Leitsatz (amtlich)

Als späterer, den Anspruch auf eine "kleine Rente" (RVO § 581 Abs 3) stützender Arbeitsunfall kommt nur ein nach deutschen Rechtsvorschriften zu beurteilender und von einem deutschen Träger der gesetzlichen Unfallversicherung zu entschädigender Arbeitsunfall in Betracht.

 

Normenkette

RVO § 581 Abs. 3 S. 1 Fassung: 1963-04-30; EWGV 3 Art. 30 Abs. 1 Fassung: 1958-09-25; EWGV 1408/71 Art. 61 Abs. 5 Fassung: 1971-06-14

 

Verfahrensgang

EuGH (Entscheidung vom 29.05.1979; Aktenzeichen 173/78)

BSG (EuGH-Vorlage vom 27.06.1978; Aktenzeichen 2 RU 3/76)

Bayerisches LSG (Entscheidung vom 28.10.1975; Aktenzeichen L 3 U 133/75)

SG München (Entscheidung vom 10.03.1975; Aktenzeichen S 20 U 551/74)

 

Tenor

Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 28. Oktober 1975 wird zurückgewiesen.

Kosten sind nicht zu erstatten.

 

Tatbestand

Der Kläger ist Staatsangehöriger der Italienischen Republik und wohnt in Italien. Wegen der Folgen eines am 14. September 1942 in einem jetzt zur Bundesrepublik Deutschland gehörenden Gebiet des Deutschen Reiches erlittenen Arbeitsunfalls gewährte die Beklagte dem Kläger eine Verletztenrente, die sie mit Ablauf des Monats Dezember 1955 entzog, weil die Erwerbsfähigkeit des Klägers durch Unfallfolgen nur noch um 15 vH gemindert war (Bescheid vom 11. November 1955). Am 5. April 1966 erlitt der Kläger in Italien einen weiteren Arbeitsunfall. Er bezieht deswegen vom Instituto nazionale per l'assicurazione contro gli infortuni sul lavoro (INAIL), Geschäftsstelle T, Rente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von 14 vH (Bescheid vom 9. April 1968).

Am 14. Februar 1973 beantragte der Kläger bei der Beklagten die Wiedergewährung einer Rente wegen der Folgen des Unfalls vom 14. September 1942. In dem von der Beklagten eingeholten Gutachten des Prof. Dr. M in S vom 31. Juli 1973 wurde die MdE wegen der Folgen des Unfalls vom 14. September 1942 auf 15 vH geschätzt. Durch Bescheid vom 17. Mai 1974 lehnte die Beklagte eine Wiedergewährung der Rente ab. Die Rente, die aus Anlaß des am 5. April 1966 in Italien erlittenen Unfalls vom INAIL in T gewährt werde, könne nicht nach § 581 Abs 3 der Reichsversicherungsordnung (RVO) eine Rente wegen des Unfalls vom 14. September 1942 stützen. Nach Art 61 Abs 5 der EWG-VO Nr 1408/71 und der Durchführungsbestimmungen des Art 72 der EWG-VO Nr 574/72, die gegenüber dem § 581 Abs 3 RVO Vorrang hätten, sei eine solche Stützung ausgeschlossen.

