Entscheidungsstichwort (Thema)
Verweisbarkeit von Facharbeitern
Orientierungssatz
Bei der Prüfung der Verweisungsmöglichkeiten für einen gelernten Maurer darf sich das Gericht nicht lediglich auf Tätigkeiten beschränken, die ihrer Art nach dem erlernten Beruf verwandt sind; vielmehr sind alle Ausbildungsberufe und im gewissen Maße Anlernberufe bei der Prüfung mit einzubeziehen (vgl BSG 1972-11-30 12 RJ 118/72 = SozR Nr 107 zu § 1246 RVO).
Normenkette
RVO § 1246 Abs. 2 S. 2 Fassung: 1957-02-23
Verfahrensgang
LSG Nordrhein-Westfalen (Entscheidung vom 13.01.1972) |
SG Gelsenkirchen (Entscheidung vom 07.07.1969) |
Tenor
Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Landessozialgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 13. Januar 1972 aufgehoben.
Der Rechtsstreit wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Gründe
I
Im Rahmen der auf Gewährung von Berufsunfähigkeitsrente gerichteten Klage ist umstritten, auf welche Tätigkeiten der Kläger als gelernter Maurer zumutbar verwiesen werden kann und welche Kriterien für die Verweisungstätigkeiten wesentlich sind (§ 1246 Abs. 2 der Reichsversicherungsordnung - RVO -).
Der Kläger, geboren 1926, hat den Beruf eines Maurers erlernt und bis 1967 ausgeübt. Er hat ihn wegen eines Herzklappenfehlers aufgegeben. Er kann nur noch leichte bis mittelschwere körperliche Arbeiten im Gehen, Stehen oder Sitzen, ohne Heben und Tragen schwerer Lasten, vorwiegend in geschlossenen Räumen, bei möglichst gleichbleibender Schicht und ohne Akkord, vollschichtig verrichten. Seit 1969 ist er bei der Firma K beschäftigt. Er arbeitete zunächst als Fahrstuhlführer; seit 1971 verrichtet er Transportarbeiten mittels Transportfahrzeugen. Er ist tariflich als Hilfsarbeiter eingestuft. Eine Umschulung als Bauzeichner erschien wegen Schwierigkeiten auf theoretischem Gebiet nicht angebracht.
Die Beklagte lehnte die Gewährung von Rente wegen Berufsunfähigkeit ab, da die Leistungsfähigkeit des Klägers noch nicht entsprechend weit herabgesunken sei (Bescheid vom 27. September 1967).
Das Sozialgericht (SG) Gelsenkirchen hat sie zur Rentengewährung ab 1. März 1967 verurteilt (Urteil vom 7. Juli 1969).
Das Landessozialgericht (LSG) Nordrhein-Westfalen hat die Berufung der Beklagten zurückgewiesen; die Revision wurde zugelassen (Urteil vom 13. Januar 1972). Es hat nach Befragung von Baubetrieben im R-Gebiet ausgeführt, daß Arbeitsplätze für Lager- und Materialverwalter, Werkzeugverwalter und -ausgeber sowie Platzmeister über den freien Arbeitsmarkt nicht zugänglich seien, sondern langjährigen Betriebsangehörigen vorbehalten blieben. Auch für "einfache Bauschreiber" gebe es kein Arbeitsfeld. Für Bei- und Nachputzertätigkeiten seien diejenigen Maurer nicht zu verwenden, die, wie der Kläger, nicht mehr auf Leitern und Gerüsten oder nur ohne häufiges Bücken und Tragen von Lasten arbeiten könnten. Auch einer Tätigkeit als Eisenflechter zur Einarbeitung als Kolonnenführer im Biegeschuppen stehe die gesundheitliche Leistungseinschränkung des Klägers entgegen. Auf die Tätigkeit als Hausmeister könne der Kläger als Facharbeiter nicht verwiesen werden, abgesehen von den schweren Arbeiten und Arbeiten im Freien usw., die die Hausmeistertätigkeit verlange. Entgegen der Ansicht des Bundessozialgerichts (BSG) dürfe ein Facharbeiter nicht allgemein auf völlig berufsfremde ungelernte Tätigkeiten verwiesen werden, die bestimmte körperliche Eigenschaften voraussetzten und nach kurzer Einweisung verrichtet würden. An der Drei-Stufen-Theorie sei in der Rechtsprechung festgehalten. Verweisungstätigkeiten für einen Facharbeiter seien nur solche, mit deren Verrichtung eine gewisse Verwertung der Kenntnisse und Fähigkeiten des bisherigen Berufs verbunden sei. Die Tätigkeiten als Fahrstuhlführer und in der Warenannahme seien dem Kläger aus sozialer Sicht nicht zuzumuten.
