Orientierungssatz
Auslegung des § 1246 RVO:
Bei der Beurteilung der Berufsunfähigkeit hat das Gericht zu prüfen, ob dem Versicherten noch das übliche gesamte Teilzeitarbeitsfeld zur Verfügung steht oder ob er entsprechend seiner gesundheitlichen Leistungsfähigkeit nur noch auf einen stark eingeschränkten Teil dieses Arbeitsfeldes verwiesen werden kann (vgl BSG 1969-12-11 GS 4/69 = BSGE 30, 167).
Normenkette
RVO § 1246 Abs. 2 Fassung: 1957-02-23
Verfahrensgang
LSG Nordrhein-Westfalen (Entscheidung vom 20.05.1966) |
SG Duisburg (Entscheidung vom 22.06.1964) |
Tenor
Das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein - Westfalen vom 20. Mai 1966 wird aufgehoben.
Der Rechtsstreit wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Gründe
I
Der Rechtsstreit betrifft die Frage, ob der Kläger Anspruch auf Rente wegen Berufsunfähigkeit hat.
Der 1903 geborene Kläger war kurze Zeit als Bäckerlehrling tätig und arbeitete mit großen Unterbrechungen im Bergbau, in der Landwirtschaft, als Tiefbauarbeiter und als Schausteller. 1927 wurde ihm der rechte Unterschenkel amputiert. Die Beklagte lehnte die Gewährung von Versichertenrente ab, weil der Kläger nicht berufsunfähig sei (Bescheid vom 26. Oktober 1962). Das Sozialgericht (SG) Duisburg hat die Klage abgewiesen (Urteil vom 22. Juni 1964), das Landessozialgericht (LSG) die Berufung des Klägers zurückgewiesen (Urteil vom 20. Mai 1966); die Revision wurde zugelassen.
Das LSG hat nach ärztlichen Begutachtungen außer dem Verlust des rechten Unterschenkels eine Beeinträchtigung der Leberfunktion festgestellt. Es hat den Kläger für fähig gehalten, leichte körperliche Arbeiten wechselweise im Sitzen, Gehen und Stehen täglich sechs Stunden regelmäßig zu verrichten. Beruflich hat es ihn auf Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes verwiesen. Es hat ausgeführt, die Einschränkung der täglichen Arbeitszeit führe nicht zur Annahme von Berufsunfähigkeit. Es sei nicht zu prüfen, ob es Arbeitsplätze für die zeitlich eingeschränkte Tätigkeit gebe, denn es komme nur auf eine ursächliche Verknüpfung zwischen den Gesundheitsstörungen und der Fähigkeit zum Erwerb der Lohnhälfte an. Die besonderen Gegebenheiten des Arbeitsmarktes könnten nicht berücksichtigt werden.
Der Kläger hat mit der Revision beantragt,
die Urteile des LSG und des SG sowie den Bescheid vom 26. Oktober 1962 aufzuheben und die Beklagte zur Gewährung von Berufsunfähigkeitsrente ab 1. August 1961 zu verurteilen,
hilfsweise,
den Rechtsstreit an das LSG zurückzuverweisen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Der Kläger rügt unterlassene Sachaufklärung sowie Verletzung der Denkgesetze und der §§ 1246, 1247 der Reichsversicherungsordnung (RVO). Er führt aus, § 1246 RVO sei "konkret" auszulegen. Die ärztlichen Beurteilungen reichten nicht aus um festzustellen, daß er noch mehr als die Lohnhälfte verdienen könne. Er habe außer dem Verlust des Unterschenkels und einer Lebererkrankung noch eine chronische Bronchitis und einen Herzmuskelschaden. Die Form und Art des von den Ärzten für ihn festgestellten Arbeitseinsatzes weiche so stark von der Normalleistung ab, daß er einen entsprechenden Arbeitsplatz nicht finde. Wegen seiner früheren Bestrafungen hätte er erhebliche Schwierigkeiten, einen geeigneten leichten Arbeitsplatz zu erlangen. Dazu seien Ermittlungen anzustellen.
II
Die Revision ist zulässig und auch begründet, weil das LSG § 1246 RVO nicht so ausgelegt hat, wie dies in den inzwischen ergangenen Beschlüssen des Großen Senats des Bundessozialgerichts (BSG) vom 11. Dezember 1969 - GS 2/68 und GS 4/69 - geschehen ist. Insbesondere widerspricht die Annahme des LSG, es sei grundsätzlich nicht zu prüfen, ob es für den Kläger Arbeitsplätze gibt, die seinem geminderten Leistungsvermögen entsprechen, der in diesen Beschlüssen zur Geltung gelangten Auslegung.
Die Leistungsfähigkeit des Klägers ist über eine zeitliche Beschränkung auf sechs Stunden täglich hinaus noch dadurch eingeschränkt, daß er nur leichte körperliche Arbeiten verrichten kann und daß er wechselweise im Gehen, Sitzen und Stehen, also nicht nur im Stehen oder Sitzen oder Umhergehen, arbeiten soll.
Danach hätte das LSG, wie in den genannten Beschlüssen des Großen Senats (vgl. insbesondere Teil C V 2 a und b des Beschlusses GS 4/69) näher dargelegt ist, prüfen müssen, ob dem Kläger noch das übliche gesamte Teilzeitarbeitsfeld - leichte und mittelschwere Arbeiten, im Gehen, Stehen und Sitzen - zur Verfügung steht oder ob er entsprechend seiner gesundheitlichen Leistungsfähigkeit nur noch auf einen "stark" eingeschränkten Teil dieses Arbeitsfeldes verwiesen werden kann. Es kommt darauf an, ob dem Kläger infolge seiner gesundheitlichen Einschränkungen das für ihn in Betracht kommende allgemeine Teilzeitarbeitsfeld praktisch verschlossen ist, so daß er berufsunfähig oder erwerbsunfähig wäre. Dagegen gehört die Befürchtung der Revision, daß der Kläger wegen seiner Vorstrafen etwa keinen Arbeitsplatz zu finden vermag, nicht zu dem Risiko, das die gesetzliche Rentenversicherung zu tragen hat; § 1246 RVO bietet keinen Anhalt dafür, daß solche persönlichen Schwierigkeiten, die außerhalb der gesundheitlichen Einschränkungen und außerhalb der besonderen Beschaffenheit des Arbeitsmarktes in der Bundesrepublik begründet liegen, rechtserheblich sind.
Das angefochtene Urteil ist aufzuheben und der Rechtsstreit an das LSG zurückzuverweisen. Bei der neuen Verhandlung wird das LSG auch das Ausmaß der Erwerbsfähigkeit des Klägers bis zur gegenwärtigen Zeit zu prüfen haben. Es erübrigt sich deshalb, auf die Verfahrensrügen der Revision näher einzugehen, die die gesundheitliche Leistungsfähigkeit des Klägers betreffen. Im übrigen hat das LSG den vom Kläger erhobenen Anspruch nach den Grundsätzen der Beschlüsse des Großen Senats GS 2/68 und GS 4/69 zu prüfen.
Die Kostenentscheidung bleibt dem den Rechtsstreit abschließenden Urteil vorbehalten.
Fundstellen