Das Sozialgericht (SG) München hat die Beklagte verurteilt, dem Kläger für die im Bescheid vom 17. Mai 1974 genannten Leiden ab 1. Februar 1973 Rente nach einer MdE von 15 vH zu gewähren (Urteil vom 10. März 1975). Auf die Berufung der Beklagten hat das Bayerische Landessozialgericht (LSG) das erstinstanzliche Urteil aufgehoben und die Klage abgewiesen (Urteil vom 28. Oktober 1975). Zur Begründung hat das LSG ausgeführt: Der Kläger habe keinen Anspruch auf eine Rente für die Folgen des im Jahre 1942 erlittenen Arbeitsunfalls nach § 581 Abs 3 RVO. Art 61 Abs 5 der EWG-VO Nr 1408/71 gebiete nur, daß der Träger der gesetzlichen Unfallversicherung eines Mitgliedstaates, dessen nationales Recht die Berücksichtigung früher eingetretener Arbeitsunfälle bei der Bemessung des Grades der MdE vorsehe, früher in einem anderen Mitgliedstaat eingetretene Arbeitsunfälle so zu berücksichtigen habe, als ob sie unter den für ihn geltenden Rechtsvorschriften eingetreten seien. Die Berücksichtigung späterer Arbeitsunfälle sei nicht vorgesehen. Bei dieser Vorschrift handele es sich um eine Ausnahmeregelung, die grundsätzlich keiner extensiven Auslegung zugänglich sei. Allenfalls könne der italienische Versicherungsträger verpflichtet sein, die Folgen des im Jahre 1942 erlittenen Arbeitsunfalls bei der Entschädigung des Arbeitsunfalls vom 5. April 1966 zu berücksichtigen. Darauf, ob das hier einschlägige Recht der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) auf das vor Inkrafttreten des § 581 Abs 3 RVO geltende Recht abgestellt sei, komme es nicht an.

Das LSG hat die Revision zugelassen.

Der Kläger hat dieses Rechtsmittel eingelegt und wie folgt begründet: Nach § 581 Abs 3 RVO komme es nicht auf die zeitliche Reihenfolge der einzelnen Arbeitsunfälle an. Diese Rechtslage werde durch Art 61 Abs 5 EWG-VO Nr 1408/71 nicht geändert. Diese Vorschrift solle nur sicherstellen, daß bei der Bemessung der MdE ein früher eingetretener Arbeitsunfall nicht außer Betracht bleibe. Der geltend gemachte Anspruch müsse aus dem Sinn und Zweck der Gemeinschaftsnorm abgeleitet werden. Es widerspräche dem in Art 3 EWG-VO Nr 1408/71 niedergelegten Gleichbehandlungsgebot, wenn der Anspruch auf Rente davon abhänge, wann und wo sich der Arbeitsunfall ereignet habe.

Der Kläger beantragt,

das Urteil des Bayerischen LSG vom 28. Oktober 1975 aufzuheben und die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des SG München vom 10. März 1975 zurückzuweisen.

Die Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Sie trägt vor, daß es sich bei Art 61 Abs 5 EWG-VO Nr 1408/71 um eine Zuständigkeitsregelung für die Berücksichtigung der Folgen früherer Unfälle handele. Danach sei im vorliegenden Fall der italienische Versicherungsträger für die Rentengewährung aus dem im Jahre 1942 erlittenen Unfall zuständig.

Durch Beschluß vom 27. Juni 1978 hat der Senat die Verhandlung ausgesetzt und dem Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften (EuGH) gemäß Art 177 des Vertrages zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG-Vertrag) vom 25. März 1957 (BGBl II 766) zur Vorabentscheidung folgende Frage vorgelegt: Hat der beklagte deutsche Versicherungsträger nach Art 30 Abs 1 der Verordnung Nr 3 des Rates der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und nach Art 61 Abs 5 der Verordnung (EWG) Nr 1408/71 des Rates der Europäischen Gemeinschaften zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und deren Familien, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern, den in Italien später eingetretenen Arbeitsunfall des Klägers zu berücksichtigen, als ob er unter deutschen Rechtsvorschriften eingetreten wäre, wenn die Gewährung einer Rente an den Kläger aus einem früheren nach deutschen Rechtsvorschriften eingetretenen Arbeitsunfall davon abhängt, daß die Hundertsätze der durch beide Arbeitsunfälle verursachten Minderung der Erwerbsfähigkeit wenigstens die Zahl 20 erreichen (§ 581 Abs 3 Satz 1 der Reichsversicherungsordnung)? Durch Urteil vom 29. Mai 1979 (174/78) hat der EuGH für Recht erkannt: Art 30 Abs 1 der VO Nr 3 und Art 61 Abs 5 der VO Nr 1408/71 verpflichten den zuständigen Träger eines Mitgliedstaates nicht, später nach den Rechtsvorschriften eines anderen Mitgliedstaats eingetretene Unfälle oder Krankheiten zu berücksichtigen, als ob sie unter den Rechtsvorschriften des ersteren Mitgliedstaates eingetreten wären.

