Leitsatz (redaktionell)

1. Zur Frage der Verursachung, falls der Tod des Versicherten im Zusammenwirken eines unfallbedingten Operationstraumas mit einer weit fortgeschrittenen Krebserkrankung eingetreten ist.

2. Einer das Ableben des Versicherten um wenigstens 1 Jahr beschleunigenden unfallbedingten Schädigung kommt die Bedeutung einer rechtlich wesentlichen Mitursache allgemein dann zu, wenn diese Schädigung durch gemeinsame Einwirkung mit einem unfallfremden Leiden herbeigeführt worden ist.

 

Normenkette

RVO § 542 Abs. 1 Fassung: 1942-03-09

 

Tenor

Das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 6. Februar 1962 wird aufgehoben. Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Düsseldorf vom 17. Mai 1957 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

Von Rechts wegen.

 

Gründe

I

Die Klägerin ist die Witwe des am 5. August 1953 im Alter von 40 Jahren gestorbenen Landwirts H B Sie ist der Ansicht, der Tod ihres Ehemannes sei auf einen Arbeitsunfall zurückzuführen, der ihm am 9. Juli 1953 zugestoßen war. An diesem Tage verunglückte der Ehemann der Klägerin dadurch, daß er beim Scheuen eines von ihm geführten Pferdes stürzte und unter eine von dem Pferd fortgerissene Karre geriet, wobei ihm ein Rad über die Brust fuhr. Während der sofort notwendig gewordenen Krankenhausbehandlung erweckte das Auftreten von Blut im Urin den Verdacht auf einen Nierenriß. Nach vorübergehender Besserung in diesem Krankheitsbefund traten Ende Juli die Blutungen wieder auf. Da Erbrechen hinzukam und der Blutfarbstoff absank, ferner im Oberbauch eine Geschwulst zu tasten war, hielt der behandelnde Chirurg eine Probelaparotomie für erforderlich und führte diese am 1. August 1953 durch. Der Operationsbefund ergab ein ausgedehntes Krebsleiden (Magenkarzinom mit zahlreichen Metastasen in Milz und Nieren). Ein Befund, der auf Unfallverletzungen hätte schließen lassen, war nicht zu erheben. Der Ehemann der Klägerin starb am fünften Tage nach der Operation.

Die Beklagte erkannte durch Bescheid vom 10. März 1954 das Unfallereignis als landwirtschaftlichen Arbeitsunfall an und übernahm die Heil- und Behandlungskosten bis zum 20. Juli 1953. Gleichzeitig lehnte sie die Gewährung der Hinterbliebenenrente und des Sterbegeldes unter Bezug auf das Operationsgutachten ab.

Diesen Bescheid hat die Klägerin, soweit ihre Hinterbliebenenansprüche abgelehnt worden sind, angefochten. Sie macht geltend, ihr Ehemann hätte vielleicht noch zehn Jahre leben können, wenn er nicht von dem Unfall betroffen worden wäre. Das Sozialgericht (SG) Düsseldorf hat zur Klärung der Frage des ursächlichen Zusammenhang zwischen dem Arbeitsunfall und dem Tod des Ehemannes der Klägerin Beweis erhoben. Es hat vor allem mehrere Sachverständigengutachten eingeholt. Daraufhin hat das SG durch Urteil vom 17. Mai 1957 die Klage abgewiesen.

Mit der Berufung hiergegen hat die Klägerin geltend gemacht, ihr Ehemann sei an den Folgen der Operation gestorben, die wegen des Unfalls notwendig gewesen sei; offenbar habe die Operation das Krebsleiden um wenigstens ein Jahr beschleunigt. Das Landessozialgericht (LSG) hat den Chirurgen, der die Operation durchgeführt hat, als sachverständigen Zeugen über Anlaß und Ergebnis des Eingriffs vom 1. August 1953 vernommen und daraufhin weiteren Sachverständigenbeweis erhoben. Durch Urteil vom 6. Februar 1962 hat es die Beklagte verurteilt, der Klägerin Hinterbliebenenrente und Sterbegeld zu gewähren und hierüber einen Bescheid zu erteilen. Zur Begründung ist im wesentlichen ausgeführt: Die Operation, die durch vermeintliche Unfallfolgen indiziert gewesen sei, stelle sich als Folge des Arbeitsunfalls dar. Auf sie sei es zurückzuführen, daß der Ehemann der Klägerin schon vier Tage nach dem Eingriff gestorben sei. Dieser ursächliche Zusammenhang werde nicht dadurch in Frage gestellt, daß der operierende Arzt irrtümlicherweise angenommen habe, es liege eine unfallbedingte Krankheit vor. Tatsächlich habe der Ehemann der Klägerin allerdings an einem schweren Magenkrebs gelitten. Die Ansichten der ärztlichen Sachverständigen über die Lebenserwartung des Ehemannes der Klägerin wegen dieses Leidens seien nicht einheitlich; sie schwankten zwischen einer Zeit von mehr als einem Jahr und von drei bis vier Monaten. Die weit fortgeschrittene Krebserkrankung wie auch das Operationstrauma seien wesentliche Teilursachen für den Tod gewesen. Das Magenkarzinom hätte den Tod wahrscheinlich innerhalb eines Jahres herbeigeführt; die unfallbedingte Operation habe ihn in Wirklichkeit aber bereits nach vier Tagen schon zur Folge gehabt, weil der Allgemeinzustand des Ehemannes der Klägerin infolge des Krebsleidens stark reduziert gewesen sei. Das Zusammentreffen des durch das Operationstrauma hervorgerufenen Schadens mit einer fortgeschrittenen Krebserkrankung habe das frühzeitige Ableben des Ehemannes der Klägerin bewirkt; er sei einem sogenannten Operationstod erlegen. Ob er auch ohne die Operation an dem Magenkrebs vor Ablauf eines Jahres gestorben wäre, sei demgegenüber rechtlich nicht mehr von Bedeutung. Wesentlich sei, daß die Betriebsarbeit zum Unfall, dieser zur Operation und die Operation schließlich zum Tode geführt habe. In einem solchen Fall sei die Lebensverkürzung um ein Jahr unbeachtlich. Von Bedeutung wäre sie nur, wenn der Ehemann der Klägerin an dem unfallfremden Krebsleiden gestorben wäre und auf dieses die Unfallfolgen verschlimmernd eingewirkt hätten. Das sei jedoch nicht der Fall gewesen.

