Entscheidungsstichwort (Thema)
richterlichen freien Beweiswürdigung
Orientierungssatz
Zur richterlichen freien Beweiswürdigung:
1. Erwähnen medizinische Sachverständige die Arbeit unter Tage während einer polnischen Kriegsgefangenschaftszeit und führen sie teilweise die Leiden eines Beschädigten auf diese Bergmannsarbeit zurück, so muß sich das Gericht mit dieser Tätigkeit auseinandersetzen.
2. Zwar kann das Gericht die Auffassung vertreten, daß die schwere Arbeit im Bergbau die Wirbelsäulenveränderungen nicht wesentlich verschlimmert habe, es muß sich dann aber mit diesen Einflüssen näher auseinandersetzen und dartun, weshalb diesen keine ursächliche Bedeutung zukommt. Da das Gericht den Einsatz im Bergbau unter Tage im Urteil gar nicht vermerkt hat, ist nicht ersichtlich, daß es bei seiner Entscheidung das Gesamtergebnis des Verfahrens berücksichtigt hat. Das LSG hat dadurch § 128 SGG verletzt.
Normenkette
SGG § 128
Verfahrensgang
LSG Nordrhein-Westfalen (Entscheidung vom 02.08.1961) |
Tenor
Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 2. August 1961 aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen.
Gründe
Der Kläger, der bis Ende April 1952 wegen leichter Rippenfellschwarte rechts und Herzmuskelschadens nach Dystrophie Rente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 30 v.H. bezogen hatte, beantragte 1953 Wiedergewährung der Rente, da sich die anerkannten Gesundheitsstörungen verschlimmert hätten. Das Versorgungsamt erkannte mit Bescheid vom 13. Mai 1954 nur noch Rippenfellschwarte rechts als Schädigungsfolge an, Rente blieb auch weiterhin versagt. Der Widerspruch war erfolglos. Das Sozialgericht (SG) hörte Prof. Dr. S und Dozent Dr. R (letzterer stützte sich auf ein Zusatzgutachten des Dr. H), die beide die durch Schädigungsfolgen bedingte MdE auf 30 v.H. schätzten. Mit Urteil vom 28. Juni 1957 verurteilte das SG den Beklagten, zusätzlich Lungenblähung und chron. Bronchitis als Schädigungsfolgen im Sinne der Verschlimmerung anzuerkennen und dem Kläger ab 1. August 1963 Rente nach einer MdE um 30 v.H. zu gewähren. Auf die Berufung des Beklagten holte das Landessozialgericht (LSG) Gutachten der Medizinischen Universitätsklinik Münster (Dr. T und Dr. L) und der Medizinischen Universitätsklinik Köln (Dr. J, Dr. Sch und Dr. V) ein. Der Kläger legte eine Stellungnahme des Dr. T vor. Mit Urteil vom 2. August 1961 wies das LSG unter Abänderung des SG-Urteils die Klage ab. Prof. Dr. S habe angenommen, daß die Wirbelsäulenverkrümmung und damit auch die Lungenblähung mit chronischer Bronchitis durch die Verhältnisse der Gefangenschaft richtunggebend verschlimmert worden seien. Es sei aber nicht zu erkennen, aus welchem Grund er der Gefangenschaft einen verschlimmernden Einfluß zuspreche; er stelle dies als eine These hin, ohne sie im einzelnen zu belegen. Die Frage der Verschlimmerung der Wirbelsäulendeformierung falle ins orthopädische Fachgebiet. Dr. R von der Orthopädischen Universitätsklinik habe insoweit eine anlagebedingte Entwicklung angenommen; soweit er die Lungenblähung mit Bronchitis auf die mit Schwarten abgeheilte Rippenfellentzündung zurückführe, könne ihm nicht gefolgt werden, da er insoweit in Widerspruch zu Prof. Dr. S, Dr. T und Dr. V stehe.
