Entscheidungsstichwort (Thema)
Sozialgerichtliches Verfahren. soziale Pflegeversicherung. Entlastungsbetrag. gerichtliche Geltendmachung des an ein Pflegeunternehmen abgetretenen Anspruchs. notwendige Beiladung des Versicherten. Verfahrensmangel
Leitsatz (amtlich)
Macht ein klagendes Pflegeunternehmen aus vom Versicherten abgetretenem Recht die Übernahme von Kosten für Entlastungsleistungen nach Maßgabe des dem pflegebedürftigen Versicherten zustehenden Entlastungsbetrags geltend, ist der Versicherte zu dem Rechtsstreit notwendig beizuladen.
Normenkette
SGB XI § 45b; SGG § 75 Abs. 2 Alt. 1, § 62; GG Art. 19 Abs. 4, Art. 103 Abs. 1
Verfahrensgang
Tenor
Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 25. Oktober 2022 aufgehoben.
Der Rechtsstreit wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Der Streitwert für das Revisionsverfahren wird auf 451,59 Euro festgesetzt.
Tatbestand
Im Streit steht die Höhe abgetretener Ansprüche auf den Entlastungsbetrag nach § 45b SGB XI.
Die Klägerin betreibt einen zugelassenen ambulanten Pflegedienst und schloss mit ihren Kunden Pflege- und Dienstleistungsverträge. Auf deren Grundlage erbrachte sie in der Zeit von März bis Oktober 2017 Entlastungsleistungen zugunsten der während des Berufungsverfahrens verstorbenen Versicherten, die bei der beklagten Pflegekasse versichert und nach dem Pflegegrad 3 pflegebedürftig war. Die Kosten der Entlastungsleistungen stellte die Klägerin der Beklagten aus abgetretenem Recht in Rechnung. Die Beklagte lehnte die vollständige Übernahme der Rechnungsbeträge ab und kürzte direkt gegenüber der Klägerin die Vergütung (Bescheide vom 24.4., 18.5., 21.6., 27.7., 13.9., 5.10., 18.10. und 6.12.2017; Widerspruchsbescheid vom 29.5.2019). Hieraus resultiert der streitgegenständliche Betrag von 451,59 Euro.
Das SG hat die Klage abgewiesen und das LSG die vom SG zugelassene Berufung zurückgewiesen (Urteile vom 19.11.2019 und 25.10.2022). Die von der Klägerin beanspruchte Vergütung übersteige die Preise für vergleichbare Sachleistungen zugelassener Pflegeeinrichtungen. Dabei seien die nach § 36 SGB XI vereinbarten Vergütungssätze auch für die Leistungen des Entlastungsbetrags maßgeblich.
Die Klägerin rügt mit der vom LSG zugelassenen Revision die Verletzung materiellen Rechts. Es stelle sich die Frage, ob zugelassene Pflegedienste auch Entlastungsleistungen erbringen könnten, welche als häusliche Pflegehilfe nicht abrechnungsfähig seien.
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Die Klägerin beantragt schriftsätzlich, |
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die Beklagte unter Aufhebung der Urteile des Bayerischen Landessozialgerichts vom 25. Oktober 2022 und des Sozialgerichts Nürnberg vom 19. November 2019 sowie der Bescheide der Beklagten betreffend die Versicherte S vom 24. April 2017, 18. Mai 2017, 21. Juni 2017, 27. Juli 2017, 13. September 2017, 5. Oktober 2017, 18. Oktober 2017 und 6. Dezember 2017 jeweils in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 29. Mai 2019 zu verurteilen, an sie 451,59 EUR zuzüglich Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit zu zahlen. |
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Die Beklagte beantragt schriftsätzlich, |
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die Revision zurückzuweisen. |
Entscheidungsgründe
Die zulässige Revision der Klägerin ist im Sinne der Aufhebung der Berufungsentscheidung und der Zurückverweisung der Sache an das LSG erfolgreich (§ 170 Abs 2 Satz 2 SGG). Das Urteil des LSG leidet an einem von Amts wegen zu berücksichtigenden wesentlichen Verfahrensmangel. Ob die Klägerin einen weitergehenden Vergütungsanspruch aus abgetretenem Recht für Entlastungsleistungen im Rahmen des der pflegebedürftigen Versicherten zustehenden Entlastungsbetrags geltend machen kann, betrifft unmittelbar auch die Rechtsbeziehungen der Klägerin zur Versicherten und ihrem Rechtsnachfolger, weshalb dieser notwendig beizuladen war.
1. Streitgegenstand des Revisionsverfahrens sind neben den vorinstanzlichen Urteilen die bezeichneten Bescheide der Beklagten, soweit sie durch diese die von der Klägerin begehrte vollständige Übernahme der Rechnungsbeträge abgelehnt hat. Gegen diese Bescheide wendet sich die Klägerin zutreffend mit der kombinierten Anfechtungs- und Leistungsklage (§ 54 Abs 1 Satz 1, Abs 4 SGG), gerichtet auf Änderung der angefochtenen Bescheide und Verurteilung der Beklagten zur vollständigen Übernahme der geltend gemachten Vergütung.
