Orientierungssatz

Für das Vorliegen eines Verwaltungsakts ist es ohne rechtliche Bedeutung, ob der Beamte, der das Schreiben unterzeichnet hat, zu der darin getroffenen Entscheidung befugt gewesen ist. Dafür ist auch nicht entscheidend, daß das Schreiben keine Rechtsbehelfsbelehrung enthält. Der Verwaltungsakt hätte allerdings nach RVO § 1569a Abs 1 Nr 1 im Wege einer förmlichen Feststellung durch den Rentenausschuß erlassen werden müssen. Dieser schwere Mangel macht jedoch nach der Rechtsprechung des erkennenden Senats den Verwaltungsakt nicht nichtig, sondern nur aufhebbar, weil der Mangel nicht offensichtlich ist (vergleiche BSG 1965-12-14 2 RU 113/63 = BSGE 24, 162, 165 ff). Dem steht nicht entgegen, daß der Verwaltungsakt nicht vom Geschäftsführer - einer nicht von jeder Feststellung einer Entschädigung an Versicherte ausgeschlossenen Person -, sondern von einem rang Person -, sondern von einem rangniederen Beamten "im Auftrag" unterzeichnet worden ist.

 

Normenkette

SGG § 77 Fassung: 1953-09-03; RVO § 1569a Abs. 1 Nr. 1 Fassung: 1925-07-14

 

Tenor

Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Hamburg vom 29. April 1971 wird zurückgewiesen.

Die Beklagte hat dem Kläger auch die Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.

 

Gründe

I

Zwischen den Beteiligten herrscht Streit, ob der Kläger wegen der Folgen eines Unfalls, den er bei einer gemeinsamen Weihnachtsfeier mehrerer Firmen erlitten hat, Anspruch auf Unfallentschädigung hat.

Die Firma C. Heinrich Q (OHG), Wilhelm R (GmbH) und Sch & Co. (OHG) sind personell, organisatorisch und wirtschaftlich miteinander verbunden. Mitinhaber der Firma Q sind der Kläger sowie die Herren K S und J. Sie sind auch Gesellschafter der GmbH. In dieser hält der Kläger Geschäftsanteile von 20 v. H. Außerdem ist er Geschäftsführer der GmbH. Dafür erhielt er zur Zeit des Unfalls ein monatliches Bruttogehalt von 1.000,- DM K Sen. und Jun. sind außerdem Inhaber der Firma Sch & Co. Alle drei Firmen haben ihre Geschäftsräume in demselben Gebäude; dessen Eigentümerin ist die GmbH. Sie betreiben eine gemeinsame Kellerei und Lagerei. Aus diesem Grunde waren die Angestellten der GmbH ursprünglich vielfach auch für die Firma Q tätig. Aus Rationalisierungs- und steuerlichen Gründen wurden am 1. Januar 1967 11 Angestellte der GmbH. von der Firma Q übernommen. Außer dem Kläger verblieben nur noch 2 Angestellte bei der GmbH.

Am 20. Dezember 1968 fand im Gewerkschaftshaus in H eine gemeinsame Weihnachtsfeier dieser drei Firmen statt. Sie wurde - wie in den Jahren zuvor - vom Kläger und einer Sekretärin der Firma Sch & Co. vorbereitet. Außer dem Kläger und den beiden Mitgesellschaftern nahmen die beiden Angestellten der GmbH, von der Firma Q 15 Personen und von der Firma Sch & Co. 18 Personen teil. Die Rechnung für die Gesamtkosten der Feier wurde vereinbarungsgemäß an die Firma Q zu Händen des Klägers gerichtet. Diese Kosten wurden anteilmäßig auf die beiden OHGen verteilt; früher wurde auch die GmbH beteiligt.

Während der Feier rutschte der Kläger auf einer Treppe aus. Er erlitt erhebliche Verletzungen am rechten Knie.

Zunächst wurde am 30. Januar 1969 von der Firma Q Unfallanzeige erstattet. Auf die Mitteilung der Beklagten, daß der Kläger als Mitunternehmer dieser Firma nicht freiwillig gegen Arbeitsunfälle versichert sei, erstattete die GmbH am 12. Februar 1969 Unfallanzeige mit dem Hinweis, daß der Kläger an der gemeinsamen Weihnachtsfeier als ihr Geschäftsführer teilgenommen habe.

