Leitsatz (redaktionell)

1. Eine Nacherhebung von Rentenversicherungsbeiträgen ist auch dann nicht unzulässig, wenn die KK früher die Versicherungspflicht ausdrücklich verneint hat.

2. Verwaltungsakte iS von SGG § 77 sind nicht die Bescheide der Versicherungsträger, die vor Inkrafttreten des SGG (1954-01-01) ergangen sind.

Die Aufnahme eines Beschäftigten als freiwilliges Mitglied ist kein Verwaltungsakt der KK, der die Bindungswirkung des SGG § 77 zur Folge haben könnte.

Auch die Nichtbeanstandung der unterbliebenen Beitragsentrichtung bei Betriebsprüfungen (RVO § 318a) ist kein Verwaltungsakt iS von SGG § 77.

 

Normenkette

RVO § 318a Abs. 1 Fassung: 1924-12-15; SGG § 77 Fassung: 1953-09-03

 

Tenor

Die Urteile des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 9. Juli 1963 und des Sozialgerichts Düsseldorf vom 28. April 1959 werden aufgehoben, soweit sie die Nachforderung von Beiträgen zur Rentenversicherung der Arbeiter in den Bescheiden der Beklagten vom 10. und 20. September 1958 sowie dem 4. März 1959 betreffen.

Die Klage wird abgewiesen, soweit sie die Nachforderung von Beiträgen zur Rentenversicherung der Arbeiter in den Bescheiden der Beklagten vom 10. und 20. September 1958 sowie dem 4. März 1959 betrifft.

Die Beteiligten haben einander außergerichtliche Kosten des Rechtsstreits nicht zu erstatten.

Von Rechts wegen.

I

 

Gründe

Der beigeladene Bernhard P. ist bei seinem Vater, einem Goldschmied und Inhaber einer Werkstätte für kirchliche Goldschmiedekunst, seit Jahren als Gehilfe beschäftigt. Er erhält für seine Tätigkeit eine laufende Vergütung, für die Lohnsteuer entrichtet wird. Seit dem 1. September 1958 führt der Kläger für seinen Sohn Bernhard Beiträge zur Krankenversicherung und Rentenversicherung der Arbeiter ab.

Die beklagte Krankenkasse stellte im September 1958 fest, daß der Kläger für die Zeit vor dem 1. September 1958 keine Beiträge zur Sozialversicherung für seinen Sohn entrichtet hat, und forderte vom Kläger die Nachentrichtung der Sozialversicherungsbeiträge für die Zeit vom 1. Oktober 1956 bis zum 31. August 1958 in Höhe von 1807,84 DM (Bescheide vom 10. und 20. September 1958). Der Widerspruch des Klägers hatte keinen Erfolg (Bescheid der Widerspruchsstelle der beklagten Krankenkasse vom 4. März 1958).

Mit der hiergegen gerichteten Aufhebungsklage machte der Kläger geltend, der Leiter der Nebenstelle der Beklagten in Kevelaer habe seiner Ehefrau im Jahre 1947 die Auskunft erteilt, daß für den Beigeladenen P. als Meistersohn keine Versicherungspflicht bestehe. Sein Sohn sei dementsprechend der Beklagten im Jahre 1954 als freiwilliges Mitglied beigetreten. Auch bei mehreren Betriebsprüfungen, zuletzt am 19. November 1957, sei die Nichtabführung von Pflichtbeiträgen unbeanstandet geblieben. Von einer Änderung der Rechtsprechung zur Frage der Versicherungspflicht von Meistersöhnen habe er erstmalig im September 1958 Kenntnis erhalten. Die Nachforderung für die Zeit vor dem 1. September 1958 verstoße hiernach gegen Treu und Glauben.

Die beklagte Krankenkasse hat vorgetragen, sie habe im Januar 1957 in einem Rundschreiben an die Handwerksbetriebe der Kreishandwerkerschaft Geldern auf die Versicherungspflicht der sogenannten Meistersöhne nach dem Urteil des Bundessozialgerichts vom 5. April 1956 hingewiesen. Es sei deshalb davon auszugehen, daß der Kläger über die Versicherungspflicht seines Sohnes unterrichtet gewesen sei. Die Nachforderung der Versicherungsbeiträge für die Zeit ab 1. Oktober 1956 (hinsichtlich der Krankenversicherung unter Anrechnung der gezahlten freiwilligen Beiträge) sei deshalb rechtmäßig.

Das Sozialgericht (SG) hat die angefochtenen Bescheide der beklagten Krankenkasse aufgehoben (Urteil vom 28. April 1959). Das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufungen der beklagten Krankenkasse und der beigeladenen Landesversicherungsanstalt (LVA) zurückgewiesen; die Revision wurde zugelassen (Urteil vom 9. Juli 1963). Das LSG hat die Nachforderung der Beiträge zur Sozialversicherung nach dem Grundsatz von Treu und Glauben für ausgeschlossen erachtet.