Die Beklagte hat Revision eingelegt und beantragt (sinngemäß), die Urteile des LSG vom 13. Januar 1972 und des SG vom 7. Juli 1969 aufzuheben und die Klage abzuweisen. Sie rügt mangelnde Sachaufklärung (§ 103 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -) und Verfahrensfehler bei der Einholung und Verwertung von Firmenauskünften. Sie macht ferner eine Verletzung des materiellen Rechts (§ 1246 Abs. 2 RVO) geltend. Das LSG habe zu Unrecht die Verweisung auf Tätigkeiten beschränkt, bei denen der Kläger seine erlernten beruflichen Kenntnisse verwenden könne. Es habe nicht die Verweisbarkeit auf Anlernberufe geprüft und die Verweisbarkeit auf berufsfremde ungelernte Tätigkeiten, die sich aus dem Kreis der einfachen ungelernten Tätigkeiten herausheben, entgegen der Rechtsprechung des BSG abgelehnt. Eine berufsfremde leichtere Tätigkeit, die sich aus dem Kreis der sonstigen ungelernten Tätigkeiten deutlich hervorhebe, sei einem Maurer zuzumuten. Auch eine kurzfristige Einarbeitungszeit sei zumutbar.
Beide Beteiligten sind mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden (§ 124 Abs. 2 SGG).
II
Die Revision ist infolge Zulassung zulässig. Sie ist insofern begründet, als das angefochtene Urteil aufzuheben und der Rechtsstreit an das LSG zurückzuverweisen ist.
Durch das angefochtene Urteil ist § 1246 Abs. 2 RVO verletzt; denn das LSG hat den Kreis der einem Maurer zumutbaren Verweisungstätigkeiten zu Unrecht im wesentlichen auf Tätigkeiten beschränkt, die im Rahmen des Baugewerbes anfallen können. Eine derartige Einengung ergibt sich weder aus dem Wortlaut noch aus dem Sinn und Zweck des § 1246 Abs. 2 Satz 2 RVO (vgl. die Urteile des BSG 5 RJ 105/72 vom 11. Juli 1972 und 4 RJ 95/72 vom 11. August 1972 sowie ausführlich die Entscheidung des Senats vom heutigen Tag - 12 RJ 118/72). Vielmehr ist der Kläger unter Einbeziehung aller Industriezweige und Wirtschaftsbereiche zunächst auf andere Ausbildungsberufe verweisbar, wenn er die dafür vorgeschriebene Ausbildung erhalten hat oder diese Berufe mit seinen vorhandenen beruflichen Kenntnissen ausüben kann. Der Kläger kann aber auch auf Tätigkeiten verwiesen werden, die nur eine kürzere betriebliche Einweisung und Einarbeitung erfordern, sich aber aus dem allgemeinen Kreis der ungelernten Tätigkeiten besonders herausheben, etwa im Hinblick auf ihre Bedeutung im Betrieb und ihr Ansehen, aber auch unter Berücksichtigung ihrer tariflichen Eingruppierung im Vergleich zu anderen Berufen und Tätigkeiten.
Das LSG hat diese Prüfungen nicht angestellt. Da es somit den Kreis der für den Kläger nach dessen Leistungsvermögen noch in Betracht kommenden Verweisungstätigkeiten zu eng gezogen hat, kann das angefochtene Urteil schon infolge dieser Verletzung des materiellen Rechts (§ 1246 Abs. 2 RVO) nicht bestehen bleiben. Es kommt daher nicht darauf an, ob die gerügten Verfahrensmängel vorliegen.
Bei der neuen Prüfung wird das LSG diese Grundsätze und die im Urteil des Senats vom heutigen Tage (12 RJ 118/72) für die Verweisbarkeit eines gelernten Maurers im einzelnen aufgezeigten Kriterien zu beachten haben. Es wird auch die Beiziehung berufskundiger und arbeitsmedizinischer Sachverständiger zu erwägen haben. Gegebenenfalls ist auch an berufsfördernde Maßnahmen der Beklagten zur Durchführung einer kürzeren Einweisung in eine betriebliche Tätigkeit gemäß § 1237 Abs. 3 Satz 1 Buchstabe c und Satz 2 RVO zu denken.
Unter Berücksichtigung dieser Gesichtspunkte wird das LSG auch die jetzige Tätigkeit des Klägers zu beurteilen haben.
Die Kostenentscheidung bleibt dem das Verfahren abschließenden Urteil vorbehalten.
Fundstellen