Leitsatz (amtlich)
1. "Übliche Bedingung" des allgemeinen Arbeitsmarktes im Sinne des AVAVG § 76 nF sind solche, unter denen in nennenswertem Umfang Arbeitsverhältnisse eingegangen zu werden pflegen. Beachtlich hierfür kann auch die strukturelle Entwicklung des Arbeitsmarktes sein. Zu den üblichen Bedingungen gehören in der Regel auch Dauer und Verteilung der Arbeitszeit.
2. Der "allgemeine Arbeitsmarkt" umfaßt räumlich den Geltungsbereich des AVAVG, soweit nicht die Ausgleichsfähigkeit beschränkt ist, fachlich den Kreis der Beschäftigungen, für die der Arbeitslose - ohne Einschränkung auf seinen Beruf - bei verständiger Würdigung in Betracht kommt.
3. Unerheblich ist, ob Arbeitsplätze frei sind.
Normenkette
AVAVG § 76 Fassung: 1957-04-03
Tenor
Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Hamburg vom 31. Oktober 1957 aufgehoben. Die Sache wird zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht Hamburg zurückverwiesen.
Von Rechts wegen.
Gründe
I. Die 1905 geborene Klägerin lebt in H mit ihrem Ehemann und ihrem Sohn, die beide berufstätig sind, im gemeinsamen Haushalt. Zuletzt war sie vom 20. Juli 1956 bis zum 14. Februar 1957 wöchentlich 25 Stunden als Kontoristin beschäftigt. Während der letzten 7 Wochen war sie jedoch krank; das Arbeitsentgelt wurde bis zum 6. Februar 1957 gezahlt. Das Beschäftigungsverhältnis wurde wegen Arbeitsmangels gelöst. Am 11. März 1957 meldete sie sich beim Arbeitsamt H arbeitslos und beantragte Arbeitslosenunterstützung (Alu). Sie wurde ihr vom 18. März 1957 an für 120 Unterstützungstage bewilligt und am 1. April 1957 auf Arbeitslosengeld (Alg) umgestellt. Vom 3. Mai bis zum 11. Juni 1957 bezog die Klägerin Krankengeld. Am 4. Juli 1957 bot ihr das Arbeitsamt eine Vollarbeitsstelle in H an. Die Klägerin lehnte sie ab, weil ihr der Anfahrtsweg zu weit sei; gesundheitlich sei sie auch nicht mehr in der Lage, neben ihrer Hausfrauenarbeit ihren Beruf ganztägig auszuüben. Sie verpflichte sich jedoch, jederzeit eine Halbtagsbeschäftigung anzunehmen.
Mit Bescheid vom 13. Juli 1957 stellte das Arbeitsamt die Zahlung des Alg vom 6. Juli 1957 an ein, weil die Klägerin der Arbeitsvermittlung nicht uneingeschränkt zur Verfügung stehe und somit die Voraussetzungen zum Bezuge des Alg gemäß §§ 74, 76 des Gesetzes über Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung (AVAVG) in der Fassung vom 3. April 1957 nicht erfülle.
Der Arbeitsamtsarzt stellte fest, der Klägerin sei "als Kontoristin und überhaupt bei leichter Belastung in trockener Arbeitsplatzumgebung" nur noch eine fünfstündige Tätigkeit täglich zuzumuten, jedoch nicht als Stenotypistin.
Der Widerspruch der Klägerin wurde mit Bescheid vom 31.Juli 1957 zurückgewiesen. Unter den "üblichen Bedingungen" im Sinne des § 76 Abs. 1 AVAVG n.F. seien die zu verstehen, unter denen jeweils die Mehrheit der Arbeitnehmer in den einzelnen Berufs- und Wirtschaftszweigen ihre Arbeit auszuführen pflege. Auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt sei die 48-Stunden-Woche üblich. Andere Vermittlungsaufträge lägen dem Arbeitsamt nicht vor, weshalb die Klägerin in eine Arbeit zu eingeschränkter Arbeitszeit nicht vermittelt werden könne. Das Alg habe darum nach § 185 Abs. 1 AVAVG n.F. entzogen werden müssen.
