Entscheidungsstichwort (Thema)
Rechtsmittelverzicht bei Streitgenossenschaft
Leitsatz (amtlich)
Ein Streitgenosse, welcher nach Rücknahme seines Rechtsbehelfs wegen der Notwendigkeit einer einheitlichen sachlichen Entscheidung zum Rechtsstreit des anderen Streitgenossen zugezogen worden ist, kann diesen Prozeß nicht durch Einlegung eines Rechtsmittels weiter betreiben.
Leitsatz (redaktionell)
Beendet ein Streitgenosse den von ihm betriebenen Rechtsstreit durch Rechtsmittelverzicht, so bleibt es dem anderen Streitgenossen unbenommen, seinen Rechtsstreit weiterzuführen; in dem weiteren Verfahren kann der ehemalige Streitgenosse als Beteiligter zugezogen werden, ohne jedoch Prozeßanträge stellen zu können.
Normenkette
SGG § 74 Fassung: 1953-09-03; ZPO § 62 Abs. 1; RVO § 1511 Fassung: 1925-07-14
Tenor
Die Revision gegen das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 8. Mai 1968 wird als unzulässig verworfen.
Außergerichtliche Kosten des Revisionsverfahrens sind nicht zu erstatten.
Gründe
I
Der nunmehr am Rechtsstreit als Streitgenosse beteiligte Maschinenschlosser A K (K.) erlitt am 24. September 1964 auf einem nach Beendigung seiner Arbeit zurückgelegten Weg einen Unfall. Die Beklagte versagte durch Bescheid vom 28. Juli 1965 die begehrte Unfallentschädigung, weil der innere Zusammenhang dieses Wegs mit der betrieblichen Tätigkeit zu verneinen sei.
Diesen Bescheid hat K. am 26. August 1965 und die Ortskrankenkasse K (AOK) am 27. August 1965 mit der Klage angefochten.
Das Sozialgericht (SG) Kiel hat über diese Klagen in getrennten Verfahren, zu denen es den Kläger des anderen Rechtsstreits nicht zugezogen hat, entschieden. Durch Urteil vom 9. März 1966 hat es die Klage des Verletzten, durch Urteil vom 14. September 1966 die Klage der AOK abgewiesen. K. hat seine Berufung gegen das allein ihm zugestellte Urteil vom 9. März 1966 am 21. Juni 1966 zurückgenommen.
Auf die Berufung der AOK hat das Schleswig-Holsteinische Landessozialgericht (LSG) durch Urteil vom 9. Juni 1967 beide erstinstanzliche Entscheidungen aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das SG mit folgender Begründung zurückverwiesen: Die Entscheidungen des ersten Rechtszugs seien unter Verletzung wesentlicher Verfahrensvorschriften ergangen. Verletzter und AOK seien, da diese den Rechtsstreit nach § 1511 der Reichsversicherungsordnung (RVO) betreibe, notwendige Streitgenossen. Gegenüber beiden Klägern hätte deshalb nur eine einheitliche Entscheidung ergehen, somit hätte ihnen gegenüber nicht getrennt entschieden werden dürfen.
Das LSG hat den Verletzten als Streitgenossen mit dem Hinweis zugezogen, daß ihm wegen seines Rechtsmittelverzichts die Rechte eines förmlichen Beigeladenen nicht mehr eingeräumt werden könnten.
Das SG Kiel hat durch Urteil vom 13. September 1967 die Klage wiederum aus den Gründen des angefochtenen Bescheids abgewiesen. Das LSG hat durch Urteil vom 8. Mai 1968 die Berufung der AOK mit im wesentlichen derselben Begründung zurückgewiesen. In beiden Rechtszügen war der Verletzte als Streitgenosse zugezogen.
Dieser hat die - vom LSG zugelassene - Revision eingelegt und zur Begründung ausgeführt: Das Berufungsgericht habe die prozessuale Frage, wie die Verfahrenslage für den Streitgenossen zu beurteilen sei, wohl zutreffend beantwortet. In der Sache könne ihm nicht gefolgt werden.
Die Beklagte bezweifelt, ob das LSG nach der Zurücknahme der Berufung des Verletzten das damit rechtskräftig gewordene SG-Urteil vom 9. März 1966 hätte aufheben dürfen und somit in der Revisionsinstanz überhaupt sachlich entschieden werden könne. In der Sache hält sie das angefochtene Urteil für zutreffend.
