Verhaftung des Ehemannes der Klägerin keine Internierung im Sinne des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) gewesen sei. Auch der Widerspruch der Klägerin blieb ohne Erfolg. Auf die nunmehr erhobene Klage hat das Sozialgericht (SG.) Lüneburg den Beklagten durch Urteil vom 13. August 1956 verurteilt, der Klägerin vom 1. September 1953 an Hinterbliebenenrente zu zahlen. Der Ehemann der Klägerin sei zunächst in seiner Eigenschaft als Volksdeutscher von den nach Beginn des zweiten Weltkrieges eingedrungenen Russen festgenommen, ins Gefängnis gesperrt und Anfang April 1941 mit unbekanntem Ziel abtransportiert worden; daß er polnischer Staatsangehöriger gewesen sei, stehe dem nicht entgegen. Auch habe er den Kriegsausbruch noch erlebt.

Auf die Berufung des Beklagten hat das Landessozialgericht (LSG.) am 26. September 1957 das Urteil des SG. aufgehoben und die Klage abgewiesen. Die von der russischen Besatzungsmacht durchgeführte Verhaftungswelle habe sich auf Hunderte von jungen polnischen Staatsangehörigen erstreckt - ohne Unterschied, ob sie polnischen oder deutschen Volkstums oder Juden gewesen seien. Damit sei allenfalls die polnische Staatsangehörigkeit, nicht aber in erster Linie die deutsche Volkszugehörigkeit des Ehemannes der Klägerin als Grund der Internierung nachgewiesen. Es fehle daher an der Hauptvoraussetzung für die Entstehung eines Versorgungsanspruchs nach § 1 Abs. 2 Buchst. c BVG, daß er wegen deutscher Volkszugehörigkeit interniert worden sei. Bei dieser Sachlage könne es auf die Prüfung der weiteren Voraussetzungen dieser Vorschrift, nämlich auf den Zusammenhang der Internierung mit dem zweiten Weltkrieg, nicht mehr ankommen. Aber auch auf § 5 Abs. 1 Buchst. d BVG könne der Versorgungsanspruch der Klägerin nicht gestützt werden, weil unter diese Vorschrift nur Schädigungen fielen, die durch Maßnahmen der feindlichen Besatzungsmacht während der Besetzung deutschen oder ehemals deutsch besetzten Gebietes verursacht worden seien; Stanislau sei aber weder deutsches noch ehemals deutsch besetztes Gebiet gewesen. Das LSG. hat die Revision zugelassen.

Gegen dieses am 29. Oktober 1957 zugestellte Urteil hat die Klägerin mit Schriftsatz vom 11. November 1957, eingegangen beim Bundessozialgericht (BSG.) am 16. November 1957, Revision eingelegt und beantragt,

das Urteil des LSG. Celle vom 26. September 1957 aufzuheben, die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des SG. Lüneburg vom 13. August 1956 zurückzuweisen und den Beklagten zu verurteilen, ihr die außergerichtlichen Kosten des Rechtsstreits zu erstatten,

hilfsweise,

das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an die Vorinstanz zurückzuverweisen.