Das LSG hat die Revision zugelassen.

Das Urteil ist der Beklagten am 23. März 1962 zugestellt worden. Sie hat am 19. April 1962 Revision eingelegt und diese am 19. Mai 1962 begründet. Sie beantragt,

das Urteil des LSG aufzuheben und die Berufung gegen das Urteil des SG Düsseldorf vom 17. Mai 1957 zurückzuweisen.

Die Klägerin beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

II

Die Revision ist zulässig. Sie hatte auch Erfolg.

Das LSG ist zutreffend davon ausgegangen, daß der Ehemann der Klägerin den Folgen der Probelaparotomie erlegen ist, weil er diesem operativen Eingriff, nach dem normalerweise keine Komplikationen auftreten, wegen seines Kräfteverfalls infolge des ausgedehnten Krebsleidens nicht gewachsen war. Der Tod des Ehemannes der Klägerin war sonach die Folge der Probelaparotomie und gleichzeitig der Krebserkrankung. Der Anspruch der Klägerin auf die Hinterbliebenenentschädigung hängt davon ab, daß der Tod ihres Ehemannes im ursächlichen Zusammenhang mit dem Arbeitsunfall steht, der ihrem Ehemann am 9. Juli 1953 zugestoßen war. Dies setzt voraus, daß, da zwischen dem Krebsleiden und dem Unfall keine ursächliche Beziehung bestand, ein ursächlicher Zusammenhang zwischen dem Unfall und dem operativen Eingriff gegeben war. Diesen Zusammenhang hat das. LSG mit im Ereignis zutreffender Begründung bejaht. Die gegenteilige Ansicht der Revision, die unter Berufung auf die Entscheidung des Reichsversicherungsamts (RVA) in EuM 24, 121 meint, der ärztliche Eingriff vom 1. August 1953 könne nicht die (mittelbare) Folge des Unfalls vom 9. August 1953 gewesen sein, weil die Operation durch die irrtümliche Annahme des Arztes, es lägen Unfallfolgen vor, veranlaßt worden sei, trifft nicht zu. Wohl hatte sich der Verdacht des operierenden Arztes auf das Vorhandensein innerer, vom Unfall herrührender Verletzungen (Nieren- oder Milzriß) nicht bestätigt. Jedoch war hier - anders als in dem der angeführten Entscheidung des RVA zugrunde liegenden Fall - für den Entschluß des Arztes, den Eingriff vorzunehmen, nicht die Absicht maßgebend, zu untersuchen oder festzustellen, ob ein ursächlicher Zusammenhang zwischen den Beschwerden des Ehemannes der Klägerin und dem Arbeitsunfall bestanden, vielmehr war Zweck der Operation, die Ungewißheit über Art, Umfang und Ausmaß der Krankheit zu beseitigen, wobei die übrigens auch durch den Operationsbefund nicht widerlegte Vorstellung des Arztes, daß bei dem sofort nach dem Unfall in Krankenhausbehandlung genommenen Verletzten noch unbekannte Unfallschädigungen entdeckt werden könnten, eine Rolle gespielt hat. Gerade deshalb, weil der Arbeitsunfall des Ehemannes der Klägerin unmittelbare Gesundheitsschädigungen zur Folge gehabt und es sich ärztlicherseits als notwendig erwiesen hatte, erst durch eine Probelaparotomie sich ein Bild von den Ursachen der Beschwerden des Ehemannes der Klägerin zu verschaffen, ist anzunehmen, daß es jedenfalls ohne den Unfall nicht zu dem Eingriff gekommen wäre (vgl. EuM 20, 108; BSG 17. 60, 61).