Der Revisionskläger beantragt,
das Urteil des LSG vom 8. Mai 1968, das Urteil des SG vom 13. September 1967 sowie den Bescheid der Beklagten aufzuheben und diese zu verurteilen, ihm Unfallentschädigung zu gewähren.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Die AOK hat sich zur Sache nicht geäußert und keine Sachanträge gestellt.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -).
II
Die vom Verletzten eingelegte Revision ist durch Zulassung statthaft (§ 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG). Sie ist jedoch nicht zulässig.
In der vorliegenden Sache haben gegen den seinen Entschädigungsanspruch ablehnenden Bescheid der Verletzte und die AOK Klage erhoben. Diese ist dazu nach § 1511 RVO befugt gewesen. Nach der ständigen Rechtsprechung des erkennenden Senats sind beide, wie das Berufungsgericht nicht verkannt hat, notwendige Streitgenossen, weil das streitige Rechtsverhältnis ihnen gegenüber nur einheitlich festgestellt werden kann (s. SozR Nr. 1 zu § 639 RVO und die dort zitierte Rechtsprechung). Es liegt insoweit eine notwendige Streitgenossenschaft aus prozeßrechtlichen Gründen (Rosenberg/Schwab, Zivilprozeßrecht, 10. Aufl., S. 226 ff.) im Sinne der 1. Alternative des § 62 Abs. 1 der Zivilprozeßordnung (ZPO) vor, welcher nach § 74 SGG im Verfahren der Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit entsprechend gilt (im Schrifttum wird sie auch als zufällig notwendige Streitgenossenschaft bezeichnet - S. Schwab in Festschrift für Lent, S. 272). Bei einer notwendigen Streitgenossenschaft handelt es sich - nicht anders als bei der einfachen Streitgenossenschaft (§ 59 ZPO) - um eine Mehrheit von Prozessen und Prozeßrechtsverhältnissen, führt also jeder Streitgenosse allein seinen Rechtsstreit, selbständig und unabhängig von den anderen (Rosenberg/Schwab, aaO, S. 231). Daraus wird in Rechtsprechung und Schrifttum - ungeachtet der im übrigen weit auseinandergehenden Meinungen - gefolgert, daß bei zufällig notwendiger Streitgenossenschaft jeder Streitgenosse seinen Rechtsbehelf zurücknehmen kann, ohne daß dadurch die Rechtsbehelfe der anderen Streitgenossen berührt werden; diese werden vielmehr so erledigt, wie wenn sie von Anfang an allein eingelegt worden wären (RGZ 157, 33, 38; SozR Nr. 1 zu § 639 RVO; Rosenberg/Schwab, aaO, S. 231; Stein/Jonas/Pohle, Kommentar zur ZPO, 19. Aufl., Anm. V, 5 zu § 62; Baumbach/Lauterbach, Kommentar zur ZPO, Anm. 4 A d zu § 62; Wieczorek, Kommentar zur ZPO, Anm. B IV c 3 zu § 62; Säcker, JZ 1967, 51, 52). Trotz der Notwendigkeit einheitlicher Entscheidung kann also jedes der einzelnen Prozeßrechtsverhältnisse auf verschiedene prozessuale Weise sein Ende finden (BGH, VersR 1961, 213; Rosenberg/Schwab, aaO, S. 234). § 62 ZPO will lediglich eine abweichende sachliche Entscheidung zum Nachteil des fleißigen Streitgenossen verhindern (Rosenberg/Schwab, aaO, S. 233 unten).
Der Verletzte war somit berechtigt, seine Berufung gegen das Urteil des SG vom 9. März 1966 zurückzunehmen. Der von ihm betriebene Rechtsstreit ist dadurch beendet worden und das Urteil des SG formell rechtskräftig geworden (RGZ 157, 33, 38 ff.). Die Rechtswirkung dieser Prozeßhandlung (vgl. SozR Nr. 4 zu § 156 SGG) konnte durch das Urteil des LSG vom 9. Juni 1967 nicht beseitigt werden (s. auch Rosenberg/Schwab, aaO, § 131 III 1, S. 659; RGZ 152, 324).