2. Einer Sachentscheidung des Senats steht entgegen, dass es einer notwendigen Beiladung der Versicherten bzw nach deren Tod des Rechtsnachfolgers gemäß § 75 Abs 2 Alt 1 SGG bedarf, weil der Rechtsstreit ihren abgetretenen Leistungsanspruch betrifft und damit zugleich das Leistungsverhältnis zwischen der Versicherten bzw nach deren Tod des Rechtsnachfolgers und der Klägerin betrifft.
Nach § 75 Abs 2 Alt 1 SGG sind Dritte beizuladen, wenn sie an dem streitigen Rechtsverhältnis derart beteiligt sind, dass die Entscheidung auch ihnen gegenüber nur einheitlich ergehen kann ("echte notwendige Beiladung"). Dies ist der Fall, wenn durch die Entscheidung zugleich in die Rechtssphäre des Dritten unmittelbar eingegriffen wird, wobei die Möglichkeit hierfür ausreicht. Die Entscheidung darf aus Rechtsgründen nur einheitlich ergehen, wozu weder genügt, dass sie logisch notwendig einheitlich ergehen muss, weil in beiden Rechtsverhältnissen über dieselben Vorfragen zu entscheiden ist, noch, dass die tatsächlichen Verhältnisse eine einheitliche Entscheidung erfordern (vgl Schmidt in Meyer-Ladewig/Keller/Schmidt, SGG, 14. Aufl 2023, § 75 RdNr 10 mwN). Die Beiladung ist vielmehr notwendig, wenn die begehrte Sachentscheidung nicht getroffen werden kann, ohne dass dadurch gleichzeitig unmittelbar und zwangsläufig die Rechtsposition eines Dritten gestaltet, bestätigt oder festgestellt, verändert oder aufgehoben wird (vgl zuletzt BSG vom 19.4.2023 - B 3 KR 7/22 R - vorgesehen für BSGE und SozR 4, RdNr 11 mwN).
So liegt es, soweit ein klagender Erbringer von Entlastungsleistungen aus abgetretenem Recht deren Vergütung nach Maßgabe des dem pflegebedürftigen Versicherten zustehenden Entlastungsbetrags begehrt. Dies ergibt sich aus der zugrunde liegenden pflegeversicherungsrechtlichen Rechtslage in Bezug auf Ansprüche der Versicherten im Rahmen des Entlastungsbetrags nach § 45b SGB XI und dem Dreiecksverhältnis nach Abtretung dieser Ansprüche.
3. Nach § 45b Abs 1 Satz 1, 2 und 3 Nr 3, Abs 2 SGB XI (hier idF des Dritten Pflegestärkungsgesetzes - PSG III vom 23.12.2016, BGBl I 3191) haben Pflegebedürftige in häuslicher Pflege Anspruch auf einen zweckgebundenen Entlastungsbetrag in Höhe von bis zu 125 Euro monatlich. Er dient ua der Erstattung von Aufwendungen, die den Versicherten im Zusammenhang mit der Inanspruchnahme von Leistungen ambulanter Pflegedienste iS des § 36 SGB XI entstehen, in den Pflegegraden 2 bis 5 jedoch nicht von Leistungen im Bereich der Selbstversorgung. Beanspruchen Pflegebedürftige den Entlastungsbetrag für Leistungen ambulanter Pflegedienste unter den Voraussetzungen des § 45b Abs 1 Satz 3 Nr 3 SGB XI entweder für pflegerische Betreuungsmaßnahmen oder für Hilfen bei der Haushaltsführung (vgl § 36 Abs 1 Satz 1 SGB XI), ist deren Vergütung gemäß § 45b Abs 4 Satz 1 SGB XI der Höhe nach durch die im Vertrag nach § 89 SGB XI vereinbarten Vergütungssätze für vergleichbare Pflegesachleistungen nach § 36 SGB XI begrenzt.