Die Beklagte ermittelte, daß das dem Kläger als Geschäftsführer gezahlte Entgelt im Lohnnachweis aufgeführt wurde. Sie richtete am 9. Mai 1969 an den Kläger ein Schreiben u. a. folgenden Inhalts:

"Unsere Ermittlungen haben ergeben, daß Sie als Geschäftsführer der Firma Wilhelm R GmbH zu dem kraft Gesetzes gegen Arbeitsunfälle versicherten Personenkreis gehören. In Ihrer Eigenschaft als Inhaber der Firma C. H. Q gehören Sie dagegen nicht zu dem gesetzlich gegen die Folgen von Arbeitsunfällen geschützten Personenkreis. Eine freiwillige Versicherung, die nach § 40 unserer Satzung möglich ist, haben Sie nicht abgeschlossen. Unter Berücksichtigung der Angaben der Firma R, daß Sie als Geschäftsführer dieses Unternehmens an der Weihnachtsfeier teilgenommen haben, werden die unfallbedingten Behandlungskosten von der Berufsgenossenschaft zu den für Sozialversicherungsträger geltenden Sätzen (GOÄ-Abkommen) übernommen, weil Sie keiner gesetzlichen Krankenkasse als Mitglied angehören. ...

Um den Jahresarbeitsverdienst feststellen zu können, der die Grundlage für die Berechnung evtl. Barleistungen bildet, benötigen wir Angaben über Ihren Verdienst im Jahre vor dem Unfall, ...

Bei der Jahresarbeitsverdienst-Berechnung kann Ihr Einkommen aus der selbständigen Tätigkeit für die Firma Q berücksichtigt werden, sofern es der Gegenwert für geleistete Arbeit ist (Unternehmergewinne ohne eigene Tätigkeit bleiben unberücksichtigt). Übersenden Sie uns daher bitte die Einkommensteuerbescheide für die Jahre 1967 und 1968.

Zur Prüfung der Frage, ob und in welchem Umfang Unfallfolgen verblieben sind, haben wir eine fachärztliche Nachuntersuchung im Berufsgenossenschaftlichen Unfallkrankenhaus H, H, B Str. ..., veranlaßt. Sie werden von dort eine Aufforderung erhalten. Über das Untersuchungsergebnis ergeht weitere Nachricht.

Für den Fall, daß Ihnen von der Firma R für die Dauer der unfallbedingten Arbeitsunfähigkeit nicht durchgehend Gehalt gezahlt wurde und Sie deshalb Verletztengeld beanspruchen, müßten Sie noch die anliegende Erklärung für den Bezug von Verletztengeld ausfüllen. Dann wäre auch die Vorlage einer ärztlichen Bescheinigung, aus der sich die Dauer der Arbeitsunfähigkeit ergibt, erforderlich.

Ein Merkblatt über die gesetzliche Unfallversicherung fügen wir zur allgemeinen Unterrichtung bei."

Dieses Schreiben ist "Im Auftrage" von einem Verwaltungsoberamtmann der Beklagten unterzeichnet.

Mit förmlichem Bescheid vom 14. Oktober 1969 lehnte die Beklagte es ab, Unfallentschädigung zu gewähren, weil nach Sachlage der Kläger in seiner Eigenschaft als nichtversicherter Mitunternehmer und nicht als angestellter Geschäftsführer an der Weihnachtsfeier teilgenommen habe.

Das Sozialgericht (SG) Hamburg hat aus denselben Erwägungen durch Urteil vom 23. Juni 1970 die Klage abgewiesen.

Das Landessozialgericht (LSG) Hamburg hat durch Urteil vom 29. April 1971 die Entscheidung des Erstgerichts sowie den Bescheid der Beklagten aufgehoben und diese dem Grunde nach verurteilt, dem Kläger Unfallentschädigung zu gewähren.

Zur Begründung hat es ausgeführt:

Mit dem Kläger und den beiden anderen Angestellten habe sich die gesamte Belegschaft der GmbH an der für die drei Firmen gemeinsam veranstalteten betrieblichen Gemeinschaftsfeier beteiligt. Als Geschäftsführer mit einem Geschäftsanteil von nur 20 v. H. sei der Kläger Arbeitnehmer der GmbH und bei der Teilnahme an der Weihnachtsfeier versichert gewesen. Der Unfallversicherungsschutz (UV-Schutz) sei nicht entfallen, weil der Kläger die gemeinsame Veranstaltung der drei miteinander verbundenen Unternehmen notwendigerweise zugleich in seiner Eigenschaft als nichtversicherter Mitinhaber der Firma Q besucht habe. Da die in der Person des Klägers verquickten Funktionen eines Mitunternehmers und eines Geschäftsführers nicht voneinander getrennt werden könnten, seien die Rechtsgrundsätze über den UV-Schutz bei sogenannten gemischten Tätigkeiten heranzuziehen. Unter Abwägung der gesamten Umstände habe der Kläger wesentlich in seiner Eigenschaft als angestellter Geschäftsführer an der Veranstaltung teilgenommen. Dies könne nicht schon wegen der größeren wirtschaftlichen Bedeutung, welche die Firma Q im Verhältnis zu den beiden anderen Firmen besitze, verneint werden. Daraus dürfe nicht eine generelle Nebensächlichkeit der Tätigkeit des Klägers als Geschäftsführer gefolgert und der Schluß gezogen werden, daß der Kläger als Geschäftsführer an der Weihnachtsfeier nicht beteiligt gewesen sei. Es sei ferner zu berücksichtigen, daß der Kläger auch in früheren Jahren die Weihnachtsfeiern vorbereitet habe, als er noch Prokurist der Firma Q gewesen sei. Als Geschäftsführer habe er als Beauftragter des Unternehmens an der Weihnachtsfeier teilgenommen. Darüber hinaus sei seine Anwesenheit als leitender Angestellter der GmbH auch wegen der Pflege der Betriebsverbundenheit insbesondere im Hinblick auf die geringe Zahl der Betriebsangehörigen durchaus wesentlich gewesen. Da der Kläger bei der Teilnahme an der Weihnachtsfeier unter UV-Schutz gestanden habe, brauche nicht entschieden zu werden, ob das Schreiben der Beklagten vom 9. Mai 1969 ein diese bindender Verwaltungsakt sei.

Das LSG hat die Revision zugelassen.

Die Beklagte hat dieses Rechtsmittel eingelegt und es im wesentlichen wie folgt begründet:

Die Geschäftsführertätigkeit des Klägers sei nach ihrem Umfang gegenüber seiner Tätigkeit als Mitunternehmer der Firma Q belanglos; dies ergebe auch ein Vergleich seines verhältnismäßig niedrigen Gehalts als Geschäftsführer mit seinem Gewinnanteil bei der OHG. Der Kläger habe die Weihnachtsfeier allein als Mitunternehmer der OHG vorbereitet und an dieser teilgenommen. Für die beiden Angestellten der GmbH hätte er bestimmt keine Weihnachtsfeier im Gewerkschaftshaus abgehalten. Dieser Feier habe nicht die Verbundenheit des Klägers mit den beiden Angestellten der GmbH, sondern mit den Mitarbeitern der Firma Q und den Mitinhabern der mit diesem Unternehmen verbundenen Firma Sch & Co. das Gepräge gegeben. Das LSG hätte, bevor es zu einer Entscheidung in seinem Sinne hätte kommen dürfen, den Sachverhalt weiter aufklären müssen. Das an den Kläger gerichtete Schreiben vom 9. Mai 1969 sei kein bindender Verwaltungsakt. In diesem Schreiben sei eine genaue Nachprüfung der sachlichen und rechtlichen Grundlagen etwaiger Verpflichtungen vorbehalten worden. Dem Kläger sei darin nicht schlechthin eine Entschädigung zugesagt oder ein Arbeitsunfall anerkannt worden, vielmehr sei ihm die Gewährung von Leistungen unter dem Vorbehalt angekündigt worden, daß die Angaben der GmbH eingehend nachgeprüft würden. Selbst die Ankündigung der Übernahme von Behandlungskosten bedeute noch keine Bindung hinsichtlich der Gewährung von Unfallrente.

Der Kläger hält das angefochtene Urteil für zutreffend. Das Schreiben der Beklagten vom 9. Mai 1969 stelle einen Verwaltungsakt dar, in welchem sie einen Arbeitsunfall bindend anerkannt habe.

Die Beklagte beantragt,

unter Aufhebung des angefochtenen Urteils die Berufung des Klägers zurückzuweisen,

hilfsweise,

die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an die Vorinstanz zurückzuverweisen.

Der Kläger beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.

Der Senat hat ohne mündliche Verhandlung entschieden; die Voraussetzungen des § 124 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) liegen vor.

Die Revision ist nicht begründet. Das angefochtene Urteil ist jedenfalls im Ergebnis zutreffend.