Obschon der Verletzte durch den Verlust seines Rechtsmittels als Rechtsmittelkläger ausgeschieden ist, ist er wegen der Notwendigkeit einer einheitlichen sachlichen Entscheidung mit Recht von den Vorinstanzen zu dem nunmehr allein von der AOK weitergeführten Rechtsstreit zugezogen worden (§ 62 Abs. 2 ZPO) und somit Beteiligter dieses Rechtsstreits geworden (RGZ 157, 33, 38 ff; SozR Nr. 1 zu § 639 RVO mit weiteren Nachweisen). Auf diese Weise ist im Verfahren des zweiten Rechtszugs eine für und gegen beide Streitgenossen einheitliche sachliche Entscheidung ermöglicht worden - ungeachtet dessen, daß der Verletzte infolge Zurücknahme seines Rechtsmittels den Umfang der von der AOK eingelegten Berufung durch Prozeßanträge nicht mehr bestimmen konnte und nicht hätte verhindern können, daß dieser Versicherungsträger seinen Rechtsstreit ebenfalls durch Zurücknahme seines Rechtsmittels beendete (RGZ 157, 33, 38 ff; Rosenberg/Schwab, aaO, S. 234).
Die AOK hat ihren Prozeß nach Erlaß des die Rechtswidrigkeit des angefochtenen Bescheids verneinenden, somit sowohl ihr als auch dem Verletzten nachteiligen Urteils des Berufungsgerichts nicht mehr weiterbetrieben. Der Verletzte ist dazu nicht befugt. Die in § 62 ZPO angeordnete Vertretungswirkung des fleißigen Streitgenossen im Verhältnis zum säumigen (RGZ 90, 42, 46; Rosenberg/Schwab, aaO, S. 233 unten) geht nicht so weit, daß in der Revision der zum Rechtsstreit der AOK lediglich zugezogene Verletzte selbständig ein Rechtsmittel einlegen konnte; der "fleißige" Streitgenosse - im dritten Rechtszug der Verletzte - ist nicht berechtigt, im Namen des Säumigen zu handeln (Rosenberg/Schwab, aaO, S. 233 unten). Ansonsten wäre vorliegendenfalls der Verletzte, obwohl er sein Rechtsmittel schon lange zurückgenommen hatte, über die durch § 61 ZPO der Streitgenossenschaft beigelegte Wirkung hinaus begünstigt; der Verlust seines Rechtsmittels hätte nur für den Fall rechtliche Bedeutung, daß die AOK ihr Rechtsmittel ebenfalls zurücknahm oder darauf verzichtete.
Im Schrifttum vertretene, möglicherweise zum Teil gegensätzliche Ansichten befassen sich mit den Wirkungen der Streitgenossenschaft, wenn einer der Streitgenossen kein Rechtsmittel oder dieses nicht fristgerecht eingelegt hat; sie äußern sich nicht speziell dazu, ob trotz Zurücknahme seines Rechtsmittels ein Streitgenosse in einer höheren Instanz ein Rechtsmittel einlegen kann, nachdem der bisher fleißig gewesene Streitgenosse davon keinen Gebrauch macht (Schumann, ZZP 76, 381, 389 ff; Anm. 49 S. 399; Stein/Jonas/Pohle, aaO, Anm. VI, 2; Rosenberg/Schwab, aaO, S. 234). Diese Autoren nehmen an, daß der Prozeß auch derjenigen Streitgenossen, welche kein Rechtsmittel eingelegt oder die Rechtsmittelfrist versäumt haben, durch das fristgerechte Rechtsmittel des fleißigen Streitgenossen in die höhere Instanz gelangt. Nimmt der fleißige Streitgenosse sein Rechtsmittel zurück, so sollen die säumigen Streitgenossen wegen ihrer abhängigen Parteistellung den Eintritt der Rechtskraft gegenüber allen Streitgenossen allerdings nicht hindern können. Das RVA (EuM 42, 400) sowie ihm folgend das LSG Hamburg (Breithaupt 1959, 671) und das LSG Niedersachsen (Breithaupt 1962, 590) haben hingegen in einem solchen Fall angenommen, daß der Rechtsstreit des säumigen Streitgenossen anhängig bleibt. Schumann (und wohl auch Baumbach/Lauterbach, aaO, Anm. 4 C b zu § 62) ist ferner der Ansicht, daß die abhängige Parteistellung des säumigen Streitgenossen beendet sei, sobald auf den Rechtsbehelf des fleißigen Streitgenossen ein Urteil ergehe, weil dann der säumige Streitgenosse seine unabhängige Parteistellung wieder erlange.