Die Klägerin rügt, das Berufungsgericht habe § 1 Abs. 2 Buchst. c BVG verletzt. Es habe den Begriff der Internierung zu eng ausgelegt; jedenfalls sei der Zeitpunkt der Internierung für die versorgungsrechtliche Beurteilung ohne Bedeutung, da zwischen Internierung und Kriegsgeschehen in östlichen Ländern kein enger zeitlicher Zusammenhang gefordert werden könne. Die Gründe für die Feststellung des Berufungsgerichts, die Russen hätten den Ehemann der Klägerin wegen seiner polnischen Staatsangehörigkeit, nicht aber in erster Linie wegen seiner deutschen Volkszugehörigkeit verhaftet, seien nicht überzeugend; denn sie ließen eine Auseinandersetzung mit den damaligen tatsächlichen politischen Verhältnissen, die bis zum Kriegsbeginn und während der kriegerischen Ereignisse zwischen Deutschland und der UdSSR bestanden hätten, vermissen. Hätte das LSG. die Forschungen des Osteuropa-Instituts in München über die Verhältnisse in den östlichen Ländern und über das Schicksal der von der GPU verhafteten und verschleppten volksdeutschen Männer zur Grundlage seiner Beurteilung gemacht, dann hätte es zu dem Schluß kommen müssen, daß die Verhaftungsaktion vorgenommen worden sei, um Rußland gegen den erwarteten deutschen Angriff zu schützen. Schon vor Ausbruch des Krieges zwischen der Sowjetunion und Deutschland habe die Vernichtung der Deutschen begonnen. Das ergebe sich auch aus dem Verhalten der Sowjetunion gegenüber der Wolgadeutschen Sozialistischen Sowjetrepublik, die heute weder rechtlich noch tatsächlich bestehe. Seit Ausbruch des Krieges hätten sich die Lebensverhältnisse der Volksdeutschen so sehr verschlechtert, daß Gesundheit und Leben der vor Kriegsausbruch Internierten in äußerste Gefahr geraten sei. Wenn schon die UdSSR einen Grund zum Einschreiten gegen ukrainische Volksdeutsche gesehen habe, müsse mit Sicherheit angenommen werden, daß sie ein noch größeres Interesse an der Besitzsicherung der okkupierten polnischen Ostgebiete gehabt habe und daß sie einen noch größeren Widerstand als von Polen von der volksdeutschen Minderheit in Galizien erwartet habe. Die Feststellung des LSG., der Ehemann der Klägerin sei wegen seiner polnischen Staatsangehörigkeit verhaftet worden, nicht aber wegen seiner deutschen Volkszugehörigkeit, sei daher nicht begründet.

Der Beklagte beantragt, die Revision als unbegründet zurückzuweisen. Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

Die durch Zulassung statthafte Revision (§ 162 Abs. 1 Nr. 1 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -) ist form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden (§ 164 SGG); sie ist daher zulässig. Die Revision ist auch begründet.

Rechtsgrundlage des von der Klägerin geltend gemachten Anspruchs ist § 38 Abs. 1 BVG in Verbindung mit § 1 Abs. 2 Buchstabe c BVG. Danach steht der Klägerin Hinterbliebenenversorgung zu, wenn ihr Ehemann an den Folgen einer Internierung im Ausland oder in den nicht unter deutscher Verwaltung stehenden deutschen Gebieten wegen deutscher Staatsangehörigkeit oder deutscher Volkszugehörigkeit gestorben oder im Sinne des § 52 BVG verschollen ist. Das Berufungsgericht ist zunächst zutreffend davon ausgegangen, daß unter anderem Voraussetzung für die Entstehung eines Versorgungsanspruchs nach § 1 Abs. 2 Buchst. c BVG eine Internierung wegen deutscher Volkszugehörigkeit ist. Dem LSG. ist auch darin beizupflichten, daß es sich um eine Internierung im Sinne des BVG nur dann handelt, wenn das Festhalten im Zusammenhang mit einem der beiden Weltkriege gestanden hat (vgl. hierzu das Urteil des erkennenden Senats vom 4.2.1959 - 10 RV 918/57 -; veröffentlicht in "Der Versorgungsbeamte" 1959 S. 71). Die Klägerin rügt jedoch mit Recht, daß das LSG. die Vorschrift des § 1 Abs. 2 Buchst. c BVG verletzt habe; denn es hat den Begriff der Internierung verkannt. In dem angeführten Urteil hat der erkennende Senat entschieden, daß ein Festhalten, das zunächst keine Internierung war, eine Internierung werden kann, wenn der Krieg allein oder vorwiegend Ursache des weiteren Festhaltens war. Regelmäßig ist allerdings zu fordern, daß die Änderung des Grundes für das weitere Festhalten aus irgendwelchen Umständen hervorgeht.

