Orientierungssatz

Die nachträgliche Geltendmachung von Beitragsforderungen durch die Einzugsstelle kann nach dem auch für das öffentliche Recht gültigen Grundsatz von Treu und Glauben ausgeschlossen sein. Bei der hiernach gebotenen Interessenabwägung muß aber in der Rentenversicherung das Interesse des Versicherten an der Nachentrichtung der Beiträge, weil hiervon sein Leistungsanspruch abhängt, gegenüber den Nachteilen, die den beitragspflichtigen Arbeitgeber bei Nacherhebung der Beiträge treffen können, als ausschlaggebend angesehen werden (vergleiche BSG 1964-04-28 3 RK 9/60 = SozR RVO § 1399 Nr 5).

 

Verfahrensgang

LSG Nordrhein-Westfalen (Entscheidung vom 05.11.1963)

SG Detmold (Entscheidung vom 13.07.1961)

 

Tenor

Das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 5. November 1963 wird aufgehoben, soweit es die Nachforderung von Beiträgen zur Rentenversicherung der Arbeiter in den Bescheiden der Beklagten vom 12. Februar und 9. September 1958 betrifft.

Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Detmold vom 13. Juli 1961 wird zurückgewiesen, soweit sie die Nachforderung von Beiträgen zur Rentenversicherung der Arbeiter in den Bescheiden der Beklagten vom 12. Februar und 9. September 1958 betrifft.

Die Beteiligten haben einander außergerichtliche Kosten des zweiten und dritten Rechtszugs nicht zu erstatten.

Von Rechts wegen.

 

Gründe

Der beigeladene G G. war bei seinem Vater, einem Friseurmeister, seit vielen Jahren als Gehilfe beschäftigt. Bei einer Betriebsprüfung im Jahre 1952 war dem Vater G., dem jetzigen Kläger, mitgeteilt worden, sein Sonn Günter sei als "Meistersohn" versicherungsfrei. Am 1. Januar 1958 wurde Günter G. auf Grund eines Gesellschaftsvertrags Mitinhaber im väterlichen Unternehmen.

Anläßlich einer Kontrolle der Lohnbücher des Betriebes des Klägers am 31. Januar 1958 stellte die beklagte Krankenkasse fest, daß Günter G. für die Zeit vor dem 1. Januar 1958 nicht als versicherungspflichtig gemeldet worden war. Sie verlangte Nachzahlung der Beiträge zur Krankenversicherung und zur Rentenversicherung für das Jahr 1957 sowie der Beiträge zur Arbeitslosenversicherung für die Zeit vom 1. Januar bis 31. März 1957 (Bescheid vom 12. Februar 1958). Der Widerspruch des Klägers wurde zurückgewiesen (Bescheid vom 9. September 1958).

Mit der hiergegen gerichteten Aufhebungsklage machte der Kläger geltend, die Nachforderung der Beiträge verstoße gegen Treu und Glauben; er habe auf die Richtigkeit der Mitteilung der beklagten Krankenkasse im Jahre 1952 vertrauen dürfen.

Das Sozialgericht (SG) hat den Beitragsbescheid vom 12. Februar 1958 i. d. F. des Widerspruchsbescheids insoweit aufgehoben, als hierdurch die Nachzahlung von Beiträgen zur Krankenversicherung gefordert wurde, und im übrigen die Klage abgewiesen (Urteil vom 13. Juli 1961). Es ist davon ausgegangen, daß Günter G. im Jahre 1957 bei seinem Vater versicherungspflichtig beschäftigt gewesen sei. Gleichwohl verstoße die Nachforderung von Beiträgen zur Krankenversicherung für diese Zeit gegen Treu und Glauben, weil die beklagte Krankenkasse an ihren die Versicherungsfreiheit des Günter G. feststellenden Bescheid aus dem Jahre 1952 gebunden sei.

Auf die Berufung des Klägers hat das Landessozialgericht (LSG) durch Urteil vom 5. November 1963 den angefochtenen Beitragsbescheid in vollem Umfange - also auch bezüglich der Beiträge zur Rentenversicherung und zur Arbeitslosenversicherung - aufgehoben; die Revision wurde zugelassen. Was die Beiträge zur Arbeitslosenversicherung betrifft, so hatte die beigeladene Bundesanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung hierauf verzichtet. Die Nachforderung der Beiträge zur Rentenversicherung hielt das LSG nach dem Grundsatz von Treu und Gla ben für ausgeschlossen.