II. Mit ihrer Klage machte die Klägerin geltend, die Beschränkung ihrer Erwerbsmöglichkeit habe sich erst nach ihrer Erkrankung während der Arbeitslosigkeit herausgestellt. Sie brauche nicht die erste Stelle, die ihr das Arbeitsamt anbiete, anzunehmen. Dies wäre ihr auch nicht möglich gewesen, da der Arzt ihr "jedes Maschineschreiben untersagt" habe. Im kaufmännischen Beruf gebe es wohl kaum "einen üblichen Arbeitsmarkt", sondern die Arbeitszeit werde vereinbart.
In der mündlichen Verhandlung wies die Klägerin durch Vorlage der Meldekarte nach, daß sie sich seit August 1957 nicht mehr beim Arbeitsamt gemeldet hat, und zwar auch deshalb nicht, weil ihr erklärt worden sei, daß sie von dieser Dienststelle in eine Halbtagsbeschäftigung nicht vermittelt werden könne.
Mit Urteil vom 31. Oktober 1957 verurteilte das Sozialgericht Hamburg unter Aufhebung der Verfügungen des Arbeitsamts vom 13. und 31. Juli 1957 die Beklagte, der Klägerin über den 6. Juli 1957 hinaus Alg zu zahlen, soweit sie sich den für Arbeitslose vorgeschriebenen Meldungen unterzogen habe. Die Klägerin erfülle die Voraussetzungen des § 76 AVAVG n.F. Allerdings irre sie, wenn sie meine, sie hätte nicht gleich die erste Arbeitsstelle anzunehmen brauchen. Nach der ärztlichen Beurteilung stehe fest, daß sie nicht das erforderliche Leistungsvermögen zur Ausfüllung einer Vollarbeitsstelle habe. Eine Halbtagsbeschäftigung, wie sie von ihr angestrebt werde und wegen ihres verminderten Leistungsvermögens auch nur ausgeübt werden könne, müsse aber in dem Berufszweig der Klägerin "durchaus als üblich" bezeichnet werden.
Das Sozialgericht ließ die Berufung nach § 150 Nr. 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) wegen der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache zu.
III. Gegen das am 11. Dezember 1957 zugestellte Urteil hat die Beklagte am 9. Januar 1958 Sprungrevision eingelegt, die Einwilligungserklärung der Rechtsmittelgegnerin beigefügt und beantragt, unter Aufhebung des angefochtenen Urteils die Klage abzuweisen. Nach Verlängerung der Begründungsfrist hat sie die Revision am 19. Februar 1958 begründet und damit Verstöße gegen §§ 103, 128 SGG und §§ 74, 76 AVAVG n.F. gerügt. Sie meint, das Sozialgericht habe mit der Feststellung, daß eine Halbtagsbeschäftigung im Beruf der Klägerin als üblich angesehen werden müsse und deshalb den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes entspreche, wesentliche Verfahrensvorschriften verletzt, da es den Sachverhalt nicht erschöpfend geklärt habe. Im Beruf der Klägerin betrage die übliche Arbeitszeit nicht weniger als 45 Stunden. Wenn einzelne Betriebe oder Dienststellen zur Beschäftigung von Halbtagskräften übergegangen seien, so gehöre damit eine Tätigkeit dieses Umfanges noch nicht zu den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes. Davon könne erst gesprochen werden, wenn eine im Verhältnis zur Gesamtzahl der Betriebe eines Berufszweiges nicht nur geringe Zahl von Unternehmen diese Arbeitszeit für eine bestimmte Berufssparte eingeführt habe. Die Klägerin könne wegen ihres geminderten Leistungsvermögens eine Arbeitsstelle mit 45-stündiger Arbeitszeit nicht ausfüllen und deshalb nicht mehr unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes tätig sein. Eine zeitliche Einschränkung sei ohne Einfluß auf die Verfügbarkeit nur, wenn sie ihre Ursache in den "sonstigen Umständen" des § 76 Abs. 1 Nr. 3 AVAVG n.F. habe.
