Leitsatz (amtlich)

Legt ein Beteiligter gegen einen Verwaltungsakt Widerspruch ein, obgleich ein Vorverfahren nicht stattzufinden hat und verfolgt er dabei erkennbar die Absicht, eine Änderung der Verwaltungsentscheidung durch eine weisungsfreie Stelle zu erreichen, so kann der Widerspruch in die Klage umgedeutet werden.

 

Normenkette

SGG § 90 Fassung: 1953-09-03, § 92 Fassung: 1953-09-03

 

Tenor

Das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 20. März 1973 wird aufgehoben. Der Rechtsstreit wird an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

 

Gründe

Der Kläger strebt mit Rücksicht auf Sachbezüge, die er von 1921 bis 1941 neben Barbezügen erhalten habe, die Erhöhung der ihm bewilligten Versichertenrente an (Art. 2 § 55 des Arbeiterrentenversicherungs-Neuregelungsgesetzes - ArVNG -). Mit Bescheid vom 7. April 1971 lehnte es die Beklagte ab, die Rente anzuheben, insbesondere deshalb, weil der Kläger bei seinem Vater beschäftigt gewesen sei, als er freie Kost und Wohnung erhalten habe. Die Zustellung des Bescheides der Beklagten, der als Einschreiben zur Post gegeben wurde, gilt als am 19. April 1971 bewirkt. Am 22. April 1971 ging bei der Beklagten ein Schreiben ein, das an die "Widerspruchsstelle" der Landesversicherungsanstalt (LVA) adressiert war und in dem der Kläger erklärte, er lege "Widerspruch zur Landesversicherungsanstalt" ein mit dem Antrag zu erkennen, daß der Versicherungsträger zur Höherbewertung der streitigen Beiträge verpflichtet sei. Die Beklagte leitete die Eingabe des Klägers weiter an das Sozialgericht (SG). Dort lag sie am 30. April 1971 vor. Nach Beweiserhebung hob das SG den ablehnenden Bescheid teilweise auf und verurteilte die Beklagte, die Versicherungszeiten zwischen Februar 1924 und Januar 1941 nach Art. 2 § 55 Abs. 2 ArVNG zu bewerten.

Das Landessozialgericht (LSG) hat dieses Urteil aufgehoben und die Klage abgewiesen. Seines Erachtens hat das erstinstanzliche Gericht zu Unrecht in der Sache selbst entschieden. Es hätte - so das LSG - die Klage, weil verspätet, als unzulässig abweisen müssen. Die Frist zur Klageerhebung habe am 19. Mai 1971 geendet. Zu diesem Zeitpunkt habe es eine Klage nicht gegeben. Der "Widerspruch" des Klägers könne nicht als Klage gewertet werden, weil in ihm nicht das Verlangen um Rechtsschutz durch das Gericht ausgesprochen sei. Eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand komme nicht in Betracht, weil der Kläger die ihm erteilte Rechtsbehelfsbelehrung mißachtet und somit die Fristversäumnis verschuldet habe. - Das LSG hat die Revision nicht zugelassen.

Der Kläger hat gleichwohl Revision eingelegt. Er beantragt, das Berufungsurteil aufzuheben und den Rechtsstreit an die Vorinstanz zurückzuverweisen. Er meint, das LSG hätte von der Existenz einer rechtzeitig erhobenen Klage ausgehen müssen. Die Abgabe der "Widerspruchs"schrift durch die Beklagte und die Art, wie das SG die Sache behandelt habe, entsprächen einer ständigen, rechtlich zutreffenden Praxis.

Die Beklagte beantragt, die Revision als unzulässig zu verwerfen.

Die Revision ist zulässig; mit ihr ist ein wesentlicher Verfahrensmangel formgerecht geltend gemacht worden (§ 162 Abs. 1 Nr. 2, § 164 Abs. 2 Satz 2 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -). Das LSG hätte in der Sache selbst entscheiden und nicht die Klage wegen Fehlens einer Prozeßvoraussetzung als unzulässig abweisen dürfen. Der Rentenfeststellungsbescheid der Beklagten, der eine Leistung betraf, auf die ein Rechtsanspruch bestand, war allerdings mit der Klage anzufechten. Ein Vorverfahren hatte nicht stattzufinden (§ 79 Nr. 1 SGG). In dem "Widerspruch" des Klägers gegen die Ablehnung der Gewährung einer höheren Rente hätte das Berufungsgericht aber die Klage erblicken müssen.