Gegen dieses Urteil hat die beigeladene Landesversicherungsanstalt (LVA) Revision eingelegt mit dem Antrag,

das angefochtene Urteil abzuändern und die Klage insoweit abzuweisen, als sie die Bescheide der Beklagten vom 12. Februar und 9. September 1958 wegen der Nachforderung von Beiträgen zur Rentenversicherung der Arbeiter betrifft.

Ihrer Auffassung nach kann die Verpflichtung zur Nachentrichtung nicht verjährter Beiträge zur Rentenversicherung nicht mit der Berufung auf den Grundsatz von Treu und Glauben ausgeräumt werden.

II

Der Senat konnte im vorliegenden Fall ohne mündliche Verhandlung entscheiden, da alle Beteiligten sich hiermit einverstanden erklärt haben (§ 124 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -). Daß mehrere Beteiligte, für die Vertretungszwang vor dem Bundessozialgericht (BSG) besteht (§ 166 Abs. 1 SGG), persönlich und nicht durch einen nach § 166 Abs. 2 SGG vor dem BSG zugelassenen Prozeßbevollmächtigten ihr Einverständnis mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung erklärt haben, tut der Wirksamkeit ihrer Einverständniserklärung keinen Abbruch (vgl. BSG, Urteil vom 25. Oktober 1962 - 4 RJ 85/60 in SozR SGG § 124 Bl. Da 3 Nr. 5).

Die Revision der beigeladenen LVA ist begründet. Zu Unrecht hat das LSG die Nachforderung der Beiträge für die Rentenversicherung der Arbeiter als unzulässig angesehen.

Zutreffend ist das LSG davon ausgegangen, daß Günter G. im Jahre 1957 - dem Zeitraum, für den die Beiträge zur Rentenversicherung nachgefordert werden - beim Kläger versicherungspflichtig beschäftigt war. Daß G G. als "Meistersohn" in der sicheren Erwartung späterer Betriebsübernahme tätig gewesen ist, läßt die nach den Merkmalen dieses Beschäftigungsverhältnisses klar gegebene Versicherungspflicht unberührt (BSG 3, 30).

Dessenungeachtet hält das LSG die Nachforderung der Beiträge zur Rentenversicherung für unzulässig, weil die beklagte Krankenkasse am 15. August 1952 - ausgehend von der damals herrschenden Auffassung, "Meistersohn" - Beschäftigungsverhältnisse seien versicherungsfrei - schriftlich erklärt hat, sie sehe Günter G. nicht als versicherungspflichtig beschäftigt an. Dieser Meinung kann nicht zugestimmt werden. Hierbei kann dahinstehen, ob die Erklärung vom 15. August 1952 als Verwaltungsakt anzusehen ist. Selbst wenn in diesem Schreiben ein Verwaltungsakt zu erblicken wäre, käme ihm nicht die Bindungswirkung nach § 77 SGG zu, da diese Vorschrift nur die nach Inkrafttreten des SGG - 1. Januar 1954 - ergangenen Verwaltungsakte erfaßt. Vor dem 1. Januar 1954 konnte bei Streit über die Versicherungspflicht und Beitragspflicht in der Krankenversicherung jederzeit das Versicherungsamt zur Entscheidung im Beschlußverfahren angerufen werden (§ 405 Abs. 2 der Reichsversicherungsordnung a. F.).

Ist demnach § 77 SGG im vorliegenden Fall auch unanwendbar, so kann dennoch, wie der erkennende Senat in seiner Entscheidung vom 28. April 1964 (SozR RVO § 1399 Bl. Aa 6 Nr. 5) näher dargelegt hat, die nachträgliche Geltendmachung von Beitragsforderungen durch die Einzugsstelle nach dem auch für das öffentliche Recht gültigen Grundsatz von Treu und Glauben ausgeschlossen sein. Bei der hiernach gebotenen Interessenabwägung muß aber in der Rentenversicherung das Interesse des Versicherten an der Nachentrichtung der Beiträge, weil hiervon sein Leistungsanspruch abhängt, gegenüber den Nachteilen, die den beitragspflichtigen Arbeitgeber bei Nacherhebung der Beiträge treffen können, als ausschlaggebend angesehen werden (vgl. die oben angeführte Entscheidung).

Demnach besteht der angefochtene Beitragsbescheid der beklagten Krankenkasse zu Recht, soweit er die Beiträge zur Rentenversicherung betrifft. Insoweit war daher das angefochtene Urteil aufzuheben und das Urteil des SG wiederherzustellen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs. 1 und 4 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI2380530

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