Mit der nicht zugelassenen Revision rügt der Kläger wesentliche Verfahrensmängel (§§ 103, 106, 128 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -) und eine Gesetzesverletzung im Sinne des § 162 Abs. 1 Nr. 3 SGG. Das LSG habe im Tatbestand seines Urteils nur den polnischen Gewahrsam des Klägers erwähnt, nicht aber den besonderen Umstand, daß er lange Zeit unter Tage Bergwerksarbeit - meist vor Stein als Schlepper - verrichtet habe. Hätte es diese körperliche Schwerstarbeit berücksichtigt, so wäre es nicht zu der unverständlichen Feststellung gelangt, Prof. Dr. S habe nicht angegeben, aus welchem Grunde er der Gefangenschaft einen verschlimmernden Einfluß auf die Wirbelsäulendeformierung zuspreche. Mit seiner Annahme, Prof. Dr. S habe dies mehr oder minder nur als These hingestellt, habe das LSG § 128 SGG verletzt, da sich der Gutachter ausdrücklich auf die gefangenschaftseigentümlichen Verhältnisse bezogen habe. Das LSG hätte sich sonst damit auseinandergesetzt, ob neben der Anlagebedingtheit nicht eine Verschlimmerung anzunehmen sei. Das LSG hätte ferner die Krankengeschichte über die siebenmonatige Behandlung des Klägers wegen doppelseitiger Pleuritis beiziehen müssen. Prof. Dr. S spreche von den Folgen einer rechtsseitigen Pleuritis, während die anderen Gutachter eine doppelseitige Rippenfellentzündung annähmen. Zu Unrecht habe das LSG nur eine rechtsseitige Schwartenbildung angenommen. Außer Prof. Dr. S habe keiner der Gutachter die Bergwerksarbeit des Klägers gewürdigt. Dr. T habe auf die Untertagearbeit als Ursache des chronischen Reizzustandes hingewiesen. Das LSG hätte neue Gutachten einholen müssen, wenn es Prof. Dr. S oder Dr. R / Dr. H nicht folgen wollte. Angesichts der widerspruchsvollen gutachtlichen Äußerungen hätte das LSG die Gutachten gegeneinander abwägen müssen. Dr. R habe sich zur Frage der Verschlimmerung des Wirbelsäulenleidens nicht geäußert. Das LSG habe sich daher insoweit nicht auf ihn stützen dürfen. Zu Unrecht habe es auch von einer "geringfügigen" Pleuraschwarte rechts gesprochen. Weder Dr. T noch Dr. V hätten eine solche Feststellung getroffen. Das LSG hätte die Kurakten der Lungenheilstätte, in der sich der Kläger 1950 befunden habe, beiziehen müssen, um zu ermitteln, ob seine Annahme zutraf, es sei bis 1953 weder eine Bronchitis noch eine Lungenveränderung festgestellt worden. Das LSG habe es ferner unterlassen, über den gesamten Streitstoff zu entscheiden und damit § 157 SGG verletzt. Alle Behauptungen des Klägers hätten nur dazu gedient, eine Beschädigtenrente zu erlangen. Das LSG hätte daher nicht nur über das Lungenleiden des Klägers entscheiden dürfen, sondern ihn zur Anschlußberufung veranlassen müssen, damit auch die Herz- und Lebererkrankung aufgeklärt würde. Das LSG habe ferner nicht geprüft, ob das anlagebedingte Leiden früher bereits als krankhaftes Geschehen bestanden hatte. Die anerkannte Pleuritis sei eine wesentlich mitwirkende Ursache für die Verschlimmerung des Anlageleidens. Das LSG habe dies verkannt und damit die in der Kriegsopferversorgung geltende Kausalitätsnorm verletzt. Der Kläger beantragt, unter Aufhebung des LSG-Urteils die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des SG zurückzuweisen. Der Beklagte beantragt, die Revision als unzulässig zu verwerfen, da wesentliche Verfahrensmängel oder eine Gesetzesverletzung i.S. des § 162 Abs. 1 Nr. 3 SGG nicht vorlägen. Im übrigen habe der Kläger in den Vorinstanzen nicht beantragt, die Wirbelsäulendeformierung im Sinne der Verschlimmerung als Schädigungsfolge anzuerkennen.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung (§ 124 Abs. 2 SGG) einverstanden erklärt.
Die Revision ist form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden. Sie ist auch statthaft, da der Kläger einen wesentlichen Verfahrensmangel gerügt hat, der vorliegt (§§ 164, 166, 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG).
