Leitsatz (amtlich)
Gegen die in Art 2 § 14b Abs 2 ArVNG idF des Art 5 Nr 2 RAG 1985 bestimmte Rückwirkung des § 1260c Abs 2 RVO idF des Art 2 Nr 4 RAG 1985 auf vor dem 1.1.1983 eingetretene Versicherungsfälle bestehen keine verfassungsrechtlichen Bedenken.
Normenkette
ArVNG Art 2 § 14b Abs 2 Fassung: 1985-06-05; RVO § 1260c Abs 2 Fassung: 1985-06-05; GG Art 20 Abs 3
Verfahrensgang
LSG Hamburg (Entscheidung vom 30.10.1984; Aktenzeichen I JBf 10/82) |
SG Hamburg (Entscheidung vom 26.11.1981; Aktenzeichen 17 J 690/80) |
Tatbestand
Streitig ist zwischen den Beteiligten die Berücksichtigung einer Ersatzzeit vom 1. Januar 1940 bis zum 8. Mai 1945.
Vom 15. Oktober 1936 bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges gehörte der Kläger der SS Verfügungstruppe Leibstandarte Adolf Hitler an. Ab 1. Januar 1940 war er als Fahrer eines Standartenführers mit dem 1. Panzergrenadier-Regiment an der West- und Ostfront eingesetzt. Im Rahmen der Klärung des Versicherungsverlaufs lehnte die Beklagte es mit Bescheid vom 23. Mai 1980 ab, die Zeit vom 1. Januar 1940 bis zum 8. Mai 1945 als Ersatzzeit anzuerkennen, weil der Kläger zur fiktiven Nachversicherung berechtigt sei. Der dagegen gerichtete Widerspruch des Klägers hatte keinen Erfolg (Widerspruchsbescheid vom 31. Juli 1980).
Im Laufe des erstinstanzlichen Verfahrens bewilligte die Beklagte dem Kläger mit Bescheid vom 14. April 1981 flexibles Altersruhegeld ab 1. April 1981 ohne die streitige Ersatzzeit anzurechnen. Das Sozialgericht (SG) hat die Beklagte verurteilt, die Zeit der Zugehörigkeit des Klägers zur Waffen-SS vom 1. Januar 1940 bis zum 8. Mai 1945 als Ersatzzeit anzuerkennen (Urteil vom 26. November 1981). Auf die Berufung der Beklagten hat das Landessozialgericht (LSG) diese Entscheidung des SG aufgehoben und die Klage abgewiesen (Urteil vom 30. Oktober 1984). Es hat ausgeführt, die Voraussetzungen für die Anerkennung der streitigen Zeit als Ersatzzeit nach § 1251 Abs 1 Nr 1 der Reichsversicherungsordnung (RVO) seien erfüllt, denn der Kläger habe damals militärischen Dienst im Sinne von § 2 des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) geleistet. Einer Anrechnung der Ersatzzeit stehe jedoch § 1260c Abs 2 RVO entgegen, weil eine Nachversicherung insoweit "möglich" sei.
Der Kläger hat dieses Urteil mit der vom LSG zugelassenen Revision angefochten. Er rügt eine Verletzung des § 1260c Abs 2 RVO.
Der Kläger beantragt, das angefochtene Urteil des LSG Hamburg vom 30. Oktober 1984 aufzuheben und die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des SG Hamburg vom 26. November 1981 zurückzuweisen.
Die Beklagte beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Sie hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend.
Entscheidungsgründe
Die zulässige Revision des Klägers ist insoweit begründet, als der Rechtsstreit wegen noch für die abschließende Entscheidung erforderlicher Feststellungen an das LSG zurückverwiesen werden muß.
Die Zeit vom 1. Januar 1940 bis zum 8. Mai 1945, in der der Kläger unstreitig militärischen Dienst im Sinne des § 1251 Abs 1 Nr 1 RVO iVm § 2 Abs 1 Buchst a BVG während des Krieges geleistet hat, kann nicht als Ersatzzeit bei der Rentenberechnung berücksichtigt werden, wenn die Voraussetzungen des § 1260c Abs 2 RVO in der durch Art 2 Nr 4 des Gesetzes über die Anpassung der Renten der gesetzlichen Rentenversicherung und der Geldleistungen der gesetzlichen Unfallversicherung im Jahre 1985 (RAG 1985) vom 5. Juni 1985 (BGBl I 913) geänderten Fassung (nF) erfüllt sind. Danach werden Ersatzzeiten nicht berücksichtigt, soweit für dieselbe Zeit eine Nachversicherung nur wegen eines fehlenden Antrages des Versicherten nicht durchgeführt ist. In diesen Fällen ist der Träger der Rentenversicherung berechtigt, die Voraussetzungen für die Nachversicherung festzustellen.