Ohne dass es einer vorherigen Antragstellung bedarf (§ 45b Abs 2 Satz 1 Halbsatz 2 SGB XI), wählt der Versicherte danach aus, welchen Leistungserbringer er in Anspruch nimmt, und er vereinbart mit diesem die zu erbringenden Leistungen sowie deren Vergütung, deren Schuldner - abweichend von der Leistungserbringung nach dem Sachleistungsprinzip (§ 4 Abs 1 Satz 1 Var 2 SGB XI; § 2 Abs 2 Satz 1 SGB V) - er selbst ist. Die Refinanzierung dieser Aufwendungen kann er im Kostenerstattungsverfahren bis zum Höchstbetrag des § 45b Abs 1 Satz 1 SGB XI von 125 Euro von der Pflegekasse beanspruchen (vgl zum materiellen Anspruch auf einen Entlastungsbetrag BSG vom 30.8.2023 - B 3 P 6/23 R - vorgesehen für BSGE und SozR 4). Darüber hinausreichende, von der begrenzten Leistungspflicht der Pflegeversicherung nicht gedeckte Aufwendungen für von dem Leistungserbringer bezogene Entlastungsleistungen treffen den Versicherten in dem so ausgestalteten Dreiecksverhältnis abschließend selbst. Tritt der - häufig betagte und gesundheitlich beeinträchtigte - Versicherte dem Leistungserbringer zu seiner Entlastung zahlungshalber seinen Anspruch auf den Entlastungsbetrag gegen die Pflegekasse ab (vgl BT-Drucks 18/5926 S 133), betrifft ihn bei einer gerichtlichen Geltendmachung die Entscheidung über die Zahlungsklage des Leistungserbringers insoweit unmittelbar, als zum einen im Verhältnis zur Pflegekasse abschließend über das Bestehen und den Umfang seines Leistungsanspruchs und zum anderen über etwaige weitergehende, damit korrelierende Zahlungspflichten gegenüber dem Leistungserbringer entschieden wird (vgl für die stationäre Pflege BSG vom 7.10.2010 - B 3 P 4/09 R - BSGE 107, 37 = SozR 4-3300 § 87a Nr 1, RdNr 15 und für das Vorrang-Nachrang-Verhältnis bei § 43a SGB XIBSG vom 11.11.2021 - B 3 P 2/20 R - BSGE 133, 141 = SozR 4-3300 § 43a Nr 2, RdNr 33).
Zu einem Rechtsstreit über einen abgetretenen Anspruch auf Kostenerstattung ist danach der Versicherte - bzw nach dessen Tod der Rechtsnachfolger - notwendig beizuladen, weil der Anspruch des Leistungserbringers aus abgetretenem Recht dem Grunde und der Reichweite nach das Bestehen eines Kostenerstattungsanspruchs des Versicherten gegen die Pflegekasse für die erbrachte Leistung voraussetzt. Die Frage, ob und in welcher Höhe ein Erbringer von Entlastungsleistungen für einen Versicherten gegenüber der Pflegekasse im Rahmen einer Kostenerstattung nach § 45b SGB XI Ansprüche geltend machen kann, kann im Verhältnis des Leistungserbringers zur Pflegekasse und zum Versicherten zwangsläufig nur einheitlich entschieden werden.
Nur durch eine echte notwendige Beiladung zum Rechtsstreit kann der Versicherte bzw Rechtsnachfolger im Hinblick auf mögliche weitere Forderungen gegen ihn effektiven Rechtsschutz (Art 19 Abs 4 GG) erlangen, weil er nur so mit der Möglichkeit selbständiger Angriffs- und Verteidigungsmittel sowie abweichender Sachanträge (§ 75 Abs 4 SGG) am Rechtsstreit über seinen Leistungsanspruch gegen die Pflegekasse beteiligt ist und die Rechtskrafterstreckung der Entscheidung hierüber ihn ebenso wie den Leistungserbringer in einem möglichen Folgestreit um weitergehende Ansprüche des Leistungserbringers bindet, aber auch schützt (vgl zur Beiladung zur Wahrung effektiven Rechtsschutzes zuletzt BSG vom 19.4.2023 - B 3 KR 7/22 R - vorgesehen für BSGE und SozR 4, RdNr 17 ff mwN).
4. Die hiernach notwendige echte Beiladung der Versicherten bzw ihres Rechtsnachfolgers ist in den Vorinstanzen unterblieben. Vor einer Beiladung des zu ermittelnden Rechtsnachfolgers der Versicherten ist der Senat gehindert, über materiell-rechtliche Fragen für das LSG bindend (§ 170 Abs 5 SGG) zu entscheiden, weil anderenfalls das rechtliche Gehör (§ 62 SGG, Art 103 Abs 1 GG, Art 6 Abs 1 EMRK) des Beizuladenden verletzt würde (vgl zuletzt BSG vom 19.4.2023 - B 3 KR 7/22 R - vorgesehen für BSGE und SozR 4, RdNr 20 mwN). Die Beiladung ist nach Ermittlung des Rechtsnachfolgers im wiedereröffneten Berufungsverfahren nachzuholen und sodann eine erneute Sachentscheidung zu treffen.
Das LSG wird auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden haben.
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Die Streitwertfestsetzung für das Revisionsverfahren bestimmt sich nach der Höhe der geltend gemachten Forderung. |
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Schütze |
Flint |
Knorr |
Fundstellen
KrV 2024, 37 |
KrV 2024, 79 |
NZS 2024, 758 |