Die Klägerin hat nicht Stellung genommen. Das Armenrecht ist ihr durch Beschluß vom 31. Oktober 1958 wegen mangelnder Bedürftigkeit verweigert worden.
IV. Das Sozialgericht hat die Berufung nach § 150 Nr. 1 SGG zugelassen. Sie wäre sonst nach § 144 Abs. 1 Nr. 2 SGG nicht zulässig gewesen, weil die Klägerin Ansprüche auf wiederkehrende Leistungen für einen Zeitraum von weniger als 13 Wochen geltend macht. Durch die Zulassung der Berufung ist auch die Sprungrevision statthaft geworden. Sie ist frist- und formgerecht (§§ 161 Abs. 1, 164 SGG) eingelegt und begründet worden und deshalb zulässig.
V. Zur Entziehung des Alg war das Arbeitsamt nach § 185 AVAVG n.F. nur berechtigt, wenn die Voraussetzungen dem Grunde oder der Höhe nach nicht vorlagen oder weggefallen sind. Insoweit ist hier streitig, ob die Klägerin im Sinne des § 76 AVAVG n.F. der Arbeitsvermittlung zur Verfügung steht, ob sie also ernstlich bereit und ungeachtet der Lage des Arbeitsmarktes nach ihrem Leistungsvermögen imstande sowie nicht durch sonstige Umstände, die eine Beschäftigung von mehr als geringfügigem Umfange ausschließen, gehindert ist, eine Beschäftigung unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes auszuüben und nach der im Arbeitsleben herrschenden Verkehrsauffassung für eine Vermittlung als Arbeitnehmerin in Betracht kommt.
Der erkennende Senat hatte die "Verfügbarkeit für den Arbeitsmarkt" als Voraussetzung für die Gewährung der Alu bereits nach dem früheren Recht in seinem Urteil vom 21.März 1956 (BSG. 2 S. 67) für erforderlich erklärt, und zwar nach der damaligen Rechtslage als Bestandteil des Begriffs "arbeitslos". Er hatte sie dahin gekennzeichnet, daß der Arbeitslose subjektiv sich dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stellen und ihm objektiv zur Verfügung stehen müsse.
Auch § 76 AVAVG n.F. verlangt subjektiv die ernstliche Bereitschaft zur Beschäftigung und objektiv, daß der Arbeitslose nach seinem Leistungsvermögen und unbehindert durch sonstige Umstände imstande ist, eine Beschäftigung auszuüben.
Das Sozialgericht hat die ernstliche Bereitschaft als gegeben angesehen. Hinsichtlich des Leistungsvermögens hat es sich dem ärztlichen Gutachten angeschlossen, daß die Klägerin "nur noch für eine 5-stündige tägliche Tätigkeit" in Frage kommt. Von der Revision sind insoweit Mängel nicht gerügt. Der Senat kann deshalb diese Voraussetzungen als festgestellt ansehen und seiner Entscheidung zu Grunde legen. Auch Zweifel daran, daß die Klägerin nach herrschender Verkehrsauffassung als Arbeitnehmerin in Betracht kommt, sind nicht geltend gemacht worden. Einer näheren Prüfung aus dem Begriff "Verfügbarkeit" bedarf deshalb nur die Frage, ob die der Klägerin nach ihrem Leistungsvermögen noch zumutbare Beschäftigung eine solche "unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes" darstellt.