Gegen dieses Urteil hat die beigeladene LVA Revision eingelegt mit dem Antrag,

das angefochtene Urteil sowie das Urteil des SG aufzuheben und die Klage insoweit abzuweisen, als sie die Bescheide der Beklagten vom 10. und 20. September 1958 sowie vom 4. März 1959 wegen der Nachforderung von Beiträgen zur Rentenversicherung der Arbeiter betrifft.

Ihrer Auffassung nach kann die Verpflichtung zur Nachentrichtung nicht verjährter Beiträge zur Rentenversicherung nicht mit der Berufung auf den Grundsatz von Treu und Glauben ausgeräumt werden.

II

Der Senat konnte im vorliegenden Fall ohne mündliche Verhandlung entscheiden, da alle Beteiligten sich hiermit einverstanden erklärt haben (§ 124 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -).

Die Revision der beigeladenen LVA ist begründet. Zu Unrecht hat das LSG auch die Nachforderung der Beiträge zur Rentenversicherung der Arbeiter - die allein noch umstritten ist - als unzulässig angesehen.

Zutreffend ist das LSG davon ausgegangen, daß Bernhard P. in der Zeit, für die die Beiträge zur Rentenversicherung nachgefordert werden, beim Kläger versicherungspflichtig beschäftigt war. Daß Bernhard P. als "Meistersohn" in der sicheren Erwartung späterer Betriebsübernahme tätig gewesen ist, läßt die nach den Merkmalen dieses Beschäftigungsverhältnisses klar gegebene Versicherungspflicht unberührt (BSG 3, 30).

Dessen ungeachtet hält das LSG die Nachforderung der Beiträge zur Rentenversicherung für unzulässig, weil die beklagte Krankenkasse im Jahre 1946 oder 1947 - ausgehend von der damals herrschenden Auffassung, "Meistersohn" - Beschäftigungsverhältnisse seien versicherungsfrei - ausdrücklich erklärt habe, sie sehe Bernhard P. nicht als versicherungspflichtig beschäftigt an, und diese Auffassung in der Folgezeit - durch Aufnahme des Bernhard P. als freiwilligen Mitglieds in der Krankenversicherung zum 1. Februar 1954 und durch Unterlassung von Beanstandungen bei Betriebsprüfungen in den Jahren 1954 und 1957 - bestätigt habe. Dieser Meinung kann nicht zugestimmt werden. Hierbei kann dahinstehen, ob die Erklärung vom Jahre 1946 oder 1947 als Verwaltungsakt anzusehen ist. Selbst wenn hierin ein Verwaltungsakt zu erblicken wäre, käme ihr nicht die Bindungswirkung nach § 77 SGG zu, da diese Vorschrift nur die nach Inkrafttreten des SGG - 1. Januar 1954 - ergangenen Verwaltungsakte erfaßt. Vor dem 1. Januar 1954 konnte bei Streit über die Versicherungspflicht und Beitragspflicht in der Krankenversicherung jederzeit das Versicherungsamt zur Entscheidung im Beschlußverfahren angerufen werden (§ 405 Abs. 2 der Reichsversicherungsordnung aF). Ebensowenig kann in der Aufnahme des Bernhard P. als freiwilligen Mitglieds der Krankenkasse und in der Nichtbeanstandung anläßlich der Betriebsprüfungen 1954 und 1957 ein die Versicherungs- und Beitragsfreiheit des Bernhard P. feststellender Verwaltungsakt erblickt werden.

Ist demnach § 77 SGG im vorliegenden Fall auch unanwendbar, so kann dennoch, wie der erkennende Senat in seiner Entscheidung vom 28. April 1964 (SozR RVO § 1399 Bl. Aa 6 Nr. 5) näher dargelegt hat, die nachträgliche Geltendmachung von Beitragsforderungen durch die Einzugsstelle nach dem auch für das öffentliche Recht gültigen Grundsatz von Treu und Glauben ausgeschlossen sein. Bei der hiernach gebotenen Interessenabwägung muß aber in der Rentenversicherung das Interesse des Versicherten an der Nachentrichtung der Beiträge, weil hiervon sein Leistungsanspruch abhängt, gegenüber den Nachteilen, die den beitragspflichtigen Arbeitgeber bei der Nacherhebung der Beiträge treffen können, als ausschlaggebend angesehen werden (vgl. die oben angeführte Entscheidung).

Demnach besteht der angefochtene Beitragsbescheid der beklagten Krankenkasse zu Recht, soweit er die Beiträge zur Rentenversicherung betrifft. Insoweit waren daher das angefochtene Urteil und das Urteil des SG aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs. 1 und 4 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI2290820

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