 

Entscheidungsgründe

Der Senat konnte ohne mündliche Verhandlung entscheiden, weil die Beteiligten sich damit einverstanden erklärt haben (§ 124 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -).

Die Revision des Klägers ist nicht begründet.

Der Kläger hat keinen Anspruch auf Rente für die Folgen des Arbeitsunfalls vom 14. September 1942.

Nach § 581 Abs 1 Nr 2 RVO setzt die Gewährung einer Verletztenrente voraus, daß der Verletzte infolge des Arbeitsunfalls um mindestens 20 vH in seiner Erwerbsfähigkeit gemindert ist. Der Kläger hat im bisherigen Streitverfahren nicht bestritten, daß er durch die Folgen des Arbeitsunfalls vom 14. September 1942 um nicht mehr als 15 vH in seiner Erwerbsfähigkeit gemindert ist. Er gründet seinen Anspruch auf Rente auch ausschließlich darauf, daß er infolge eines am 5. April 1966 in Italien eingetretenen weiteren Arbeitsunfalls um 14 vH erwerbsgemindert ist.

Nach § 581 Abs 3 Satz 1 RVO erhält ein Verletzter, dessen Erwerbsfähigkeit infolge mehrerer Arbeitsunfälle gemindert ist, für jeden, auch einen früheren Arbeitsunfall Verletztenrente, wenn die Hundertsätze der durch die einzelnen Arbeitsunfälle verursachten MdE zusammen wenigstens die Zahl 20 erreichen. Die Folgen eines Arbeitsunfalls sind nach § 581 Abs 3 Satz 2 RVO nur dann zu berücksichtigen, wenn sie die Erwerbsfähigkeit um wenigstens 10 vH mindern.

Sofern der Kläger nach dem ersten Arbeitsunfall später einen zweiten nach deutschen Rechtsvorschriften zu entschädigenden Arbeitsunfall erlitten hätte und seine Erwerbsfähigkeit durch jeden dieser Arbeitsunfälle um mindestens 10 vH gemindert wäre, würde er nach § 581 Abs 3 Satz 1 RVO Anspruch auf Gewährung von Verletztenrente für beide Unfälle jeweils nach einer MdE von 10 vH haben. Ein nicht nach deutschen Rechtsvorschriften zu entschädigender Arbeitsunfall - hier der nach italienischen Rechtsvorschriften zu entschädigende spätere Arbeitsunfall vom 5. April 1966 - vermag den Anspruch des Klägers auf eine Rente für die Folgen des ersten Arbeitsunfalls vom 14. September 1942 jedoch nicht zu begründen.

Das frühere Reichsversicherungsamt (RVA) hat in einer die Grundsätze zum Recht der kleinen Rente betreffenden Entscheidung vom 5. April 1939 (AN 1939, 190) keine Zweifel daran gehabt, daß als andere für die Erreichung der Zahl 20 beitragende Unfälle nur nach der RVO versicherte Unfälle in Frage kommen. Dieser Auffassung stimmt der erkennende Senat zu.

