Entscheidungsstichwort (Thema)

Zeiten des Militärdienstes und der Kriegsgefangenschaft. Abändernde Rechtsfindung

 

Leitsatz (redaktionell)

Die Neufassung des RVO § 1260 Abs 1 macht erkennbar, daß der Gesetzgeber Fälle aus der Zeit vor dem Inkrafttreten der Rentenversicherungs-Neuregelungsgesetze von der in der Neufassung liegenden Vergünstigung hat ausschließen wollen. Die Regelung ist klar und eindeutig und bedarf keiner Auslegung; für eine abändernde Rechtsfindung ist im vorliegenden Falle kein Raum.

 

Orientierungssatz

Zur Frage der abändernden Rechtsfindung.

 

Normenkette

RVO § 1260 Abs. 1 Fassung: 1957-02-23, Abs. 1 Fassung: 1965-06-09; RVÄndG Art. 5 § 4 Abs. 2 Buchst. a Fassung: 1965-06-09

 

Tenor

Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 1. Februar 1961 wird zurückgewiesen.

Kosten sind nicht zu erstatten.

 

Gründe

Die Revision des Klägers ist zulässig, aber nicht begründet.

Die Beklagte hat bei der Ermittlung der anrechnungsfähigen Versicherungsjahre im Zuge der Berechnung der dem Kläger gewährten Rente keine Zurechnungszeit hinzugerechnet, weil die Voraussetzungen der hierfür maßgeblichen Vorschrift des § 1260 Abs. 1 der Reichsversicherungsordnung (RVO) nicht erfüllt seien. Sozialgericht (SG) und Landessozialgericht (LSG) sind dem beigetreten.

§ 1260 Abs. 1 RVO in der vor dem Inkrafttreten des Rentenversicherungs-Änderungsgesetzes (RVÄndG) vom 9. Juni 1965 (BGBl I 476) gültigen Fassung bestimmte, daß bei Versicherten, die vor Vollendung des 55. Lebensjahres berufsunfähig oder erwerbsunfähig geworden sind und bei denen von den letzten sechzig Kalendermonaten vor Eintritt des Versicherungsfalles mindestens sechsunddreißig Kalendermonate oder die Zeit vom Eintritt in die Versicherung bis zum Eintritt des Versicherungsfalles mindestens zur Hälfte - sogenannte Halbdeckung - mit Beiträgen für eine rentenversicherungspflichtige Beschäftigung oder Tätigkeit belegt sind, bei der Ermittlung der anrechnungsfähigen Versicherungsjahre die Zeit zwischen dem Eintritt des Versicherungsfalles und der Vollendung des 55. Lebensjahres den zurückgelegten Versicherungs- und Ausfallzeiten hinzuzurechnen ist (Zurechnungszeit).

Geht man allein von dem Wortlaut dieser Vorschrift aus, so sind in der Tat ihre Voraussetzungen im Falle des Klägers deswegen nicht erfüllt, weil bei dem Kläger weder von den letzten 60 Kalendermonaten vor Eintritt des Versicherungsfalles mindestens 36 Kalendermonate noch die Zeit vom Eintritt in die Versicherung bis zum Eintritt des Versicherungsfalles mindestens zur Hälfte mit Pflichtbeiträgen belegt sind. Der Grund dafür, daß dem so ist, ist der militärische Dienst des Klägers mit anschließender Kriegsgefangenschaft. Solche Zeiten des Militärdienstes und der Kriegsgefangenschaft nicht mitzuzählen - wie dies nach § 1265 Satz 2 RVO aF bei der Halbdeckung zur Erhaltung der Anwartschaft zu geschehen hatte -, ließ § 1260 Abs. 1 RVO in der bis zum Inkrafttreten des RVÄndG geltenden Fassung aber nach seinem Wortlaut nicht zu. Der durch das RVÄndG neu gefaßte § 1260 Abs. 1 RVO gibt dem zwar nunmehr Raum, jedoch ist diese gesetzliche Änderung auf Versicherungsfälle beschränkt, die vor dem 1. Juli 1965, aber nach dem 31. Dezember 1956 eingetreten sind (Art. 5 § 4 Abs. 2 Buchst. a RVÄndG). Auf den hier zu entscheidenden Fall ist die Neufassung des § 1260 Abs. 1 RVO also nicht anwendbar, weil der Versicherungsfall des Klägers schon im Februar 1948 eingetreten ist.

