Leitsatz (redaktionell)

Fehlen in der Prozeßerklärung, die als Verzicht auf das Recht der Berufung gedeutet werden soll, die ausdrücklich gebrachten Worte, daß auf das Rechtsmittel der Berufung verzichtet wird, so muß bei einer so bedeutungsvollen und einschneidenden Prozeßerklärung des Rechtsmittelverzichts der Inhalt der Erklärung den Willen, auf das Recht der Berufung zu verzichten, so eindeutig zu erkennen geben, daß jeder vernünftige Zweifel über den wirklichen Willen des Erklärenden ausgeschlossen ist.

 

Orientierungssatz

Die Bewertung, ob mit dem Schreiben eines Klägers ein Berufungsverzicht erklärt worden ist, unterliegt, da es sich um eine Prozeßerklärung handelt, der freien Würdigung und Nachprüfung durch das Revisionsgericht (Bestätigung von BSG 1964-04-16 11/1 RA 206/61 = SozR Nr 5 zu § 156 SGG).

 

Normenkette

SGG § 143 Fassung: 1953-09-03

 

Tenor

Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 18. Mai 1966 mit den ihm zugrunde liegenden Feststellungen aufgehoben.

Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

 

Gründe

I

Der Kläger wohnt seit 1952 in den USA und besitzt seit 1958 die amerikanische Staatsbürgerschaft. Er begehrt die Auszahlung des ihm bewilligten Altersruhegeldes. Das Sozialgericht (SG) hat die Klage abgewiesen. Das Landessozialgericht (LSG) hat die gegen das Urteil am 2. Juli 1965 eingelegte Berufung des Klägers als unzulässig verworfen, weil er, nach Zustellung des erstinstanzlichen Urteils am 7. April 1965 mit seinem Schreiben an das SG vom 25. Mai 1965 auf das Recht der Berufung verzichtet habe. Es hat die Revision nicht zugelassen. Der Kläger hat gleichwohl dieses Rechtsmittel eingelegt und rügt als wesentlichen Mangel im Verfahren des Berufungsgerichts, der die Revision statthaft machen soll, es habe zu Unrecht angenommen, daß er mit seinem Schreiben an das SG auf das Recht der Berufung verzichtet habe und daß deshalb die danach eingelegte Berufung unzulässig sei.

Der Kläger beantragt, die Urteile des LSG Niedersachsen vom 18. Mai 1966 und des SG Hannover vom 5. März 1965 sowie den Bescheid der Beklagten vom 4. Juni 1964 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, das Altersruhegeld vom 1. Januar 1959 an auszuzahlen.

Die Beklagte beantragt, die Revision des Klägers als unzulässig zu verwerfen.

Beide Beteiligte haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung durch Urteil einverstanden erklärt.

II

Die Revision ist zulässig und insoweit begründet, als das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen ist.

Obgleich das LSG die Revision nicht gemäß § 162 Abs.1 Nr. 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) zugelassen hat, ist sie gemäß § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG statthaft, weil der Kläger einen wesentlichen Mangel im Verfahren des Berufungsgerichts rügt, der auch vorliegt (BSG 1, 150).

Das Vordergericht hat zu Unrecht, anstatt in der Sache zu entscheiden, die Berufung als unzulässig verworfen (BSG 1, 284 = SozR Nr. 17 zu § 162 SGG). Die Auffassung des LSG, der Kläger habe mit seinem Schreiben an das SG vom 25. Mai 1965 auf das Recht der Berufung verzichtet und deshalb sei die am 2. Juli 1965 gleichwohl eingelegte Berufung unzulässig, vermag der Senat nicht zu teilen.

In entsprechender Anwendung der Vorschriften der Zivilprozeßordnung (ZPO) über den Rechtsmittelverzicht (§§ 514, 566 ZPO) gemäß § 202 SGG kann auch in den Verfahren vor den Gerichten der Sozialgerichtsbarkeit auf das Recht der Berufung wirksam verzichtet werden, wie das Bundessozialgericht (BSG) bereits ausgesprochen (BSG in SozR Nr. 1 zu § 514 ZPO) und das LSG mit Recht angenommen hat. Das Schreiben, das der Kläger am 25. Mai 1965 an das SG gerichtet hat, hat folgenden Wortlaut:

"In meiner Rentenangelegenheit haben Sie unter dem Az.: S 7 J 663/64 ein Urteil gefällt das ich als sozial nicht anzuerkennen vermag. In diesem ungewöhnlichen Härtefall hätte ein bejahendes Urteil ausfallen müssen. Von einer Berufung an das Gericht in Celle nehme ich Abstand, weil ich diesen Schritt von vornherein als nutzlos ansehe.