Die hiernach durch den Arbeitsunfall des Ehemannes der Klägerin verursachte Probelaparotomie, die mit zum Tode des Ehemannes der Klägerin geführt hat, ist allerdings nur dann geeignet, einen Hinterbliebenenanspruch zu begründen, wenn der unfallbedingte operative Eingriff in seiner Bedeutung und Tragweite für den Tod wesentliche Bedingung und damit Ursache im Rechtssinne wäre und in dieser Bedeutung nicht gegenüber dem - unfallversicherungsrechtlich unerheblichen - Krebsleiden zurückträte. Die Auffassung des LSG, daß diese Voraussetzung im vorliegenden Fall gegeben sei, ist nicht frei von Rechtsirrtum. Seiner Annahme, daß bei der Art und Schwere des Krebsleidens sowohl diese Erkrankung als auch das Operationstrauma wesentliche Teilursachen des am 5. August 1953 eingetretenen Todes des Ehemannes der Klägerin gewesen seien, steht die von der Klägerin nicht beanstandete Feststellung des Berufungsurteils entgegen, daß der Tod auch ohne die Operation wahrscheinlich innerhalb eines Jahres, und zwar schon nach drei bis vier Monaten, durch das Magenkarzinom herbeigeführt worden wäre. Wenn - wie im vorliegenden Fall - ein Unfallgeschädigter an einer vom Unfall unabhängigen Krankheit leidet, bei deren Art und Verlauf mit seinem zeitlich bestimmbaren Ableben zu rechnen ist, d. h., wenn die Lebenserwartung des Geschädigten auf Grund gesicherter ärztlicher Erfahrung absehbar ist, so daß der Tod durch die Unfallfolgen lediglich beschleunigt wird, gewinnt entgegen der Auffassung des LSG der Begriff der Lebensverkürzung um ein Jahr rechtliche Bedeutung für die Entscheidung darüber, ob die zum Tode führende Unfallschädigung als Ursache im Rechtssinne zu werten ist. Diese Rechtsauffassung hat der Senat in Fortführung der Rechtsprechung des RVA wiederholt vertreten (vgl. EuM 6, 209; 15, 98; SozR RVO Nr. 10 zu § 542 aF; BSG 12, 247, 253). Hiervon abzuweichen, bieten die Ausführungen des angefochtenen Urteils keinen ausreichenden Anlaß; insbesondere trifft es nicht zu, daß - wie das LSG meint - die Frage der Lebensverkürzung um mindestens ein Jahr hier rechtliche Bedeutung nur hätte erlangen können, wenn die unfallbedingten Operationsfolgen auf das unfallunabhängige Krebsleiden verschlimmernd eingewirkt hätten. Wie in dem Urteil des 5. Senats des Bundessozialgerichts vom 11. Dezember 1963 (SozR RVO Nr. 69 zu § 542 RVO aF) entschieden ist, kommt einer das Ableben des Verletzten um wenigstens ein Jahr beschleunigenden unfallbedingten Schädigung die Bedeutung einer rechtlich wesentlichen Mitursache allgemein dann zu, wenn diese Schädigung durch gemeinsame Einwirkung mit einem unfallfremden Leiden herbeigeführt worden ist. Dieser Auffassung schließt sich der erkennende Senat an. Da nach den tatsächlichen Feststellungen des angefochtenen Urteils der Ehemann der Klägerin an der Krebserkrankung ohnehin in spätestens vier Monaten gestorben wäre und der operative Eingriff nur wegen der infolge dieses Krebsleidens bestehenden Körperschwäche zu dem alsbaldigen Tod geführt hatte, kommt der Operation nicht die Bedeutung einer rechtlich wesentlichen Teilursache zu. Der Anspruch auf Hinterbliebenenentschädigung ist daher nicht begründet.

Im Unterschied hierzu wäre die Rechtslage anders zu beurteilen, wenn ein gleich Schwerkranker und vom Tode gezeichneter Versicherter durch einen Arbeitsunfall tödlich verletzt würde, ohne daß die Unfallschädigung und das unfallunabhängige Leiden gemeinsam den Tod bewirkt hätten, beispielsweise wenn der Unfall eine sofort tödlich wirkende Schädelzertrümmerung zur Folge gehabt hätte. In einem solchen Fall wäre die unfallfremde Krankheit, obwohl sie mit Sicherheit den Tod in überschaubarer Zeit herbeigeführt hätte, neben dem Unfallereignis, das in Wirklichkeit den Tod allein verursacht hätte, rechtlich bedeutungslos. Der Arbeitsunfall wäre bei diesen Gegebenheiten als die allein rechtlich wesentliche Ursache des Todes anzusehen.

Nach Lage des vorliegenden Streitfalles mußte das angefochtene Urteil aufgehoben und die Berufung gegen die erstinstanzliche Entscheidung zurückgewiesen werden.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI2380254

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