Richtig ist, daß ein Ausspruch der Unzufriedenheit mit einer Verwaltungshandlung oder eine Kritik an einer behördlichen Maßnahme allein nicht als Klage anzusehen ist. In solchen Fällen mag man geneigt sein, eher von einem Widerspruch als von einer Klage auszugehen. Darauf, daß lediglich ein Mißfallen kundgegeben werden soll, mag es auch hindeuten, wenn bloß Gegenvorstellungen erhoben und an die Adresse der Behörde oder des Versicherungsträgers gerichtet werden, gegen deren Akt sich der Betreffende wendet (vgl. BSG 3.7.1962 - 7 RKg 15/59 -; 29.6.1967 - 2 RU 93/66 -). Zur sozialgerichtlichen Anfechtungs- und Leistungsklage gehört der Wille, durch Ingangsetzung des gerichtlichen Verfahrens eine Änderung derjenigen Verwaltungsentscheidung herbeizuführen, durch die der Beteiligte sich beschwert fühlt. Dieser Wille muß erkennbar geäußert sein. Im Vordergrund steht indessen das von dem Beteiligten gewünschte Resultat. In der Regel wünscht der Rechtsuchende die vorurteilsfreie Prüfung der beanstandeten Entscheidung. Demgegenüber hat für ihn der dafür einzuschlagende Weg, nämlich die Bitte um richterlichen Rechtsschutz im allgemeinen nur untergeordnete Bedeutung. Deshalb kann bei einem Sachverhalt wie dem hier zu beurteilenden die Klageabsicht ohne weitere Rückfrage unterstellt werden. Diese Absicht wäre selbst dann nicht fraglich, wenn der Kläger die Verwaltung erst noch zur Selbstkorrektur hätte veranlassen wollen. Bei verständiger Würdigung kann nicht zweifelhaft sein, worum es dem Kläger - jedenfalls in erster Linie - ging, und daß er seine Rechtsverfolgung nicht wegen einer Fristversäumnis scheitern lassen wollte. Außerdem ist zu bedenken, daß die beklagte Verwaltung das Vergreifen des Klägers im richtigen Rechtsbehelf noch vor Ablauf der Klagefrist bemerkte. Bei Zweifel an der Klageabsicht hätte es an ihr gelegen, bei dem Kläger zurückzufragen. Da man von einem vernünftig handelnden Kläger auszugehen hat, ist zu unterstellen, daß der Hinweis der Beklagten bei der noch offenen Frist so gut wie sicher die rechtzeitige Klarstellung der Klageabsicht zur Folge gehabt hätte. Aus diesem Grunde war es gerechtfertigt, auch ohne ein Befragen des Klägers seinen Widerspruch in die Klage umzudeuten. Ein solches Vorgehen entspricht dem für alle Prozeßordnungen anerkannten Grundsatz, daß ein Verkennen der verfahrensrechtlichen Lage möglichst nicht zu einem Verlust an Rechtsschutz führen soll (dazu: Vollkommer, Formenstrenge und prozessuale Billigkeit, 1973, 30 f. mit Rechtsprechungsnachweisen, 38, 55). Dieser Gedanke ist in der gesetzlichen Ordnung des sozialgerichtlichen Verfahrens selbst verwirklicht. Auf ihm beruht vor allem § 91 SGG, wonach die Frist für die Erhebung der Klage auch dann als gewahrt gilt, wenn die Klageschrift innerhalb der Frist statt bei dem zuständigen Gericht bei einer anderen inländischen Behörde oder einem Versicherungsträger eingegangen ist. Die gleiche Erwägung liegt § 92 SGG zugrunde, der nahezu von jedem Formerfordernis an die Klage absieht.

Hiernach ist der strengeren Auffassung des Berufungsgerichts nicht beizupflichten. Sein Verfahren erscheint mit der Sozialgerichtsordnung nicht vereinbar. Mit dem auf diese Überlegung gegründeten Revisionsangriff hat sich der Kläger das Rechtsmittel eröffnet. Die Revision ist auch begründet, weil das LSG von einer Sachentscheidung zu Unrecht abgesehen hat. Damit diese nachgeholt werden kann, ist das Berufungsurteil aufzuheben und der Rechtsstreit an das LSG zurückzuverweisen.

Die Entscheidung über die Kosten des Revisionsverfahrens bleibt dem Berufungsgericht vorbehalten.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1646700

Dieser Inhalt ist unter anderem im Deutsches Anwalt Office Premium enthalten. Sie wollen mehr?


Meistgelesene beiträge