VI. Insoweit ist zunächst zu klären, was unter "allgemeinem Arbeitsmarkt" zu verstehen ist. Der Begriff "Arbeitsmarkt", der schon im § 18 der Reichsverordnung über Erwerbslosenfürsorge i.d.F. vom 16. Februar 1924 (RGBl. I S. 127) enthalten und anschließend ins AVAVG übergegangen war, wurde insbesondere durch die Rechtsprechung zum § 89 a AVAVG weiter entwickelt (vgl. Grunds. Entsch. des RVA Nr. 3812 vom 9.5.1930, AN S. 346). In der Fassung "allgemeiner Arbeitsmarkt" wurde er durch den § 88 der Regierungsvorlage der Großen Novelle zum AVAVG eingeführt, dann im § 141 a Abs. 4 des Gesetzes zur Änderung und Ergänzung des AVAVG vom 16. April 1956 (BGBl. I S. 243 - sog. "Alhi-Gesetz" -) aufgenommen und ist nunmehr im § 76 AVAVG n.F. Bestandteil der Verfügbarkeit. In keiner dieser Vorschriften ist der Begriff erläutert, obwohl er verschiedene Deutungen zuläßt, so daß aus dem Wortlaut des Gesetzes jedenfalls der Wille des Gesetzgebers nicht erkennbar ist. Er muß deshalb, da auch die geschichtliche Entwicklung hierfür nichts hergibt, aus dem Sinnzusammenhang entnommen werden.
Zu prüfen ist, ob der Begriff "allgemeiner Arbeitsmarkt" räumlich oder fachlich oder in einer Koppelung beider Möglichkeiten zu verstehen ist, und ferner, wie weit jeweils die Grenzen zu ziehen sind.
Maßgebend hierfür muß sein, welchen Zweck § 76 AVAVG n.F. verfolgt. Ein besonderes Ziel des Regierungsentwurfs der Großen Novelle war die "Einschränkung der Manipulierbarkeit des Wagnisses", also die Erschwerung mißbräuchlicher Inanspruchnahme der Leistungen der Arbeitslosenversicherung, und zwar gerade auch hinsichtlich der streitigen Vorschrift (vgl. Deutscher Bundestag, 2. Wahlperiode 1953, Drucksache Nr. 1274, S. 82, 120). Daraus ergibt sich jedoch keine geeignete Grundlage für die Auslegung, zumal die gesetzgebenden Körperschaften bei einzelnen Bestimmungen vom Entwurf abweichende Regelungen getroffen haben. Auch der Wortlaut des § 76 AVAVG n.F. unterscheidet sich nicht unwesentlich von dem des § 88 des Entwurfs und dem § 141 a a.a.O., ohne daß aus den Ausschußberichten und den Sitzungsniederschriften der Grund hierfür zu erkennen wäre. Es muß deshalb von folgenden Erwägungen ausgegangen werden: Wie bisher im § 131 AVAVG a.F. so ist jetzt im § 36 AVAVG n.F. als Leitgedanke des AVAVG festgelegt, daß die Vermittlung in Arbeit oder Berufsausbildung den Leistungen aus der Arbeitslosenversicherung und Arbeitslosenhilfe vorgeht. Diese werden demnach nur gewährt, wenn sich Vermittlungsmöglichkeiten nicht ergeben, treten also nur subsidiär ein (a.M. Schmalz, Soziale Sicherheit 1958 S. 44, der aber die Tatsache nicht genügend bewertet, daß jetzt nach § 74 Abs. 1 AVAVG n.F. auch die Verfügbarkeit Anspruchsvoraussetzung ist).