Gemäß Art 11 RAG 1985 ist dessen Art 2 am 1. Juli 1985, also erst nach Erlaß des angefochtenen Urteils in Kraft getreten. Dennoch ist die Neufassung des § 1260c RVO vom erkennenden Senat im Revisionsverfahren zu beachten, denn sie erfaßt das Streitverhältnis, über das hier zu entscheiden ist (vgl Urteil des Senats vom 28. März 1984 in SozR 2200 § 1260c Nr 12; Urteil des 5a Senats vom 27. März 1984 in SozR 2200 § 1276 Nr 8). § 1260c Abs 2 RVO nF gilt nämlich nach Art 2 § 14b Abs 2 des Arbeiterrentenversicherungs-Neuregelungsgesetzes (ArVNG) idF des Art 5 Nr 2 RAG 1985 auch für Versicherungsfälle vor dem 1. Januar 1983, es sei denn, über einen Anspruch ist eine nicht mehr anfechtbare Entscheidung getroffen worden. Letztere ist hier im Hinblick auf den vorliegenden Rechtsstreit weder zu der vom Kläger begehrten und von der Beklagten mit Bescheid vom 23. Mai 1980 abgelehnten Vormerkung der Ersatzzeit noch zur Höhe des ihm mit Bescheid vom 14. April 1981 ab 1. April 1981 gewährten flexiblen Altersruhegeldes ergangen. Bei der Berechnung dieser Rente ist die streitige Ersatzzeit ebenfalls nicht berücksichtigt worden.
Die vom Gesetzgeber gewollte Rückwirkung des § 1260c Abs 2 RVO nF ist nicht zu beanstanden. Das ergibt sich aus der Rechtsentwicklung. § 1260c RV0 ist durch Art 19 Nr 33 des Gesetzes zur Wiederbelebung der Wirtschaft und Beschäftigung und zur Entlastung des Bundeshaushalts (Haushaltsbegleitgesetz 1983) vom 20. Dezember 1982 (BGBl I 1857) in die RVO eingefügt worden und am 1. Januar 1983 in Kraft getreten (Art 38 Abs 1 Haushaltsbegleitgesetz 1983). Die Vorschrift sollte schon nach Art 2 § 14b ArVNG idF des Art 22 Nr 4 Haushaltsbegleitgesetz 1983 auch für Versicherungsfälle vor dem 1. Januar 1983 gelten, es sei denn, über einen Anspruch ist eine nicht mehr anfechtbare Entscheidung getroffen worden. § 1260c Abs 2 RVO in der vor dem 1. Juli 1985 geltenden Fassung (aF) hatte folgenden Wortlaut: "Ersatzzeiten, Ausfallzeiten und die Zurechnungszeit werden nicht berücksichtigt, soweit für dieselbe Zeit eine Nachversicherung möglich ist." Der 1. Senat des Bundessozialgerichts (BSG) und der erkennende Senat haben jene Vorschrift dahingehend ausgelegt, daß sie der Berücksichtigung einer Ersatzzeit nicht entgegensteht, solange eine Entscheidung der zuständigen Verwaltungsdienststelle über die Erfüllung der entsprechenden dienstrechtlichen Voraussetzungen nicht ergangen ist (Urteil des 1. Senats vom 16. Februar 1984 in SozR 2200 § 1260c Nr 11 und Urteil des erkennenden Senats vom 28. März 1984 aaO). Erst wenn die sogenannte Nachversicherungsbescheinigung der zuständigen Versorgungsdienststelle vorliege sei eine Nachversicherung im Sinne des § 1260c Abs 2 RVO aF "möglich".
Die durch das RAG 1985 erfolgte Änderung des § 1260c Abs 2 RVO ist als Reaktion des Gesetzgebers auf die angeführte Rechtsprechung des BSG zu verstehen. Nun hat er deutlich zum Ausdruck gebracht, daß die Träger der Rentenversicherung berechtigt sind, die Voraussetzungen für die Nachversicherung selbst festzustellen. Dazu heißt es in der Begründung des Entwurfs zum RAG 1985 (BT-Drucks 10/2705) zu § 1260c RVO, die bisherige Fassung der Vorschrift habe zu Problemen bei der Rechtsanwendung geführt. Die Neufassung diene der Beseitigung von Auslegungsschwierigkeiten durch eine authentische Interpretation der Vorschrift mit ausschließlich klarstellendem Charakter durch den Gesetzgeber. Verdeutlicht werde das schon mit dem auch durch die bisherige Fassung des § 1260c Abs 2 RVO verfolgten Ziel, Ersatzzeiten nicht anzurechnen, soweit diese Zeiten bei Durchführung einer Nachversicherung Pflichtbeitragszeiten sein könnten. Diese Verdeutlichung sei im Hinblick auf die Rechtsprechung des BSG angezeigt. Fehle lediglich der Antrag des Versicherten zur Durchführung der Nachversicherung, lägen aber die sonstigen Voraussetzungen dafür vor, werde diese Zeit nicht als Ersatzzeit berücksichtigt. Die Entscheidung des Rentenversicherungsträgers, daß die Voraussetzung für eine Nachversicherung vorläge, stehe einer späteren Entscheidung der zuständigen Versorgungsbehörde aufgrund eines entsprechenden Antrags des Versicherten nicht entgegen. In der Begründung des Entwurfs zu Art 2 § 14b ArVNG wird betont, die Neufassung des § 1260c RVO solle im Hinblick auf ihre klarstellende Bedeutung auch für bereits eingetretene Versicherungsfälle gelten, wenn nicht bereits eine nicht mehr anfechtbare Entscheidung getroffen sei.