Zutreffend rügt der Kläger, das LSG habe die während des polnischen Gewahrsams des Klägers bestehenden besonderen Verhältnisse, nämlich die unter Tage verrichtete Bergwerksarbeit, nicht genügend berücksichtigt und die darauf beruhende Annahme einer Verschlimmerung durch den Gutachter Prof. Dr. S nicht mit der Bemerkung beiseite schieben dürfen, der Gutachter gebe nicht an, aus welchem Grunde er der Gefangenschaft einen verschlimmernden Einfluß auf die Wirbelsäulendeformierung zuspreche, er habe dies mehr oder minder nur als These hingestellt. Damit ist § 128 SGG verletzt, weil das LSG seine Überzeugung nicht aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnen hat.
Schon im Versorgungsantrag vom 9. August 1949 hatte der Kläger angegeben, seine Körperschäden seien durch Arbeit im polnischen Bergwerk entstanden. Der Zeuge M hatte 1951 bekundet, beim Kläger sei unter Tage Atemnot aufgetreten. Im Gutachten des Stadtkrankenhauses Soest vom 12. April 1952 ist festgehalten, daß der Kläger "unter Tage" habe arbeiten müssen. Ebenso hat Prof. Dr. S in der Vorgeschichte seines Gutachtens erwähnt, daß der Kläger in Gefangenschaft lange Zeit im Bergbau unter Tage beschäftigt war. Er ist zum Ergebnis gelangt, daß der Wirbelsäulenprozeß durch die schwere Arbeit in Kriegsgefangenschaft bei offenbar erheblichem Hungerödem besonders nachteilig beeinflußt und in seiner Weiterentwicklung mit hoher Wahrscheinlichkeit beschleunigt worden sei. Man müsse daher den gefangenschaftseigentümlichen Verhältnissen für den Wirbelsäulenprozeß Wert im Sinne einer richtunggebenden Verschlimmerung beimessen. Auch im Gutachten des Dr. R heißt es, der Kläger sei in der Gefangenschaft zu Arbeiten im Bergwerk über und unter Tage herangezogen worden. Nachdem auch das Gutachten der Medizinischen Universitätsklinik und Poliklinik Münster festgehalten hatte, daß der Kläger vorwiegend unter Tage im Bergbau schwere körperliche Arbeit habe leisten müssen, konnte das LSG bei verfahrensrechtlich einwandfreier Würdigung des Akteninhalts nicht im Zweifel darüber sein, aus welchem Grunde Prof. Dr. S der Gefangenschaft einen verschlimmernden Einfluß auf die Wirbelsäulendeformierung zugesprochen hatte. Entgegen seinen Ausführungen im Urteil konnte das LSG dies auch aus den Darlegungen des Prof. Dr. S selbst entnehmen; denn dieser hat in seinem Gutachten nicht nur die Beschäftigung im Bergbau unter Tage während langer Zeit erwähnt, sondern an anderer Stelle ausdrücklich die schwere Arbeit in der Kriegsgefangenschaft und das erhebliche Hungerödem als Ursachen für die nachteilige Beeinflussung des Wirbelsäulenprozesses bezeichnet. Zwar konnte das LSG die Auffassung vertreten, daß die schwere Arbeit im Bergbau die Wirbelsäulenveränderungen nicht wesentlich verschlimmert habe, es hätte sich dann aber mit diesen Einflüssen näher auseinandersetzen und dartun müssen, weshalb diesen keine ursächliche Bedeutung zukommt; statt dessen hat es die Bergwerksarbeit des Klägers überhaupt nicht erwähnt. Es genügte nicht, wenn das LSG lediglich bemerkte, Prof. Dr. S stelle den verschlimmernden Einfluß "mehr oder minder nur als eine These hin, ohne sie im einzelnen zu belegen". Da das LSG den Einsatz im Bergbau unter Tage im Urteil gar nicht vermerkt hat, ist nicht ersichtlich, daß es bei seiner Entscheidung das Gesamtergebnis des Verfahrens berücksichtigt hat. Das LSG hat dadurch und durch die unzutreffende Würdigung des Gutachtens des Prof. Dr. S § 128 SGG verletzt.