Um das Ziel der baldigen Unterbringung des Arbeitslosen in Arbeit erreichen zu können, muß der Begriff des allgemeinen Arbeitsmarktes zunächst einmal räumlich gesehen werden. Dieser Raum muß umfassend sein, wenn die Arbeitsvermittlung ihre Aufgabe erfüllen soll. Das Arbeitsamt kann die Vermittlung nicht allein auf den Wohnort des Arbeitslosen beschränken, auch nicht auf den überörtlichen Ausgleich, sondern muß gegebenenfalls darüber hinausgehen bis zur überbezirklichen Vermittlung, je nach Lage des Falles sogar bis zum Ausgleich im Bundesgebiet. Hierfür stellt die Bundesanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung nicht unerhebliche Mittel, z.B. für Reise- und Vorstellungskosten usw. zur Verfügung. Der Raum des allgemeinen Arbeitsmarktes muß sich unter diesen Umständen grundsätzlich auf den gesamten Geltungsbereich des AVAVG erstrecken. Allerdings sind auch räumlich Ausnahmen zulässig. Denn es muß jeweils vom Einzelfalle ausgegangen werden, und dieser kann insoweit eine besondere Beurteilung erfordern, falls die Ausgleichsfähigkeit des Arbeitslosen beschränkt ist. Der im Schrifttum wiederholt verwendete Ausdruck "erreichbarer Arbeitsmarkt" erscheint dem Senat mißverständlich, weil er nicht die Grenzen genügend klar zum Ausdruck bringt, die sich im Einzelfalle aus den Möglichkeiten des räumlichen und fachlichen Ausgleichs ergeben (vgl. Zum "erreichbaren Arbeitsmarkt" die Ausführungen von Schmidt, Die Arbeitslosenhilfe, Nachtrag zum Kommentar, Anm. 3 zu § 145 AVAVG n.F. und in "Arbeit, Beruf und Arbeitslosenhilfe" 1958 S. 200; Stock ebenda 1958 S. 158 und Schmalz, Soziale Sicherheit 1958 S. 44).
Hiermit ist aber der Begriff des allgemeinen Arbeitsmarktes nicht erschöpft. Vielmehr ist weiter festzustellen, für welche Arbeitsstellen der Arbeitslose zur Verfügung stehen muß. Das Reichsversicherungsamt hatte in seiner bereits erwähnten Grundsätzlichen Entscheidung Nr.3812 die Auffassung vertreten, daß "unter Arbeitsmarkt der Arbeitsmarkt der unselbständigen Arbeitnehmer schlechthin ohne Beschränkung auf den bisherigen Beruf zu verstehen" sei. Der erkennende Senat war dem in seinem oben angeführten Urteil (BSG. 2 S. 67, 73) nicht im vollen Umfang gefolgt. Er hielt es zwar ebenfalls für nicht ausreichend, daß der Arbeitslose seine Verfügbarkeit nur auf seinen Beruf beschränkt, sie brauche aber auch nicht jedwede Beschäftigung auf dem Arbeitsmarkt zu umfassen. Maßgebend müsse eine vernünftige Würdigung des Einzelfalles sein. Diese Auffassung muß weiter gelten. Zwar ist der Senat in der angezogenen Entscheidung insoweit davon ausgegangen, daß die nach 1945 zum AVAVG erlassenen Länder- oder Zonenvorschriften - mit Ausnahme von Rheinland-Pfalz - keinen Berufsschutz kannten. Dieser ist nunmehr im § 78 Abs. 2 Nr. 2 Halbsatz 2 AVAVG in begrenztem Umfange wieder eingeführt worden. Aber gerade daraus ergibt sich durch Umkehrschluß, daß der Gesetzgeber die Beschränkung der Verfügbarkeit auf den bisherigen Beruf allein ebenfalls als nicht ausreichend ansieht. Deshalb muß der Arbeitslose grundsätzlich dem Arbeitsmarkt der Arbeitnehmer zur Verfügung stehen, d.h., er muß auch für Arbeitsstellen außerhalb seines Berufes verfügbar sein, soweit ihm nicht berechtigte Gründe für die Ablehnung einer solchen Arbeit im Sinne des § 78 a.a.O. zur Seite stehen. Wo die Grenze zu ziehen ist, kann auch hier nur nach dem Einzelfalle beurteilt werden.
Festzustellen ist jedenfalls, daß der "allgemeine Arbeitsmarkt" räumlich den Geltungsbereich des AVAVG umfaßt, soweit nicht die Ausgleichsfähigkeit beschränkt ist, fachlich den Kreis der Beschäftigungen, für die der Arbeitslose - ohne Einschränkung auf seinen Beruf - bei verständiger Würdigung des Einzelfalles in Betracht kommt. Unerheblich ist, ob Arbeitsplätze frei sind, da dieser Umstand sich nicht nachteilig für den Arbeitslosen auswirken darf.