Ich bitte um Rückgabe der Akten an die Landesversicherungsanstalt in H und um Rückgabe der den Akten beiliegenden 3 Ärzte und Augenärztebescheinigungen an mich. Ich betrachte die Sache keineswegs als erledigt.

R B

Das LSG meint den Worten des Klägers, er nehme von einer Berufung an das Gericht in Celle Abstand, weil er diesen Schritt von vornherein als nutzlos ansehe, den Willen entnehmen zu können, sein Recht auf Anfechtung der Entscheidung des SG endgültig und "schlechtweg" aufzugeben. Durch seine Bitte, die Verwaltungsakten der Beklagten wieder zu übersenden und ihm mehrere, dem SG überreichte ärztliche Bescheinigungen zurückzusenden, werde dies besonders deutlich. Auch das BSG habe in einer Erklärung, die Berufung werde nicht weiter verfolgt, "ohne Zweifel die Preisgabe des Rechts auf Nachprüfung des erstinstanzlichen Urteils" gesehen (BSG in SozR Nr. 5 zu § 156 SGG). Wenn der Kläger am Schluß seines Schreibens sage, er betrachte die Sache keineswegs als erledigt, so habe er damit seine vorher abgegebene Erklärung, er nehme von einer Berufung Abstand, nicht einschränken, sondern nur ausdrücken wollen, daß er sich vorbehalte, auf anderem als sozialgerichtlichem Wege seine Ansprüche geltend zu machen.

Diesen Ausführungen vermag der Senat in Übereinstimmung mit der Revision nicht zu folgen.

Die Bewertung, ob mit dem Schreiben des Klägers ein Berufungsverzicht erklärt worden ist, unterliegt, da es sich um eine Prozeßerklärung handelt, der freien Würdigung und Nachprüfung durch das Revisionsgericht. Dies hat das BSG in der oben erwähnten Entscheidung bereits dargelegt. Es hat weiterhin ausgeführt, daß ein Rechtsmittelverzicht nicht ausdrücklich erklärt sein muß, sondern daß er auch vorliegen kann, wenn die Verwendung dieses Ausdrucks unterblieben ist; daß in diesem Falle ein Rechtsmittelverzicht jedoch nur dann anzunehmen ist, wenn sich aus den Gesamtumständen völlig klar und eindeutig der Verzichtswille ergibt, nämlich der Wille des Erklärenden, sein Recht auf Anfechtung der Entscheidung "schlechtweg" aufzugeben. Von diesen Grundsätzen ist auch das LSG in dem angefochtenen Urteil ausgegangen.

In dem Schreiben des Klägers an das SG fehlt die ausdrückliche Erklärung, daß er auf das Recht der Berufung verzichte. Um in den in dem Schreiben abgegebenen Erklärungen einen Berufungsverzicht erblicken zu können, müßten sie mithin den besonderen, oben dargelegten Anforderungen genügen. Dies ist nach Auffassung des Senats nicht der Fall, wenn das Schreiben, wie es geboten ist, nicht nach seinen einzelnen Sätzen und gebrauchten Worten, sondern nach dem Sinn seines Gesamtinhalts beurteilt wird.