Der Senat braucht aus Anlaß der vorliegenden Streitsache sich mit diesen unterschiedlichen, nur darin übereinstimmenden Meinungen, daß durch das Rechtsmittel des fleißigen Streitgenossen auch der Prozeß des säumigen Streitgenossen in die höhere Instanz komme, nicht auseinanderzusetzen. Da wie allgemein angenommen wird, bei Streitgenossenschaft - gleichgültig, ob einfache oder notwendige - eine Mehrheit von Prozeßrechtsverhältnissen besteht und jedenfalls bei Streitgenossenschaft aus prozeßrechtlichen Gründen Verfügungen jedes einzelnen Streitgenossen über seinen Rechtsstreit nicht ausgeschlossen sind, können diese verschiedenen Prozeßrechtsverhältnisse auf unterschiedliche prozessuale Weise beendet werden. Dem würde es widersprechen, wenn ein durch Zurücknahme eines Rechtsbehelfs abgeschlossener Rechtsstreit eines Streitgenossen durch Prozeßhandlungen eines anderen Streitgenossen fortgeführt und sogar in die höhere Instanz gebracht werden könnte. Der durch § 62 Abs. 2 ZPO - trotz mancherlei Unklarheiten über Wesen und Wirkungen der notwendigen Streitgenossenschaft - vom Gesetzgeber gewiesene Weg, daß ein solcher Streitgenosse durch Zuziehung Beteiligter im Rechtsstreit des fleißigen Streitgenossen wird, allerdings nicht als Rechtsmittelkläger, sondern in abhängiger Parteistellung (RGZ 157, 33, 39; Rosenberg/Schwab, aaO, S. 234), wird sowohl den Bedürfnissen der Prozeßwirtschaftlichkeit als auch dem in § 61 ZPO zum Ausdruck gebrachten Willen des Gesetzgebers gerecht, daß Prozeßhandlungen eines Streitgenossen den anderen Streitgenossen weder zum Vorteil noch zum Nachteil gereichen dürfen.
Die Frage, ob - was das LSG verneint hat (s. auch LSG Bremen, Breithaupt 1963, 81, 83) - eine Beiladung des Verletzten nach § 75 Abs. 2 SGG zulässig war, nachdem durch die Zurücknahme seines Rechtsmittels sein Rechtsstreit beendet worden ist, braucht nicht entschieden zu werden; dies würde wohl voraussetzen, daß der Verletzte zu den "anderen", nicht bereits in § 69 ff SGG erfaßten Personen gehören würde (s. auch Redeker/von Oertzen, Kommentar zur VwGO, 3. Aufl, Randnr. 11 zu § 64, S. 261; Eyermann/Fröhler, Kommentar zur VwGO, 5. Aufl., Rand-Nr. 2, 6 zu § 64; zweifelnd Martens, Verwaltungsarchiv, 60. Band, S 197, 356, 375). Der Verletzte hat zu keiner Zeit sich dagegen gewendet, daß er nicht beigeladen worden ist. Die Unterlassung einer notwendigen Beiladung stellt keinen in der Revisionsinstanz von Amts wegen zu berücksichtigenden Verfahrensmangel dar (BSG 1, 158, 159; 7, 269, 275; SozR Nr. 18 zu § 75 SGG).
Der Verletzte ist somit zur Einlegung der Revision nicht berechtigt (RGZ 157, 33, 39). Diese Berechtigung ist durch Verfahrensvorschriften (§ 74 SGG, § 59 ff. ZPO) bestimmt und daher von der materiell-rechtlichen Sachbefugnis zu trennen (vgl. BGH, MDR 1962, 291).
Deshalb war die Revision nach § 169 SGG als unzulässig zu verwerfen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen
Haufe-Index 1669621 |
BSGE, 99 |
NJW 1972, 175 |
MDR 1971, 1044 |