VII. Weiter bedarf es nunmehr der Prüfung, was unter den "üblichen Bedingungen" dieses allgemeinen Arbeitsmarktes zu verstehen ist. "Bedingungen" in diesem Sinne sind alle die, welche wesentliche Grundlagen des Arbeitsverhältnisses sind. Das sind alle Bedingungen, die der Arbeitslose kennen muß, um darüber entscheiden zu können, ob er eine Arbeitsstelle annehmen muß oder ablehnen darf. Dazu gehören in der Regel auch Dauer und Verteilung der Arbeitszeit auf die einzelnen Tage und auf die Woche.
§ 76 AVAVG n.F. setzt voraus, daß der Arbeitslose zu den "üblichen" Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes zur Verfügung steht. Das Wort "üblich" ist abzuleiten von "üben", "Übung", es steht im Gegensatz zu Ausnahme- oder Einzelfällen, auch wenn diese häufiger sein sollten. Eine "Übung" ist anzunehmen, wenn Arbeitsverhältnisse unter diesen Bedingungen in nennenswertem Umfange eingegangen zu werden pflegen. Wenn die Beklagte darauf hinweist, daß nach früherer Auffassung unter "ortsüblichem Lohn" nur der verstanden wurde, der in der Mehrzahl der Arbeitsverhältnisse gezahlt wurde, so kann sie hieraus nicht ohne weiteres einen Schluß auf die Auslegung des Begriffs "übliche Bedingungen" ziehen. Denn das Wort "üblich" verträgt je nach dem Zusammenhang, in dem es gebraucht wird, eine verschiedenartige Auslegung.
"Übliche Bedingungen" im Sinne des "allgemeinen Arbeitsmarktes" brauchen jedenfalls nicht in der Mehrzahl der Arbeitsverhältnisse vorzuliegen, müssen aber in einer beachtlichen Zahl gegeben sein, aus der eine entsprechende Übung entnommen werden kann. Um zu erkennen, ob eine solche besteht, dürfen nicht nur die jeweils räumlich und zeitlich durchgeführten Vermittlungen statistisch erfaßt werden, sondern zu berücksichtigen ist auch, in welchem zahlenmäßigen Umfange Arbeitsverhältnisse dieser Art überhaupt vorhanden sind (a.M. Schmalz in "Arbeit, Beruf und Arbeitslosenhilfe" 1958 S. 203). Es darf aber auch nicht nur gewissermaßen von einem festen Bestand ausgegangen werden, sondern es muß ferner die Entwicklung berücksichtigt werden, die der Arbeitsmarkt nimmt. Wenn auch die "Lage" des Arbeitsmarktes bei der Prüfung, ob der Arbeitslose ihm zur Verfügung steht, unbeachtet bleiben muß, so kann doch die strukturelle oder sonstige Entwicklung des Arbeitsmarkts beachtlich sein. Denn es ist eine Tatsache, daß die fortschreitende Mechanisierung der Arbeit bis zur Automatisierung eine wesentliche Änderung zahlreicher Arbeitsverrichtungen mit sich bringt, wie auch die Erschöpfung der Arbeitskraftreserven durch die weitgehend erreichte Vollbeschäftigung die Betriebe zwingt, auf Arbeitskräfte zurückzugreifen, die nicht mehr voll dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen und zu einer Umgestaltung der Arbeitsbedingungen führt.
