Entscheidungsstichwort (Thema)
Pflegezulage. erwerbsunfähiger Hirnbeschädigter. Hirnsubstanzverletzung. Schädelknochenlücke
Orientierungssatz
Einem erwerbsunfähigen Hirnbeschädigten, der nicht nachweislich hilflos ist, steht eine Pflegezulage nur zu, wenn allein die als Schädigungsfolge anerkannte Hirnbeschädigung erwerbsunfähig macht. Liegt Erwerbsunfähigkeit nur wegen zusätzlicher Berücksichtigung einer Schädelknochenlücke vor, besteht kein Anspruch auf Pflegezulage nach BVG § 35 Abs 1 S 4 (Anschluß an BSG vom 1980-07-08 9 RV 36/79 = SozR 3100 § 35 Nr 12).
Normenkette
BVG § 35 Abs 1 S 4 Fassung: 1966-12-28
Verfahrensgang
Schleswig-Holsteinisches LSG (Entscheidung vom 22.03.1979; Aktenzeichen L 2 V 187/78) |
SG Lübeck (Entscheidung vom 25.10.1978; Aktenzeichen S 10 V 69/76) |
Tatbestand
Streitig ist, ob der Kläger Anspruch auf eine Pflegezulage hat.
Der 1919 geborene Kläger war bis 1976 als Verwaltungsangestellter tätig. Seitdem bezieht er Rente wegen Erwerbsunfähigkeit aus der Angestelltenversicherung. Vom Beklagten erhielt er bis 1974 wegen "Schädel- und Hirnverletzung mit hirnorganischen Anfällen und psychischen Ausfällen" als Schädigungsfolgen und unter Berücksichtigung des § 30 Abs 2 Bundesversorgungsgesetz (BVG) Rente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von 90 vom Hundert (vH).
Dem Antrag des Klägers vom Oktober 1974, die MdE auf 100 vH zu erhöhen, gab der Beklagte im Zugunstenwege (§ 40 Gesetz über das Verwaltungsverfahren der Kriegsopferversorgung -KOVVfG-) rückwirkend ab 1. Mai 1973 statt (Bescheid vom 20. Januar 1975). Auf den Widerspruch, mit dem der Kläger auch Pflegezulage begehrte, entschied der Beklagte, daß dieser weder hilflos sei (§ 35 BVG), noch zum Personenkreis der erwerbsunfähigen Hirnverletzten gehöre (Bescheid vom 8. Dezember 1975). Der Widerspruch, die auf den Anspruch auf Pflegezulage beschränkte Klage und die Berufung blieben ohne Erfolg (Widerspruchsbescheid vom 23. April 1976; Urteil des Sozialgerichts -SG- Lübeck vom 25. Oktober 1978 und Urteil des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts -LSG- vom 22. März 1979).
Mit der zugelassenen Revision wendet sich der Kläger gegen die Auslegung des § 35 Abs 1 Satz 4 BVG durch das LSG.
Er beantragt,
die angefochtenen Urteile und Bescheide
aufzuheben und den Beklagten zu verurteilen, ihm
ab 1. März 1975 Pflegezulage der Stufe 1 zu zahlen.
Der Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Die Beteiligten sind damit einverstanden, daß der Senat durch Urteil ohne mündliche Verhandlung entscheidet (§ 124 Abs 2 Sozialgerichtsgesetz -SGG-).
Entscheidungsgründe
Die Revision des Klägers ist nicht begründet. Sie ist zurückzuweisen.
Die Vorinstanzen und der Beklagte haben zu Recht dem Kläger eine Pflegezulage der Stufe 1 verweigert.