Das LSG. hat in dem angefochtenen Urteil festgestellt, allenfalls sei die polnische Staatsangehörigkeit, nicht aber in erster Linie die deutsche Volkszugehörigkeit als Grund der Internierung anzusehen. Damit fehle es an der Hauptvoraussetzung - "Internierung wegen deutscher Volkszugehörigkeit" - für die Entstehung eines Versorgungsanspruchs nach § 1 Abs. 2 Buchst. c BVG. Die Frage, ob das BSG. nach § 163 SGG an diese Feststellung gebunden ist oder ob dies deswegen nicht der Fall ist, weil die Klägerin in bezug auf diese Feststellung zulässige und begründete Revisionsgründe vorgebracht hat (Verletzung der §§ 103, 128 SGG bei der Erforschung und Würdigung der Verhaftungsgründe) braucht der Senat nicht zu entscheiden. Denn die Feststellung des LSG., der Ehemann der Klägerin sei allein wegen seiner polnischen Staatsangehörigkeit verhaftet worden, weil sich die Verhaftungswelle der russischen Besatzungsmacht gegen polnische Staatsangehörige ohne Rücksicht auf das Volkstum gerichtet habe, reicht nicht aus, um ohne weiteres den von der Klägerin geltend gemachten Versorgungsanspruch abzulehnen. Wie der erkennende Senat schon in dem oben angeführten Urteil ausgeführt hat, kann ein Festhalten, das zunächst noch keine Internierung war, dann eine Internierung i.S. des BVG werden, wenn sich seit Ausbruch des Krieges zwischen Deutschland und der UdSSR die Lebensverhältnisse des Ehemannes der Klägerin infolge seiner deutschen Volkszugehörigkeit verändert und so verschlechtert haben, daß sein Leben und seine Gesundheit in besondere Gefahr geraten ist. Die Klägerin rügt daher mit Recht, daß das LSG. nicht geprüft hat, ob der Versorgungsanspruch deswegen begründet sein könnte, weil § 1 Abs. 2 Buchst. c BVG auf das Geschehen nach Kriegsausbruch anzuwenden ist. Das angefochtene Urteil beruht auf dieser Verkennung des Begriffs der Internierung; denn das LSG. hat die Prüfung unterlassen, ob sich die Haft des Ehemannes der Klägerin nach Kriegsausbruch in eine Internierung im Sinne des BVG umgewandelt hat. Das angefochtene Urteil mußte daher mit den ihm zugrunde liegenden Feststellungen aufgehoben werden. Da das BSG. als Revisionsgericht keine eigenen Feststellungen dazu treffen kann, ob sich die Haft des Ehemannes der Klägerin seit Kriegsausbruch in eine Internierung im Sinne des BVG umgewandelt hat, war der Rechtsstreit zur erneuten Entscheidung an das LSG. zurückzuverweisen (§ 170 Abs. 2 Satz 2 SGG).

Das LSG., gegen dessen Feststellung, der Ehemann der Klägerin sei allenfalls wegen seiner polnischen Staatsangehörigkeit, nicht aber wegen seiner deutschen Volkszugehörigkeit verhaftet worden, erhebliche Bedenken bestehen, wird nunmehr ermitteln und prüfen müssen, ob dieser nicht doch in erster Linie deswegen verhaftet worden ist, weil er gerade als Volksdeutscher den Besitzstand Rußlands in Galizien im Hinblick auf den drohenden Krieg mit Deutschland nach sowjetischer Auffassung besonders gefährdete, und ob nicht zumindest seit Kriegsausbruch seine Lebensverhältnisse sich wegen seiner deutschen Volkszugehörigkeit so verschlechterten, daß eine besondere Gefahr für Gesundheit und Leben entstand. In dieser Hinsicht wird das LSG. noch aufzuklären haben, welches Schicksal und welche Behandlung der Gruppe der Volksdeutschen in Rußland in ihrer Gesamtheit widerfahren ist und inwieweit daraus Schlüsse auf das Schicksal des Ehemannes der Klägerin gezogen werden können. Hierbei wird sich das LSG. auch mit dem von der Revision angeführten Gutachten des Osteuropa-Instituts auseinandersetzen müssen; es wird auch versuchen müssen, andere geeignete Unterlagen, z.B. Veröffentlichungen auf dem in Betracht kommenden Gebiete, beizuziehen. Nach Durchführung einer solchen Sachaufklärung wird das Berufungsgericht schließlich prüfen müssen, ob auf Grund des allgemeinen Schicksals der von den Russen verhafteten Volksdeutschen angenommen werden kann, daß auch das Ableben des Ehemannes der Klägerin mit hoher Wahrscheinlichkeit (§ 52 BVG) auf Verhältnisse zurückzuführen ist, die zumindest seit Kriegsausbruch als Internierung im Sinne des § 1 Abs. 2 Buchst. c BVG angesehen werden können.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI2325785

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