Unabhängig von der vom LSG entschiedenen Rechtsfrage ist die Beklagte zur Gewährung einer Unfallentschädigung an den Kläger schon aufgrund ihres Schreibens vom 9. Mai 1969 verpflichtet. In diesem hat die Beklagte nicht nur die haftungsbegründende, sondern auch die haftungsausfüllende Kausalität - diese dem Grunde nach - anerkannt. Der Wortlaut dieses Schreibens läßt nicht die von der Revision behauptete Deutung zu, daß die Beklagte sich eine endgültige rechtliche Prüfung vorbehalten und die Gewährung von Leistungen lediglich angekündigt habe. Nach ihrem gesamten Inhalt kann diese Mitteilung nur so ausgelegt werden, daß die Beklagte einen Arbeitsunfall bejaht, nachteilige Folgen als vorliegend angenommen und Maßnahmen zwecks Prüfung der Frage eingeleitet hat, "ob und in welchem Umfang Unfallfolgen verblieben sind". Von deren Ergebnis hing es ab, in welcher Höhe dem Kläger Barleistungen zuerkannt würden. Insoweit hat die Beklagte dem Kläger aufgegeben, Nachweise einzureichen, und ihm dazu rechtlich bedeutsame Hinweise gegeben.

Bei der Mitteilung der Beklagten vom 9. Mai 1969 handelt es sich um einen dem Kläger erteilten Verwaltungsakt, da die Beklagte in hinreichend bestimmter Form Erkrankungen des Klägers mit die Beklagte unmittelbar bindender rechtlicher Wirkung als Folge des Arbeitsunfalls vom 20. Dezember 1968 festgestellt hat. Ob der Beamte, der dieses Schreiben unterzeichnet hat, zu der darin getroffenen Entscheidung befugt gewesen ist, ist für das Vorliegen eines Verwaltungsakts ohne rechtliche Bedeutung. Dafür ist auch nicht entscheidend, daß das Schreiben keine Rechtsbehelfsbelehrung enthält (BSG 24, 162, 165). Der Verwaltungsakt hätte allerdings nach § 1569 a Abs. 1 Nr. 1 der Reichsversicherungsordnung (RVO) im Wege einer förmlichen Feststellung durch den Rentenausschuß erlassen werden müssen. Im Zeitpunkt des Erlasses stand nicht fest, daß nur eine für die Vergangenheit zu gewährende Leistung in Frage kam (vgl. das Urteil des erkennenden Senats vom 18. Dezember 1969, BG 1970, 391 = Breithaupt 1970, 580; insoweit nicht abgedruckt in SozR Nr. 1 zu § 639 RVO).

Dieser schwere Mangel macht jedoch nach der Rechtsprechung des erkennenden Senats den Verwaltungsakt nicht nichtig, sondern nur aufhebbar, weil der Mangel nicht offensichtlich ist (BSG 24, 162, 165 ff). Dem steht nicht entgegen, daß der Verwaltungsakt nicht vom Geschäftsführer - einer nicht von jeder Feststellung einer Entschädigung an Versicherte ausgeschlossenen Person -, sondern von einem rangniederen Beamten der Beklagten erteilt worden ist. Dieser hat das Schreiben vom 9. Mai 1969 "Im Auftrage" unterzeichnet. Der Kläger konnte hieraus folgern, daß der Beamte wirksamerweise für den Geschäftsführer unterschrieben hat (vgl. das Urteil des erkennenden Senats vom 18. Dezember 1969 aaO). Auch einem aufmerksamen und verständigen Staatsbürger waren die dem Verwaltungsakt anhaftenden schweren Mängel nicht ohne weiteres erkennbar. Deshalb ist der Verwaltungsakt mit seinem Zugang an den Kläger für die Beklagte bindend geworden (§ 77 SGG). Diese konnte ihn daher nicht mehr nachträglich durch eine gegenteilige Entscheidung zum Nachteil des Klägers ändern, auch nicht durch eine förmliche Feststellung. Das LSG hat deshalb jedenfalls im Ergebnis zutreffend den Bescheid vom 14. Oktober 1969 als rechtswidrig aufgehoben. Aufgrund des Ergebnisses der ärztlichen Begutachtung hat es, wogegen die Beklagte keine Einwendungen erhebt, mit Recht die Voraussetzungen für ein Grundurteil nach § 130 Satz 1 SGG als erfüllt angesehen.

Einer Entscheidung der vom Berufungsgericht für rechtserheblich gehaltenen Frage bedarf es sonach nicht.

Die Revision der Beklagten war daher als unbegründet zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1669759

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