Entscheidungsstichwort (Thema)

Verweisbarkeit von Facharbeitern

 

Orientierungssatz

Bei der Prüfung der Verweisungsmöglichkeiten für einen gelernten Maurer darf sich das Gericht nicht lediglich auf Tätigkeiten beschränken, die ihrer Art nach dem erlernten Beruf verwandt sind; vielmehr sind alle Ausbildungsberufe und im gewissen Maße Anlernberufe bei der Prüfung mit einzubeziehen (vgl BSG 1972-11-30 12 RJ 118/72 = SozR Nr 107 zu § 1246 RVO).

 

Normenkette

RVO § 1246 Abs. 2 S. 2 Fassung: 1957-02-23

 

Verfahrensgang

LSG Nordrhein-Westfalen (Entscheidung vom 06.07.1972)

SG Gelsenkirchen (Entscheidung vom 08.06.1971)

 

Tenor

Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Landessozialgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 6. Juli 1972 aufgehoben.

Der Rechtsstreit wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

 

Gründe

I

Bei dem auf Gewährung von Berufsunfähigkeitsrente gerichteten Anspruch des Klägers ist umstritten, auf welche Art von Tätigkeiten der Kläger als gelernter Maurer zumutbar verwiesen werden kann (§ 1246 Abs. 2 der Reichsversicherungsordnung -RVO-).

Der 1931 geborene Kläger legte 1954 die Gesellenprüfung als Maurer ab. Er arbeitete anschließend bis 1957 und dann wieder von 1959 bis 1969 als Maurer. Zwischenhinein war er als Schlepper tätig. 1971 arbeitete er einige Monate als Aufzugführer. Er kann wegen Wirbelsäulenleidens nur noch leichte bis mittelschwere Arbeiten ohne andauerndes Heben und Bücken sowie Besteigen von Leitern und Gerüsten vollschichtig leisten. Laut psychologischem Gutachten des Arbeitsamtes ist er für eine Weiterschulung als Bautechniker und für jede andere qualifizierte Umschulungsmaßnahme nicht geeignet.

Der Kläger beantragte im Juni 1970 Versichertenrente. Die Beklagte lehnte sie ab, weil der Kläger bei seinem Wirbelsäulenverschleiß noch nicht berufsunfähig oder erwerbsunfähig sei (Bescheid vom 13. Januar 1971). Die Klage blieb ohne Erfolg (Urteil des Sozialgerichts -SG- Gelsenkirchen vom 8. Juni 1971).

Das Landessozialgericht (LSG) Nordrhein-Westfalen hat die Beklagte verurteilt, "die gesetzlichen Leistungen auf Grund eines Eintritts des Versicherungsfalles der Berufsunfähigkeit im Juni 1970 zu gewähren"; die Revision wurde zugelassen (Urteil vom 6. Juli 1972).

Das LSG hat nach Einholung von Auskünften von 30 Bauunternehmen im Lande Nordrhein-Westfalen über die Einsatzfähigkeit leistungsbeschränkter Maurer ausgeführt, der Kläger sei weder auf Teilgebieten des Maurerberufs noch bei Tätigkeiten einsetzbar, die zwar nicht typische Maurerarbeiten seien, aber im Rahmen des Maurerberufs anfallen könnten. Arbeitsplätze als Lagerverwalter u.ä. seien über den freien Arbeitsmarkt nicht zugänglich. Für eine Tätigkeit als sogen. einfacher Bauschreiber gebe es kein ausreichendes Arbeitsfeld. Als Bei- und Nachputzer seien Maurer nicht verwendbar, wenn sie, wie der Kläger, nicht mehr fähig seien, auf Leitern und Gerüsten oder im Freien zu arbeiten und wenn sie sich nicht häufig bücken und schwer heben können. Eine Tätigkeit als Kolonnenführer im Biegeschuppen sei nicht mehr möglich, weil der Kolonnenführer mitarbeiten müsse und die Eisenbiegertätigkeit schwer sei. Auf eine Hausmeistertätigkeit sei der Kläger nicht zu verweisen. Die vielseitigen Fähigkeiten und die besonderen Charaktereigenschaften, die diese Tätigkeit erfordere, könnten nicht bei jedem Facharbeiter schlechthin vorausgesetzt werden. Auf ungelernte Tätigkeiten, die bestimmte charakterliche Eigenschaften voraussetzten, sei ein Facharbeiter nicht zu verweisen, weil sonst die Frage nach dem bisherigen Beruf nicht mehr beantwortet zu werden brauche.