Der in § 581 RVO verwendete Begriff "Arbeitsunfall" ist in § 548 RVO als ein Unfall definiert, den ein nach deutschen Rechtsvorschriften Versicherter bei Tätigkeiten erleidet, die in den §§ 539, 540 und 543 bis 545 RVO genannt sind. Unfälle, die nach den Rechtsvorschriften eines anderen Staates als Arbeitsunfälle gewertet werden, fallen nicht darunter. Das schließt nicht aus, daß einzelne tatbestandsmäßige Voraussetzungen des Anspruchs auf Unfallentschädigung auch im Ausland verwirklicht werden können (vgl Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 9. Aufl, S 474 a - Hilfeleistung im Ausland; S 486 k - Wegeunfall im Ausland; S 574 e - Arbeitseinkommen im Ausland). Jedoch muß es sich um einen nach deutschen Rechtsvorschriften zu beurteilenden Anspruch handeln, für dessen Erfüllung ein deutscher Träger der gesetzlichen Unfallversicherung zuständig ist. Die Definition des Begriffs "Arbeitsunfall" gilt gleichermaßen für alle in § 581 Abs 3 Satz 1 und 2 RVO genannten Arbeitsunfälle, sowohl für denjenigen, für den ein Anspruch auf eine kleine Rente geltend gemacht wird, als auch für den schon entschädigten - früheren oder späteren - Arbeitsunfall, der den Anspruch auf die kleine Rente stützen soll. Auch die in § 581 Abs 3 Satz 3 RVO normierte Gleichstellung der Arbeitsunfälle mit Unfällen und Entschädigungsfällen nach einer Reihe von deutschen Gesetzen, die Entschädigung für Unfälle oder Beschädigungen gewähren, deutet darauf hin, daß § 581 RVO insgesamt nur auf Tatbestände anzuwenden ist, die nach deutschen Rechtsvorschriften zu beurteilen sind. Der vom Kläger am 5. April 1966 in Italien erlittene und vom INAIL entschädigte Arbeitsunfall kann somit nicht nach § 581 Abs 3 Satz 1 RVO einen Anspruch des Klägers auf eine kleine Rente für die Folgen des früher von der Beklagten entschädigten Arbeitsunfalls vom 14. September 1942 stützen, der die Erwerbsfähigkeit des Klägers noch um 15 vH mindert.

Ein Anspruch auf eine kleine Rente steht dem Kläger aber auch nicht aufgrund von Rechtsvorschriften der EWG zu. Nach Art 30 Abs 1 der Verordnung Nr 3 des Rates der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft vom 25. September 1958 - EWG-VO Nr 3 - (Amtsbl der Europ. Gemeinschaften vom 16. Dezember 1958 S 561), der vom 1. Januar 1959 bis zum 30. September 1972 in Kraft war, und nach Art 61 Abs 5 der Verordnung (EWG) Nr 1408/71 des Rates der Europäischen Gemeinschaften vom 14. Juni 1971 zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und deren Familien, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern - EWG-VO Nr 1408/71 - (Amtsbl der Europ. Gemeinschaften Nr L 149 vom 5. Juli 1971 S 2), der am 1. Oktober 1972 in Kraft getreten ist, berücksichtigt der zuständige Träger eines Mitgliedstaats, in dessen Rechtsvorschriften ausdrücklich oder stillschweigend vorgesehen ist, daß bei der Bemessung des Grades der Erwerbsminderung früher eingetretene oder festgestellte Arbeitsunfälle oder Berufskrankheiten zu berücksichtigen sind, auch die früher nach den Rechtsvorschriften eines anderen Mitgliedstaats eingetretenen oder festgestellten Arbeitsunfälle oder Berufskrankheiten, als wenn sie unter den für ihn geltenden Rechtsvorschriften eingetreten oder festgestellt worden wären. Der EuGH hat durch Urteil vom 29. Mai 1979 entschieden, daß diese Vorschriften den zuständigen Träger eines Mitgliedstaats nicht verpflichten, später nach den Rechtsvorschriften eines anderen Mitgliedstaats eingetretene Unfälle und Krankheiten zu berücksichtigen, als ob sie unter den Rechtsvorschriften des ersteren Mitgliedstaats eingetreten wären. Der erkennende Senat ist an diese Entscheidung des EuGH gebunden (Groeben/Boeckh/Thiesing, Kommentar zum EWG-Vertrag, Art 177 Anm V). Damit scheidet die Berücksichtigung des am 5. April 1966 in Italien erlittenen Unfalls zur Stützung einer kleinen Rente für die Folgen des ersten Unfalls vom 14. September 1942 auch nach dem Recht der EWG aus.

Die Revision des Klägers mußte daher zurückgewiesen werden.

 

Fundstellen

Haufe-Index 1658297

BSGE, 92

Dieser Inhalt ist unter anderem im Deutsches Anwalt Office Premium enthalten. Sie wollen mehr?