Gerade der Umstand, daß der Gesetzgeber die von ihm mit Recht als unbefriedigend erkannte bisherige gesetzliche Regelung durch die grundsätzlich abhelfende Neufassung des § 1260 Abs. 1 RVO abgelöst, diese Regelung aber auf Versicherungsfälle vor dem 1. Juli 1965 und nach dem 31. Dezember 1956 beschränkt hat, macht erkennbar, daß er Fälle aus der Zeit vor dem Inkrafttreten der Rentenversicherungs-Neuregelungsgesetze (1. Januar 1957) von der in der Neufassung des § 1260 Abs. 1 RVO liegenden Vergünstigung hat ausschließen wollen. Die Regelung, in der zwei Zeiträume - die Zeit nach dem 31. Dezember 1956 bis zum 30. Juni 1965 und die Zeit vor dem 1. Januar 1957 - voneinander abgehoben werden, ist klar und eindeutig; sie bedarf keiner Auslegung.

Auch wenn man eine Fortbildung des Rechts durch abändernde Rechtsfindung (vgl. Enneccerus-Nipperdey, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts, Ein Lehrbuch, 1. Halbband: Allgemeine Lehren, Personen, Rechtsobjekte, 15. Aufl., 1959, §§ 58 I 4, 59) bei einem ganz neuen Gesetz wie dem RVÄndG entgegen dem Beschluß des Großen Senats des BSG vom 9. Juni 1961 (BSG 14, 238, 245) und dem Urteil des 4. Senats vom 29. April 1964 (SozR RVO § 1252 Nr. 5 a. E.) für statthaft hält, so ist für eine solche abändernde Rechtsfindung doch im vorliegenden Falle kein Raum. Die Lehre von der abändernden Rechtsfindung hat folgenden allgemeinen Grundsatz aufgestellt: Sofern eine Vorschrift Fälle umfaßt oder Folgen herbeiführt, die vom Gesetzgeber nicht erkannt oder bedacht sind und, wenn er sie erkannt oder bedacht hätte, vernünftigerweise nicht in dieser Weise geordnet sein würden, wird der Richter für berechtigt gehalten, das Gesetz nach dessen eigenen Grundgedanken und unter Berücksichtigung der Grundsätze und Maximen richterlicher Rechtsfindung fortzuentwickeln, wenn nicht das Erfordernis der Rechtssicherheit (das Stabilitätsinteresse) entscheidend dagegen spricht. Entsprechendes soll gelten, wenn eine Wertung des anzuwendenden Gesetzes durch neueres Recht schlechthin überholt ist, mit der Maßgabe, daß die Rechtsfortbildung in erster Reihe auf der Grundlage des in der neuen gesetzlichen (gewohnheitsrechtlichen) Regelung enthaltenen Wertmaßstabes vorzunehmen ist (vgl. Enneccerus-Nipperdey aaO, § 59 I). Die ergänzende Rechtsfindung setzt stets eine durch Restriktion einer bestehenden Norm erzeugte Lücke voraus (vgl. Enneccerus-Nipperdey aaO, § 59 II; Ulrich Klug, Rechtslücke und Rechtsgeltung, in "Festschrift für Hans Carl Nipperdey zum 70. Geburtstag", Band I, 1965, S. 71, hier S. 79). Es fehlt hier schon an einer durch Restriktion zu erzeugenden Lücke in der durch Art. 5 § 4 Abs. 2 Buchst. a RVÄndG getroffenen Regelung, wodurch die Rückwirkung des neu gefaßten § 1260 Abs. 1 RVO auf Versicherungsfälle beschränkt worden ist, die vor dem 1. Juli 1965, aber nach dem 31. Dezember 1956 eingetreten sind. Der Gesetzgeber des RVÄndG hielt sich bei der zeitlich begrenzten Rückwirkung der Neufassung des § 1260 Abs. 1 RVO ersichtlich an die ihm gestellte Aufgabe, die auch in der vollen Gesetzesbezeichnung: Gesetz zur Beseitigung von Härten in den gesetzlichen Rentenversicherungen ... deutlich zum Ausdruck gelangt ist, durch die Rentenversicherungs-Neuregelungsgesetze aufgetretene Härten zu beseitigen (vgl. Kurt Jantz, Erläuterungen zum Gesetz zur Beseitigung von Härten in den gesetzlichen Rentenversicherungen und zur Änderung sozialrechtlicher Vorschriften, BArbBl 1965, 585). Bei dieser klaren Zielsetzung des Gesetzgebungswerks des RVÄndG ist es ausgeschlossen, im Wege einer die Vorschrift des Art. 5 § 4 Abs. 2 Buchst. a RVÄndG abändernden Rechtsfindung auch Versicherungsfälle wie den vorliegenden aus der Zeit vor dem Inkrafttreten der Rentenversicherungs-Neuregelungsgesetze (1. Januar 1957) als von der Neufassung des § 1260 Abs. 1 RVO mit erfaßt anzusehen.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 Sozialgerichtsgesetz.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI2136276

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