Beteiligte

Kläger und Revisionskläger

Beklagte und Revisionsbeklagte

 

Tatbestand

I

Der am 26. Oktober 1904 in Trautenau (Sudetenland) geborene und in der Tschechoslowakei (CSSR) aufgewachsene, zuletzt in Sofia tätig gewesene Kläger war 1939 über Spanien nach Brasilien ausgewandert. Jetzt lebt er in den Vereinigten Staaten von Amerika und besitzt die dortige Staatsangehörigkeit. Im Januar 1971 beantragte er bei der Beklagten die Gewährung einer Rente aus der gesetzlichen Rentenversicherung.

Durch Bescheid vom 7. Oktober 1971 lehnte die Beklagte den Antrag auf Altersruhegeld ab. Nach § 15 des Fremdrenten- und Auslandsrentengesetzes (FRG) könne aus den zur tschechoslowakischen Versicherung entrichteten Beiträgen eine Leistung nur bewilligt werden, wenn in der Person des Klägers die besonderen Voraussetzungen des § 1 FRG erfüllt seien - hier des § 1 Buchst. a FRG -. Somit müsse nachgewiesen werden, daß eine Vertreibung im Sinne des § 1 des Bundesvertriebenen- und Flüchtlingsgesetzes (BVFG) vorgelegen habe. Dieser Nachweis sei trotz mehrfacher Anforderung nicht beigebracht. Auch seien keine Unterlagen eingesandt, aus denen hervorgehe, daß der Kläger zum Personenkreis des § 1 des Bundesentschädigungsgesetzes (BEG) gehöre. Damit hätte schließlich auch nicht geprüft werden können, ob u.U. die Vorschriften des Gesetzes zur Regelung der Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts in der Sozialversicherung (WGSVG) i.d.F. des Gesetzes zur Änderung und Ergänzung der Vorschriften über die Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts in der Sozialversicherung (WGSVÄndG) vom 22. Dezember 1970 (BGBl. I 1846) Anwendung zu finden hätten und die Anerkennung von Ersatzzeiten nach § 28 Abs. 1 Nr. 4 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG) ermöglichen könnten.

Hiergegen erhob der Kläger Klage vor dem Sozialgericht (SG) Berlin. Sein Antrag auf Ausstellung eines Vertriebenenausweises wurde inzwischen endgültig abgelehnt. In seinem Bescheid vom 27. Juli 1971 hatte der Regierungspräsident in Köln ausgeführt, der Kläger habe die CSSR bereits 1937 verlassen uns sei nach einjährigem Aufenthalt in Bulgarien nach Spanien und 1939 nach Brasilien ausgewandert. 1937 hätten in der CSSR noch keine nationalsozialistischen Verfolgungsmaßnahmen gedroht. Im Widerspruchsbescheid vom 16. Dezember 1971 hieß es zusätzlich, der Kläger hätte zuletzt seinen Wohnsitz in Sofia gehabt. Diese Stadt habe er bereits 1938 und somit vor dem Beginn der gegen die deutsche Bevölkerung gerichteten Vertreibungsmaßnahmen verlassen, so daß die Voraussetzungen des § 1 Abs. 1 BVFG nicht vorlägen. Aber auch der Tatbestand des § 1 Abs. 2 Nr. 1 BVFG sei nicht erfüllt, da damals in Sofia noch keine nationalsozialistischen Gewaltmaßnahmen gedroht hätten.

Durch Urteil vom 6. März 1973 wies das SG die Klage auf Aufhebung des Bescheides vom 7. Oktober 1971 und Verurteilung der Beklagten zur Zahlung von Altersruhegeld. Die hiergegen eingelegte Berufung blieb erfolglos. In seinem Urteil vom 7. Februar 1975 führte das Landessozialgericht (LSG) Berlin aus, der Kläger habe die erforderliche Wartezeit von 180 Kalendermonaten für das begehrte Altersruhegeld nicht erfüllt. § 15 Abs. 1 FRG sei nicht anwendbar, weil der Kläger nicht zu dem in § 1 FRG genannten Personenkreis gehöre. Er sei nicht als Vertriebener im Sinne der Vorschriften des BVFG anerkannt. Anerkannt sei hiernach nur derjenige, der einen Bundesvertriebenenausweis besitze (§ 15 BVFG). Einen solchen Ausweis habe der Kläger nicht, er sei ihm durch die Bescheide des Regierungspräsidenten in Köln vom 27. Juli und 16. Dezember 1971 verweigert worden. Diese Entscheidungen seien für die Beklagte wie auch für die Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit verbindlich, so daß diese nicht mehr berechtigt seien, in eigener Zuständigkeit zu prüfen, ob der Kläger den Vertriebenenstatus besitze oder nicht.

Eine solche Prüfung sei der Beklagten wie den Gerichten auch im Rahmen des § 20 WGSVG verwehrt, wenn, wie im vorliegenden Falle, eine Entscheidung der Vertriebenenbehörde vorliege, in der die Anerkennung der Vertriebeneneigenschaft aus anderen als den in § 20 WGSVG genannten Gründen abgelehnt worden sei. Eine solche Ablehnung aus anderen Gründen bleibe für die erwähnten Stellen ebenfalls bindend. Dies ergebe sich aus dem Wortlaut des Gesetzes wie aus seiner Zweckbestimmung.

Die in § 20 WGSVG angeführter Alternative für diejenigen, die lediglich deswegen nicht als Vertriebene "anerkannt werden können", weil sie sich nicht ausdrücklich zum deutschen Volkstum bekannt haben, berechtige ebenfalls nicht zu einer erneuten Prüfung, da diese Regelung nur dann Anwendung finde, wenn eine Entscheidung der Vertriebenenbehörde noch nicht vorliege.

Eine Anerkennung der vom Kläger in der CSSR zurückgelegten Beitragszeiten komme nach alledem nicht in Betracht. Dies habe zur Folge, daß die von ihm geltend gemachten Ersatzzeit wegen verfolgungsbedingten Auslandsaufenthalts nicht berücksichtigt werden könne (§ 28 Abs. 2 AVG).

Mit der vom Senat nach den §§ 160 Abs. 2 Nr. 1, 160a Abs. 4 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) zugelassenen Revision beantragt der Kläger,das angefochtene Urteil und das Urteil des SG Berlin vom 6. März 1973 sowie den Bescheid der Beklagten vom 7. Oktober 1971 aufzuheben und diese zu verurteilen, ihm Altersruhegeld wegen Vollendung des 65. Lebensjahres seit dem 1. Februar 1971 zu gewähren.

Gerügt wird unrichtige Anwendung des § 20 WGSVG. Das LSG hätte den Sachverhalt selbst und ohne Bindung an die Entscheidungen der Vertriebenenbehörde uneingeschränkt sachlich und rechtlich nachprüfen müssen. Alsdann hätte es der Klage stattgeben müssen.

Die Beklagte beantragt,die Revision zurückzuweisen,

da das angefochtene Urteil richtig sei. § 20 WGSVG stelle auf die Nichtanerkennung als Vertriebener aus den dort näher bezeichneten Gründen ab. Der Versicherungsträger habe daher nicht über die Vertriebeneneigenschaft zu befinden, sondern sich insoweit an die Entscheidungen der Vertriebenenbehörden zu halten.

II

Die Revision des Klägers ist insoweit begründet, als das angefochtene Urteil aufgehoben und der Rechtsstreit zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückverwiesen werden muß.

Das WG ist zutreffend davon ausgegangen, daß dir Anspruch des Klägers auf Gewährung des Altersruhegeldes davon abhängt, ob er zu dem in § 20 WGSVG aufgeführten Personenkreis gehört, auf den die Vorschriften des FRG Anwendung finden. Nur für diesen Fall kommt nämlich gemäß § 15 FRG eine Anrechnung der vom Kläger bei der Allgemeinen Pensionsanstalt in Prag zurückgelegten Beitragszeiten und einer etwaigen Ersatzzeit nach § 28 Abs. 1 Nr. 4, Abs. 2 AVG auf die erforderliche Wartezeit (§ 25 Abs. 7 AVG) in Betracht.

Entgegen der Auffassung des LSG scheitert die Gleichstellung des Klägers mit den anerkannten Vertriebenen im Sinne des BVFG bei der Anwendung des FRG nicht bereits daran, daß ihm die Anerkennung als Vertriebener durch die Bescheide des Regierungspräsidenten in Köln vom 27. Juli und 16. Dezember 1971 versagt geblieben ist. § 20 WGSVG läßt die Gleichstellung mit den Vertriebenen im Sinne des BVFG bei vertriebenen Verfolgten zu, die lediglich deshalb nicht als Verfolgte anerkannt sind oder anerkannt werden können, weil sie sich nicht ausdrücklich zum deutschen Volkstum bekannt haben, falls sie hinsichtlich der deutschen Volkszugehörigkeit die Voraussetzungen des § 4 Abs. 4 BEG erfüllen. Wie aus der Alternative "anerkannt sind oder anerkannt werden können" erhellt, begünstigt das Gesetz sowohl vertriebene Verfolgte, bei denen die - bescheidmäßige - Ablehnung als Vertriebener vorliegt, als auch solche, bei denen eine derartige Ablehnung nicht erfolgt ist. Für letztere entscheiden die Versicherungsträger und im Streitfall die Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit über die Vertriebeneneigenschaft im Sinne des § 20 WGSVG ohne Vorabentscheidung der Vertriebenenbehörde in eigener Zuständigkeit. Wollte man gleichwohl eine allgemeine Bindung an die Gründe im Ablehnungsbescheid der Vertriebenenbehörde bei all denjenigen Verfolgten bejahen, die sich - wie der Kläger - bereits um die Anerkennung als Vertriebener im Sinne des BVFG bemüht haben, so würde dies zu einer sachlich nicht gerechtfertigten Schlechterstellung dieser von § 20 WGSVG ebenfalls erfaßten Personen führen. Unter Berücksichtigung der im Rahmen dieser Vorschrift gebotenen Gleichbehandlung der Verfolgten mit und ohne rechtsverbindlicher Ablehnung der Vertriebeneneigenschaft kam § 20 WGSVG nur so verstanden werden, daß eine Nichtanerkennung als Vertriebener "lediglich" wegen des fehlenden ausdrücklichen Bekenntnisses zum deutschen Volkstum auch dann anzunehmen ist, wenn dieser Grund in dem verbindlichen Ablehnungsbescheid der Vertriebenenbehörde nicht aufgeführt ist, die Anerkennung als Vertriebener aber - unabhängig von den im Bescheid angeführten Gründen - letztlich an diesem Grund gescheitert wäre.

Daraus folgt, daß das LSG bei der Prüfung und Feststellung der Vertriebeneneigenschaft im Sinne des § 20 WGSVG an die Ablehnungsgründe der Bescheide des Regierungspräsidenten in Köln vom 27. Juli und 16. Dezember 1971 ebensowenig gebunden sei kann wie bei der Prüfung und Feststellung der Verfolgteneigenschaft im Sinne des § 1 WGSVG an eine etwaige vorangegangene Entscheidung der Wiedergutmachungsbehörde (vgl. hierzu die Begründung zu § 2 des Regierungsentwurfs - BT-Drucks. VI/715 S. 9 -, und die vom Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung vorgenommene Änderung entsprechend dem Ausschußbericht mm 12.11.1970 - BT-Drucks, VI/1449 S. 2-).

Hierfür spricht auch die Tatsache. daß das sonstige Wiedergutmachungsrecht bei vertriebenen Verfolgten - anders als § 1 Buchst. a FRG - es nicht auf die förmliche Anerkennung, sondern auch auf die tatsächliche Vertriebeneneigenschaft abstellt (vgl. §§ 4 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. e., 61 Abs. 1 Satz 3 und 64 Abs. 1 Satz 2 BEG). Auch handelt es sich bei der Anwendbarkeit des FRG um sozialversicherungsrechtliche Fragen, deren Entscheidung nicht zum Aufgabenbereich der Vertriebenenbehörde gehört. Nur bei der aufgezeigten Auslegung des § 20 WGSVG kann somit eine unterschiedliche Behandlung von Verfolgten vermieden werden, je nachdem, ob sie einen - später abgelehnten - Antrag auf Zuerkennung der Vertriebeneneigenschaft bei der Vertriebenenbehörde gestellt oder ob sie sich unmittelbar an den Versicherungsträger gewandt haben.

Das Berufungsgericht durfte sich somit nicht darauf beschränken, allein die Bescheide des Regierungspräsidenten in Köln, mit denen dem Kläger die Anerkennung als Vertriebener verweigert worden war, mit der in ihnen gegebenen Begründung zur Grundlage seiner Entscheidung zu machen, ohne im übrigen den Sachvortrag des Klägers nachzuprüfen. Hiernach hat der Kläger als rassisch Verfolgter im September 1939 Bulgarien wegen einen drohenden NS-Verfolgung verlassen. Erweist sich dieses Vorbringen des Klägers als zutreffend, so kann er sehr wohl unter den Tatbestand des § 1 Abs. 2 Nr. 1 BVFG fallen, weil er dann ein Gebiet außerhalb der Grenzen des Deutschen Reiches nach dem Gebietsstand vom 31. Dezember 1937 verfolgungsbedingt verlassen hat. Hinzu kommt, daß auch § 1 Abs. 1 i.V.m. Satz 2 und 3 BVFG bisher nicht ausreichend berücksichtigt worden ist. Der Kläger könnte auch im Jahre 1938 Trautenau als seinen bestimmenden Wohnsitz infolge des deutschen Einmarsches in das Sudetenland verloren haben. Auch die Anrechnung einer Ersatzzeit nach § 28 Abs. 1 Nr. 4 AVG i.d.F. des WGSVÄndG käme sodann in Betracht, wenn der Kläger aus Verfolgungsgründen nicht mehr nach Trautenau zurückkehren konnte.

Nach alledem hätte das LSG den erhobenen Rentenanspruch in vollem Umfang sachlich nachprüfen müssen. Das angefochtene Urteil war deswegen gemäß § 170 Abs. 2 Satz 2 SGG aufzuheben und der Rechtsstreit an das Berufungsgericht zurückzuverweisen, weil der Senat die noch erforderlichen tatsächlichen Feststellungen nicht selbst treffen kann.

Die Entscheidung über die Kosten des Rechtsstreits bleibt dem LSG vorbehalten.1 RA 125/75

Bundessozialgericht

Verkündet am 31. März 1976

 

Fundstellen

Dokument-Index HI518769

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