Das LSG hat sich gegen Entscheidungen des Bundessozialgerichtes (BSG) gewandt (4 RJ 405/70 vom 16. März 1971; 5 RKn 61/67 vom 12. November 1970). Es hat ausgeführt, Verweisungstätigkeiten für einen Facharbeiter seien nur solche, mit deren Verrichtung eine gewisse Verwertbarkeit der Kenntnisse und Fähigkeiten des bisherigen Berufs verbunden seien, es sei denn, der Versicherte habe sich inzwischen noch andere Kenntnisse und Fähigkeiten angeeignet.

Die Beklagte hat Revision eingelegt und beantragt, das Urteil des LSG aufzuheben und die Berufung des Klägers zurückzuweisen. Die Beklagte rügt Verstöße gegen §§103, 128 Abs. 1 des Sozialgerichtsgesetzes -SGG- bei der Firmenbefragung.

Als Verletzung des materiellen Rechts rügt die Revision, daß das LSG nur die Verweisung auf einen Teil der dem Maurerberuf verwandten Tätigkeiten geprüft habe. Auch habe das LSG die allgemeine Verweisbarkeit des Klägers auf Anlernberufe und auf berufsfremde ungelernte Tätigkeiten, die sich durch besondere Anforderungen aus den einfachen ungelernten Tätigkeiten herausheben, entgegen der Rechtsprechung des BSG nicht berücksichtigt.

Beide Beteiligten sind mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden (§ 124 Abs. 2 SGG).

II

Die Revision ist zulässig und insoweit begründet, als das angefochtene Urteil aufzuheben und der Rechtsstreit an das LSG zurückzuverweisen ist.

Der Kläger ist nach den Feststellungen des LSG für typische Maurerarbeiten nicht mehr einsetzbar. Bei der deshalb erforderlichen Prüfung nach § 1246 Abs. 2 RVO hat das LSG den Kreis der Verweisungstätigkeiten zu Unrecht im wesentlichen auf Berufe im Baugewerbe eingeengt.

Wie der erkennende Senat mit Urteil vom heutigen Tage - 12 RJ 118/72 - für den auch hier vorliegenden Fall eines gelernten Maurers entschieden hat, findet eine derartige Einschränkung im Gesetz keine Stütze. Vielmehr ist der Kläger unter Einbeziehung aller, auch berufsfremder Industrie zweige und Wirtschaftsbereiche, auf andere Ausbildungsberufe verweisbar (vgl. Berufsbildungsgesetz vom 14. August 1969 - BGBl I, 1112 und Bekanntmachung des Verzeichnisses der anerkannten Ausbildungsberufe vom 9. August 1972 - Beilage zum Bundesanzeiger Nr. 153 vom 7. August 1972), wenn er die hierfür vorgeschriebene Ausbildungszeit mit Erfolg durchlaufen hat oder die Tätigkeiten mit den vorhandenen beruflichen Kenntnissen verrichten kann. Der Kläger kann auch auf Tätigkeiten verwiesen werden, die nur eine kürzere betriebliche Einweisung und Einarbeitung erfordern, sich aber aus dem Kreis der ungelernten Tätigkeiten etwa im Hinblick auf ihre Bedeutung innerhalb des Betriebes und ihr Ansehen, aber auch unter Berücksichtigung ihrer tariflichen Eingruppierung im Vergleich mit anderen Tätigkeiten, besonders hervorheben.

Da somit das LSG den Kreis der für den Kläger nach seinem Leistungsvermögen noch in Betracht kommenden Verweisungstätigkeiten zu eng gezogen hat, kann das angefochtene Urteil schon infolge dieser von der Revision zutreffend gerügten Verletzung des materiellen Rechts nicht bestehen bleiben. Es kommt daher nicht darauf an, ob die gerügten wesentlichen Mängel im Verfahren des LSG vorliegen.

Bei seiner neuen Prüfung wird das LSG die hier aufgeführten Gesichtspunkte und die im genannten Urteil des erkennenden Senats (12 RJ 118/72 vom 30. November 1972) für die Verweisbarkeit eines Maurers im einzelnen dargelegten Kriterien zu beachten haben. Dabei wird es auch die Beiziehung berufskundiger und arbeitsmedizinischer Sachverständiger zu erwägen haben.

Unter Umständen ist auch an berufsfördernde Maßnahmen der Beklagter. bei einer kürzeren Einweisungs- und Einarbeitungszeit gemäß § 1237 Abs. 3 Satz 1 Buchst. c und Satz 2 RVO zu denken.

Die Kostenentscheidung bleibt dem das Verfahren abschließenden Urteil vorbehalten.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1648373

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