Der Kläger hat zwar erklärt, von einer Berufung an das Gericht in Celle nehme er Abstand, weil er diesen Schritt von vornherein als nutzlos ansehe. Auch hat er hinzugefügt, er bitte um Rückgabe der Akten an die Beklagte und um Rückgabe der den Akten beiliegenden ärztlichen und augenärztlichen Bescheinigungen an ihn selbst. Wenn diese Erklärungen auch der Annahme Raum geben und die Möglichkeit nicht ausschließen, der Kläger habe den Willen gehabt, sein Recht auf Anfechtung der Entscheidung des SG durch das Rechtsmittel der Berufung endgültig und "schlechtweg" aufzugeben, so nötigen sie doch nicht zu dem Schluß, daß der Kläger mit ihnen eine rechtsgestaltende Willenserklärung habe abgeben wollen, können vielmehr auch als der bloße Ausdruck seiner damaligen Absicht, Berufung nicht einzulegen, verstanden werden. Auch lassen jene Erklärungen, wenn sie im Zusammenhang mit dem weiteren Inhalt des Schreibens beurteilt werden, die Möglichkeit zu, daß der Kläger den Willen hatte, nur zur Zeit des Schreibens an das SG die Berufung nicht einzulegen, sich aber vorbehalte, dies nach weiterer Prüfung zu einem späteren Zeitpunkt zu tun, sich also des Rechts auf Nachprüfung und Abänderung des erstinstanzlichen Urteils durch das LSG nicht endgültig und abschließend zu begeben; denn in seinem Schreiben hat der Kläger eingangs unmißverständlich erklärt, daß er mit der ergangenen Entscheidung des SG nicht einverstanden sei, daß er sie "als sozial nicht anzuerkennen vermag". Abschließend hat er erklärt, er "betrachte die Sache keineswegs als erledigt". Diese Erklärungen im Zusammenhang mit der Bitte um Rückgabe der Akten an die Beklagte und der ärztlichen Bescheinigungen an ihn selbst lassen immerhin die Möglichkeit zu, der Kläger habe sich zur weiteren Vorbereitung der Fortsetzung des Verfahrens auf Grund der ärztlichen Unterlagen beraten lassen und anhand der an die Beklagte zurückgesandten Akten mit dieser unmittelbar verhandeln wollen, bevor er sich endgültig entschließe, ob er Berufung einlegen wolle. Zwar könnte gesagt werden, diese Möglichkeit stehe im Widerspruch zu der Erklärung des Klägers, von einer Berufung an das Gericht in Celle nehme er Abstand, weil er diesen Schritt von vornherein als nutzlos ansehe. Fehlen indessen in der abgegebenen Prozeßerklärung, die als Verzicht auf das Recht der Berufung gedeutet werden soll, die ausdrücklich gebrauchten Worte, daß er auf das Rechtsmittel der Berufung verzichte, so muß doch bei einer so bedeutungsvollen und einschneidenden Prozeßerklärung des Rechtsmittelverzichts der Inhalt der Erklärung den Willen, auf das Recht der Berufung zu verzichten, so eindeutig zu erkennen geben, daß jeder vernünftige Zweifel über den wirklichen Willen des Erklärenden ausgeschlossen ist. Der Gesamtinhalt der in dem Schreiben des Klägers an das SG enthaltenen Erklärungen läßt aber eine solche zweifelsfreie Auslegung nicht zu. Vor allem deshalb nicht, weil der Kläger durch seine Erklärungen keineswegs eindeutig seinen Entschluß und Willen zu erkennen gegeben hat, daß er das Urteil des SG ohne weiteres als endgültig hinnehme, dieses Urteil rechtskräftig werden solle und er das Gerichtsverfahren als abgeschlossen betrachte. Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus der Entscheidung des 11. Senats in SozR Nr. 5 zu § 156 SGG, auf die sich das LSG bezieht.

Dort war nach Einlegung der Berufung in der Erklärung, daß die Berufung hinsichtlich der Vergleichsberechnung nicht weiter verfolgt werde, ohne Zweifel die Preisgabe des Rechts der Nachprüfung und Abänderung des erstinstanzlichen Urteils hinsichtlich der Vergleichsberechnung erblickt worden. Eine solche in einem anhängigen Berufungsverfahren abgegebene, die Berufung beschränkende Erklärung kann aber nicht ohne weiteres mit einer Erklärung in einem Schreiben gleichgestellt werden, das nach Beendigung des Verfahrens der ersten Instanz, ohne daß ein Berufungsverfahren anhängig war, an das SG gerichtet ist und den Verzicht auf das Recht der Berufung schlechthin beinhalten soll. Da demnach die in dem Schreiben des Klägers an das SG enthaltenen Erklärungen nicht zu der jeden Zweifel ausschließenden Auslegung zwingt, der Kläger habe mit diesen Erklärungen auf das Recht der Berufung verzichtet, ist es auch nicht gerechtfertigt, einen solchen Verzicht als erklärt anzusehen.

Hat der Kläger aber auf das Recht der Berufung nicht verzichtet, so hätte das LSG auf die am 2. Juli 1965 form- und fristgerecht eingelegte Berufung des Klägers in der Sache entscheiden müssen und kein Prozeßurteil fällen dürfen. Der hierin liegende wesentliche Mangel im Verfahren des Berufungsgerichts macht die Revision gemäß § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG statthaft.

Die danach zulässige Revision ist insoweit begründet, als das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache an das LSG zurückzuverweisen ist. Da es in dem angefochtenen Urteil für eine Entscheidung in der Sache an ausreichenden tatsächlichen Feststellungen fehlt, kann das Revisionsgericht in der Sache selbst nicht entscheiden.

Die Entscheidung über die Erstattung außergerichtlicher Kosten in dem Revisionsverfahren bleibt der das Verfahren abschließenden Entscheidung vorbehalten.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI2374921

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