Nach § 35 Abs 1 Satz 4 BVG, dessen Anwendung hier allein streitig ist, erhalten erwerbsunfähige Hirnverletzte eine Pflegezulage mindestens nach Stufe 1. Sie haben also wie die Blinden (mindestens Stufe 3) einen Rechtsanspruch auf Pflegezulage, ohne daß die Voraussetzungen der Hilflosigkeit iS des § 35 Abs 1 Satz 1 BVG nachgewiesen zu sein brauchen. Nach der vom 9. Senat des Bundessozialgerichts (BSG) im Urteil vom 8. Juli 1980 - 9 RV 36/79 - fortentwickelten Rechtsprechung (BSGE 22, 82; SozR 3100 § 35 Nr 6 und 10 mwN) steht einem erwerbsunfähigen Hirnbeschädigten, der nicht nachweislich hilflos ist, eine Pflegezulage nur zu, wenn allein die als Schädigungsfolge anerkannte Hirnbeschädigung erwerbsunfähig (MdE mehr als 90 vH nach § 31 Abs 3 bzw § 31 Abs 3 Satz 2 BVG) macht (BSG SozR Nr 19 zu § 35 BVG). Dafür kann sowohl die MdE auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt (§ 30 Abs 1 BVG) als auch wegen eines besonderen beruflichen Betroffenseins (§ 30 Abs 2 BVG) bedeutsam sein (BSG SozR Nr 15 zu § 35 BVG). Hierüber streiten die Beteiligten auch nicht. Die schädigungsbedingte MdE des Klägers beträgt nach den Feststellungen des LSG wegen der anerkannten Hirnbeschädigung (80 vH einschließlich der beruflichen Betroffenheit (90 vH) unter Berücksichtigung der mit einer MdE von 30 vH bewerteten erheblichen Knochenlücke 100 vH. Davon ist aber bei der Beurteilung, ob der Kläger als "erwerbsunfähiger Hirnbeschädigter" (mehr als 90 vH) anzusehen ist, auszugehen. Denn nach dem durch teilweise Klagerücknahme rechtsverbindlichen Bescheid vom 20. Januar 1975 ist nicht mehr über die Bewertung der einzelnen die Gesamt-MdE von 100 vH bedingenden Faktoren gestritten worden. Der 9. Senat des BSG hat in seinem Urteil vom 8. Juli 1980 - 9 RV 36/79 - erneut betont, daß die Hirnbeschädigung nicht nach dem Organsystem (§ 2 Abs 2 und 3 DVO zu § 31 Abs 5 BVG) für die spezielle Punktbewertung bei einer Schwerstbeschädigtenzulage abzugrenzen sei (so schon BSG SozR 3100 § 35 Nr 6); zwar erscheine es - so der 9. Senat - auf den ersten Blick natürlich, auf den ursprünglichen physischen Zusammenhang zwischen Schädeldach- und Hirnsubstanzverletzung abzustellen und beide Bereiche für § 35 Abs 1 Satz 4 BVG als Einheit zu werten, weil die Knochenlücke im Schädel, ohne die die spezielle Art der offenen Hirnverletzung nicht habe entstehen können, mit der künstlichen Abdeckung als die sichtbare Außenseite des Hirnschadenszustandes erscheine; jedoch werde eine solche vordergründige Betrachtungsweise dem Sinn und Zweck der Sondervorschrift des § 35 Abs 1 Satz 4 BVG nicht gerecht, weil die Art der Entstehung eines Schadens außer Betracht zu bleiben habe, wenn der Bereich "Hirnschädigung" abzugrenzen sei (BSGE 8, 130, 134); stattdessen sei allein auf die besonders hochgradigen Folgen für die Leistungsfähigkeit abzuheben; nach den Anhaltspunkten für die ärztliche Gutachtertätigkeit im Versorgungswesen (Ausgabe 1973, Nrn 83 ff, S 127 ff, 145, S 193 ff) würden bei der Bewertung der MdE allgemein derartige Wirkungen einer Kopfverletzung im Sinne einer Schädelverletzung von solchen, die von einer Hirnsubstanzschädigung ausgingen, unterschieden, wodurch dem medizinischen Tatbestand Rechnung getragen werde, daß das Gehirn ein vom Schädel gesonderter Teilbereich des Körpers sei.
Dem schließt sich der erkennende Senat uneingeschränkt an. Er folgt dem 9. Senat auch dahin, daß durch die Hirnschädigung mit ihren Funktionseinbußen annähernd eine Hilflosigkeit iS des § 35 Abs 1 Satz 1 BVG bestehen muß, um die Sonderstellung aus § 35 Abs 1 Satz 4 BVG zu rechtfertigen. Demnach steht dem Kläger eine Pflegezulage der Stufe 1 nach dem Sachstand nicht zu. Ob es anders wäre, wenn der Kläger allein wegen der Hirnbeschädigung vorzeitig seinen Beruf aufgegeben hätte, hat der Senat in diesem Verfahren nicht zu entscheiden.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen