Leitsatz (amtlich)
Abfassung des Urteils - absoluter Revisionsgrund: 1. Liegen zwischen der Beratung und Beschlußfassung über ein Urteil und der Absetzung und Zustellung zwei Jahre und vier Monate, geben die Entscheidungsgründe das Beratungsergebnis nicht mehr zutreffend wieder, so daß eine verläßliche Grundlage für die revisionsrichterliche Nachprüfung fehlt.
2. Der darin zu erblickende absolute Revisionsgrund entspricht dem eines Urteils ohne Entscheidungsgründe.
Normenkette
SGG § 134 S 2 Fassung: 1953-09-03, § 202 Fassung: 1953-09-03; ZPO § 551 Nr 7
Verfahrensgang
Tatbestand
I
Die Klägerin, von Beruf medizinisch-technische Assistentin, erkrankte im Jahre 1967 an einer infektiösen Gelbsucht, die vom Beklagten als Berufskrankheit anerkannt wurde. Nachdem der Beklagte der Klägerin zunächst vorübergehend die Vollrente gewährt hatte, setzte sie im Jahre 1970 die Rente auf eine Teilrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 50 vH und im Jahre 1972 auf eine solche nach einer MdE um 30 vH herab. Aufgrund eines vom Beklagten veranlaßten Gutachtens vom 15. Januar 1973, wonach Zeichen für einen aktiven Leberprozeß nicht mehr bestanden, entzog der Beklagte mit Bescheid vom 25. Juni 1973 die bisherige Dauerrente mit Ablauf des Monats Juli 1973, weil die Erwerbsfähigkeit durch Folgen der Berufskrankheit nicht mehr in meßbarem Grade gemindert werde. Das Sozialgericht (SG) Wiesbaden hat die Klage durch Urteil vom 23. Mai 1975 abgewiesen. Gegen dieses Urteil hat die Klägerin Berufung eingelegt.
Über die Berufung - die Beteiligten hatten sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung durch Urteil einverstanden erklärt - hat der 3. Senat des Hessischen Landessozialgerichts (LSG) am 3. November 1976 beraten, und zwar mit dem Ergebnis, daß das Urteil des SG und der Bescheid des Beklagten vom 25. Juni 1973 aufzuheben seien. Eine entsprechende Urteilsformel hat es schriftlich abgefaßt. Ohne Wissen der Berufsrichter des 3. Senats des LSG hat der Urkundsbeamte der Geschäftsstelle des LSG die Urteilsformel dem Prozeßbevollmächtigten der Klägerin mitgeteilt. Am 5. Januar 1977 hat der 3. Senat des LSG wiederum über die Berufung beraten und nunmehr entschieden, daß das Urteil des SG und der Bescheid des Beklagten nicht allein aus formellen Gründen aufgehoben werden dürften und im übrigen der Bescheid der Sach- und Rechtslage entspreche.
Die durch das Urteil des LSG vom 5. Januar 1977 beschwerte Klägerin hat gegen dieses Urteil Revision eingelegt. Der 2. Senat des Bundessozialgerichts (BSG) hat durch Urteil vom 14. Dezember 1978 - 2 RU 23/77 - das Urteil des LSG aufgehoben. Er hat es als erwiesen angesehen, daß der 3. Senat des LSG am 3. November 1976 unter Zuziehung der ehrenamtlichen Richter ohne mündliche Verhandlung das Urteil des SG vom 23. Mai 1975 und den Bescheid des Beklagten vom 25. Juni 1973 aufgehoben sowie die Revision zugelassen hat. An dieses Urteil sei der 3. Senat des LSG gebunden gewesen, weil der Urkundsbeamte dem Prozeßbevollmächtigten der Klägerin die Entscheidung bekanntgegeben habe. Der Beklagte, dem das Urteil des BSG am 5. Februar 1979 zugestellt worden war, hat aufgrund dieser Feststellungen gegen das Urteil des LSG vom 3. November 1976 am 28. Februar 1979 Revision eingelegt. Das Urteil hat das LSG nach Eingang der Revision des Beklagten in vollständiger Form abgefaßt.
Es hat die Revision zugelassen.
Der Beklagte rügt insbesondere eine Verletzung der §§ 103, 128 Abs 1 Satz 2, 136 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG), des § 551 Nr 7 der Zivilprozeßordnung (ZPO) sowie der §§ 580, 581, 622 der Reichsversicherungsordnung (RVO).
Der Beklagte beantragt,
das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 3. November 1976 aufzuheben und die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Wiesbaden vom 23. Mai 1975 zurückzuweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Revision als unzulässig zu verwerfen, hilfsweise, die Revision als unbegründet zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
II
Die Revision des Beklagten ist begründet. Das angefochtene Urteil ist aufzuheben. Der Rechtsstreit ist zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.
Die Revision des Beklagten ist statthaft und zulässig. Sie wendet sich gegen ein wirksam gewordenes Berufungsurteil, das das LSG aufgrund des Ergebnisses seiner Beratung vom 3. November 1976 ohne mündliche Verhandlung (§ 124 Abs 2 SGG) in ordnungsmäßiger Besetzung unter Zuziehung von zwei ehrenamtlichen Richtern (§ 33 SGG) beschlossen hat. Dies hat der 2. Senat des BSG nach Beweisaufnahme in seinem Urteil vom 14. Dezember 1978 - 2 RU 23/77 - (SozR 1200 § 124 Nr 5) festgestellt. Der erkennende Senat hat keine Bedenken, diese Feststellungen zu übernehmen. Zwar hätte der Beklagte das ihn beschwerende Urteil des LSG vom 3. November 1976 bereits lange vor der erst am 24. April 1979 erfolgten Zustellung der nachträglichen schriftlichen Abfassung mit der Revision anfechten können, wenn ihm die unerlaubte Kundgabe der beschlossenen Urteilsformel durch den Urkundsbeamten der Geschäftsstelle des 3. Senats des LSG an den Prozeßbevollmächtigten der Klägerin ebenfalls wie dieser bekannt gewesen wäre (vgl Meyer-Ladewig, SGG, § 125 Anm 4, § 133 Anm 2, Eyermann/Fröhler VwGO 7. Aufl, § 116 Anm 17). Da er eine solche Kenntnis indes nicht hatte, sondern hiervon erst mit Gewißheit durch die Gründe des Urteils des 2. Senats des BSG vom 14. Dezember 1978 erfuhr, ist es nicht zu beanstanden, daß er seine Revision am 28. Februar 1979 und damit immer noch vor der Zustellung der nachträglichen Urteilsfassung (24. April 1979) eingelegt hat. Entgegen der Rechtsauffassung der Klägerin hat der Beklagte die Revision nicht durch Zeitablauf verwirkt (Meyer-Ladewig aaO § 133 Anm 4; Thomas/Putzo, ZPO, 10. Aufl 1978, § 310 Anm 3c). Von Verwirkung könnte mit Recht nur gesprochen werden, wenn der Beklagte unter Verhältnissen untätig geblieben wäre, unter denen vernünftigerweise etwas zur Wahrung der Rechte unternommen zu werden pflegt (Meyer-Ladewig, aaO, § 151 Anm 8 und 9, § 66 Anm 13). Dem war hier aber gerade nicht so.
Soweit der Beklagte in der Verfügung des Senatsvorsitzenden vom 21. März 1979, womit die Prozeß- und Beiakten dem LSG mit der Bitte zurückgegeben worden waren, sie erneut vorzulegen, sobald das angefochtene Urteil abgesetzt und zugestellt sei, einen unzulässigen Eingriff in das zweitinstanzliche Verfahren glaubt sehen zu müssen, weil es spätestens im Zeitpunkt der Revisionseinlegung abgeschlossen gewesen sei, kann ihm nicht gefolgt werden. Mit dieser Verfügung war kein Eingriff in das Verfahren des LSG verbunden. Denn dieses Verfahren war mit der Beschlußfassung des 3. Senats des LSG am 3. November 1976 abgeschlossen. Indes fehlten die schriftliche Urteilsfassung und deren Zustellung an die Beteiligten. Diese nachholen zu lassen war allein der Zweck der Verfügung des Senatsvorsitzenden.
Das angefochtene Urteil ist nach § 202 SGG iVm § 551 Nr 7 ZPO aufzuheben, weil es entgegen § 134 Satz 2 SGG so erheblich verspätet abgefaßt ist, daß die Entscheidungsgründe dieses Urteils nicht mehr das Beratungsergebnis zutreffend wiedergeben, so daß die Grundlage der revisionsrichterlichen Nachprüfung in Frage gestellt ist (Meyer-Ladewig, aaO, § 162 Anm 10 am Ende, § 134 Anm 3; BVerwGE MDR 1976, 782). Zwar setzt der auch im sozialgerichtlichen Verfahren gemäß § 202 SGG entsprechend anwendbare absolute Revisionsgrund des § 551 Nr 7 ZPO voraus, daß die Entscheidung nicht mit Gründen versehen ist. Das angefochtene Urteil enthält Entscheidungsgründe. In der Rechtsprechung ist jedoch dieser absolute Revisionsgrund, bei dem - wie bei jedem absoluten Revisionsgrund - die Ursächlichkeit der Gesetzesverletzung unwiderleglich vermutet wird (Meyer-Ladewig, aaO, § 162 Anm 10 am Anfang), auch auf solche Fälle ausgedehnt worden, in denen die Entscheidungsgründe des Urteils zunächst völlig fehlen und erst später nachgeschoben werden (Thomas/Putzo, aaO § 551 Anm 2 zu Nr 7, Zöller-Wolfsteiner, ZPO, 12. Aufl 1979, § 551 Anm 1 g; Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, ZPO, 37. Aufl 1979, § 551 Anm 8 zu Nr 7). Die Entscheidungsgründe sind ersichtlich erst nach Eingang der Verfügung des Senatsvorsitzenden vom 21. März 1979 (26. März 1979) abgefaßt worden. Damit lagen zwischen der Beschlußfassung über die Urteilsformel der Entscheidung am 3. November 1976 und dem Eingang der genannten Verfügung beim LSG am 26. März 1979 mehr als zwei Jahre und vier Monate. Es kann offen bleiben, wie lange die Frist zur Nachholung fehlender Entscheidungsgründe äußerstenfalls sein darf, um nicht den Tatbestand des absoluten Revisionsgrunds nach § 551 Nr 7 ZPO zu erfüllen (vgl zu dieser Frage: Zöller/Wolfsteiner, aaO). Jedenfalls ist sie hier längst überschritten.
Das LSG wird nunmehr den Fall neu zu entscheiden und dabei die von den Beteiligten vorgebrachten rechtserheblichen Gesichtspunkte zu würdigen haben.
Die Kostenentscheidung bleibt der Endentscheidung vorbehalten.
Fundstellen