Die rückwirkende Anwendung des § 1260c Abs 2 RVO nF verstößt nicht gegen das dem Rechtsstaatsprinzip zu entnehmende Gebot des Vertrauensschutzes. Ausgenommen von der Rückwirkung hat der Gesetzgeber selbst diejenigen Fälle, in denen über einen Anspruch bereits eine nicht mehr anfechtbare Entscheidung getroffen und damit ein Vertrauensschutz begründet worden ist, auf den die Beteiligten sich einrichten durften. Außerdem sind hier die Voraussetzungen erfüllt, unter denen das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) ausnahmsweise echte Rückwirkungen von Gesetzen zuläßt. So steht dem Gesetzgeber bei verworrener oder zumindest unklarer Rechtslage die Befugnis zu, für in der Vergangenheit liegende Tatbestände eine zurückwirkende geänderte Rechtsfolge zu statuieren (vgl Urteil des 5a Senats vom 27. März 1984 aaO mwN aus der Rechtsprechung des BVerfG). Deshalb bestehen keine verfassungsrechtlichen Bedenken gegen eine Anwendung des § 1260c Abs 2 RVO nF im Falle des Klägers. Im übrigen ist bereits in der Entscheidung des 1. Senats vom 16. Februar 1984 (aaO) ausgeführt worden, es werde nicht verkannt, daß das damalige Ergebnis des BSG den mit der Einfügung des § 1260c Abs 2 RVO verfolgten Absichten des Gesetzgebers zuwiderlaufe. Um das gesetzgeberische Ziel zu erreichen, hätte es jedoch einer Regelung bedurft, wonach jedenfalls im Rahmen des § 1260c Abs 2 RVO hinsichtlich der Frage, ob eine Nachversicherung "möglich" ist, die Träger der gesetzlichen Rentenversicherung und im Streitfalle die Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit neben den versicherungsrechtlichen auch die dienstrechtlichen Voraussetzungen der Nachversicherung nach § 72 G 131 zu prüfen befugt seien. Welche Absichten der Gesetzgeber verfolgt hat, war also bereits seit der Einfügung des § 1260c Abs 2 in die RVO erkennbar. Die Mängel der Gesetzesfassung sind nun durch das RAG 1985 beseitigt worden, so daß dem Kläger ein Vertrauensschutz nicht zugebilligt werden kann.
Mit dieser Auffassung setzt sich der Senat nicht in Widerspruch zu seinem Urteil vom 11. Juli 1985 - 5b/1 RJ 92/84 -. Jene Entscheidung betrifft Änderungen bei der Berechnung des Übergangsgeldes, die - anders als im Falle des Klägers - keine Rückwirkung auf völlig abgeschlossene Sachverhalte in der Vergangenheit haben sollen.
Im Falle des Klägers hat die Beklagte im angefochtenen Bescheid vom 23. Mai 1980 zwar festgestellt, daß der Kläger hinsichtlich der Zeit vom 1. Januar 1940 bis zum 8. Mai 1945 zur fiktiven Nachversicherung berechtigt sei. Insoweit fehlt es indes an der gerichtlichen Überprüfung, die das Revisionsgericht im Hinblick auf die dabei notwendigen tatsächlichen Feststellungen nicht vornehmen kann. Diesbezüglich ist dem an der alten Fassung des § 1260c Abs 2 RVO orientierten Urteil des LSG nur zu entnehmen, daß "sachliche Anhaltspunkte" dafür bestehen, daß die fiktive Nachversicherung beim Kläger "möglich" ist. Nach § 1260c Abs 2 RVO nF bedarf es aber einer Entscheidung darüber, ob die Beklagte als Trägerin der Rentenversicherung deshalb berechtigt ist, die Voraussetzungen für die Nachversicherung festzustellen, weil diese lediglich wegen eines fehlenden Antrags des Klägers nicht durchgeführt ist. Eine Entscheidung im Sinne des § 170 Abs 2 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz ist deshalb geboten.
Die Kostenentscheidung bleibt der abschließenden Entscheidung vorbehalten.
Fundstellen