Unbestreitbar ist zwar grundsätzlich immer noch die 45- bis 48-stündige Arbeitszeit üblich. Aber daneben bestehen in bestimmten Berufen Arbeitsverhältnisse von zwar mehr als 24, aber weniger als 45 bis 48 Stunden, und zwar in einer nicht unbedeutenden Zahl. Hier sei nur darauf hingewiesen, daß insbesondere seit der weitgehenden Heranziehung der Frauen zu ihnen sonst berufsfremden Arbeiten durch Dienstverpflichtungen im 2. Weltkrieg und den dadurch bedingten Mangel an Hausgehilfinnen und durch die Nachkriegsfolgen (Wohnungsnot usw.) die Arbeitszeit der Haushilfen - von den stundenweise beschäftigten Frauen abgesehen - schon seit langer Zeit in sehr erheblichem Umfang auf 1/2- bis 3/4tags-Beschäftigung umgestellt worden ist. Ebenso sind im Handelsgewerbe zahlreiche Verkäuferinnen nur halbtags beschäftigt, und auch beim Büropersonal hat sich, obwohl die Vollarbeit zunächst noch weit überwiegt, dieses Streben nach Halbtagsbeschäftigung schon seit geraumer Zeit gezeigt und weiter durchgesetzt (vgl. zur Entwicklung des Arbeitsmarktes weiblicher Arbeitskräfte z.B. den Bericht in "Amtliche Nachrichten der Bundesanstalt" 1959 S. 40).
Allerdings kann Verfügbarkeit dann nicht angenommen werden, wenn sich ein Arbeitsloser nur für unübliche Zeiten, z.B. nur für nachmittags oder abends zur Arbeit bereit erklärt, Wenn er sich schon nur für begrenzte Zeit zur Verfügung stellen kann, dann muß diese in der jeweils üblichen Arbeitszeit liegen.
Sicherlich sind Umfang und Art solcher Halbtagsbeschäftigungen je nach Größe und Struktur der für die Vermittlung in Betracht kommenden Gebiete verschieden. Aber dieser Umstand wird wesentlich dadurch abgeschwächt, daß der Arbeitslose seine Verfügbarkeit nicht nur auf seinen Beruf beschränken darf und er deshalb, selbst wenn er ortsgebunden ist, Aussicht auf Halbtagsbeschäftigung in anderen Berufsarten mit diesen Bedingungen haben kann. Jedoch muß auch hier immer im Einzelfall geprüft werden, auf welche Berufszweige der Arbeitslose unter Beachtung der Grundsätze des § 39 AVAVG n.F. verwiesen werden kann und wie weit für ihn je nach der Beschränkung seiner Ausgleichsfähigkeit die räumliche Ausdehnung des Arbeitsmarktes bemessen werden darf.
VIII. Das angefochtene Urteil stützt sich auf die "Überlegung, daß eine Halbtagsbeschäftigung, wie sie von der Klägerin angestrebt wurde und wie sie von ihr wegen des verminderten Leistungsvermögens auch nur ausgeübt werden kann, in dem Berufszweig der Klägerin durchaus als üblich angesehen werden muß". Das Sozialgericht hat dazu aber Feststellungen tatsächlicher Art, an die das Bundessozialgericht gebunden wäre (§ 163 SGG), nicht getroffen. Insbesondere ist nicht geprüft worden, ob die als "üblich" angenommene Beschränkung der Arbeitszeit in dem für die Klägerin wegen ihres Gesundheitszustandes maßgeblichen Raum des allgemeinen Arbeitsmarktes und in diesem nicht nur für ihren bisherigen Beruf, sondern auch in weiteren Berufszweigen, auf die sie verwiesen werden könnte, tatsächlich üblich ist. Das Bundessozialgericht darf diese Feststellungen nicht treffen, sie müssen dem Tatsachengericht überlassen bleiben.
Das Urteil des Sozialgerichts muß deshalb aufgehoben und die Sache zu erneuter Verhandlung und Entscheidung zurückverwiesen werden. Der Senat hat insoweit von § 170 Abs. 3 SGG Gebrauch gemacht und die Sache an das Landessozialgericht zurückverwiesen, das für die Berufung zuständig gewesen wäre. Dieses hat seiner Entscheidung die oben dargelegte Rechtsauffassung zu Grunde zu legen.
Die Entscheidung über die Kosten bleibt dem abschließenden Urteil vorbehalten.
Fundstellen