Dieser von der Revision gerügte Verfahrensmangel macht die Revision bereits statthaft, so daß nicht mehr zu prüfen war, ob auch die anderen Revisionsrügen durchgreifen. Das Urteil beruht auch auf diesem Mangel. Denn die Frage, ob die Wirbelsäulenveränderungen durch schädigende Einwirkungen i.S. des § 1 des Bundesversorgungsgesetzes verschlimmert worden sind, war für die Entscheidung wesentlich. Zwar hatte der Kläger die Anerkennung von Wirbelsäulenbeschwerden nicht beantragt und das LSG war davon ausgegangen, daß es nur über das Lungenleiden zu entscheiden habe. Prof. Dr. S hat sich jedoch nicht lediglich mit isolierten Wirbelsäulenveränderungen befaßt, sondern ist zum Ergebnis gelangt, daß durch deren richtunggebende Verschlimmerung die schnellere Entstehung eines Lungenblähzustandes mit chronischer Bronchitis herbeigeführt worden sei. Auch das Gutachten des Medizinischen Universitätsklinik Köln hat einen engen Zusammenhang der Lungenblähung und chronischen Bronchitis mit der Wirbelsäulenverkrümmung angenommen, allerdings eine Schädigungsfolge verneint. Sonach ist die Möglichkeit nicht auszuschließen, daß das LSG bei zutreffender Würdigung des Gesamtergebnisses des Verfahrens zu einer für den Kläger günstigeren Entscheidung gelangt wäre. Daher war das angefochtene Urteil aufzuheben.
Die Entscheidung erweist sich auch nicht aus einem anderen Grunde als richtig (§ 170 Abs. 1 Satz 2 SGG). Das LSG hat zwar ausgeführt, das Gutachten des Orthopäden Dr. R verdiene hinsichtlich der Beurteilung der Wirbelsäulendeformierung besondere Beachtung, da diese Frage in das orthopädische Fachgebiet falle. Dieser habe festgestellt, daß die Veränderungen im wesentlichen bereits vor dem Wehrdienst bestanden haben. Damit konnte das LSG das Gutachten des Prof. Dr. S jedoch nicht als widerlegt ansehen, denn auch dieser war davon ausgegangen, daß der stark deformierte Rundrücken seit früher Jugend bestehe und als rachitisch zu deuten sei. Dr. R hat nicht dargetan, weshalb die anlagebedingten Wirbelsäulenveränderungen durch schädigende Einwirkungen nicht verschlimmert worden sind, obwohl sie, wie er annimmt, nur "im wesentlichen" bereits vor dem Wehrdienst bestanden haben sollen; es ist insbesondere nicht ersichtlich, ob er insoweit die Auswirkungen schwerer körperlicher Bergwerksarbeit unter Tage in Betracht gezogen hat. Dasselbe gilt für die vom LSG eingeholten beiden Gutachten. Das eine dieser Gutachten hat sich nur ganz kurz auf das Gutachten von Dr. R bezogen, das andere hat zur Frage der Entstehung der Wirbelsäulenveränderungen überhaupt keine Stellung genommen. Die Revision ist daher begründet.
Der Senat konnte in der Sache nicht selbst entscheiden, da noch weitere Sachaufklärung darüber erforderlich ist, ob die anlagebedingten Wirbelsäulenveränderungen durch schädigende Einwirkungen, insbesondere durch schwere Arbeit im Bergwerk unter Tage, wesentlich verschlimmert worden sind. Daher war die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen (§ 170 Abs. 2 Satz 2 SGG).
Sofern der Kläger die Feststellung einer Herz- und einer Lebererkrankung als zusätzliche Schädigungsfolgen begehrt - ein Herzmuskelschaden war früher schon anerkannt - hat er nun die Möglichkeit, im erneuten Verfahren vor dem LSG die Anerkennung dieser Leiden und evtl. auch der Wirbelsäulenveränderungen im Wege der Anschlußberufung (BSG 2, 229 ff) zu beantragen. (Vgl. im übrigen zur Frage der Einheitlichkeit des Rentenanspruchs: BSG 8, 125 und zum Begriff des Streitgegenstandes bzw. des erhobenen Anspruchs: BSG 9, 17).
Die Kostenentscheidung bleibt der das Verfahren abschließenden Entscheidung vorbehalten.
Fundstellen