Leitsatz (redaktionell)
Zur Frage des Unfallversicherungsschutzes beim Sturz aus einem fahrenden Zug.
Normenkette
RVO § 550 Abs. 1 Fassung: 1974-04-01
Tenor
Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 26. August 1975 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte hat dem Kläger auch die Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.
Tatbestand
Der im Jahre 1948 geborene Kläger war als Arbeiter in einem Saatensilo einer Pflanzenölfabrik in H beschäftigt. Am 15. Dezember 1971 hatte er Spätschicht, die bis 22.00 Uhr dauerte. Um nach Hause zu gelangen, mußte er von H bis T mit der Bahn und vom Bahnhof T mit seinem dort abgestellten Fahrrad fahren. Nach Arbeitsschluß hatte ein Arbeitskollege den Kläger mit dem Pkw zum Bahnhof H mitgenommen und dort nach einer Fahrt von etwa 10 Minuten gegen 22.10 Uhr abgesetzt. In der Bahnhofsvorhalle traf der Kläger seine Schwägerin. Nach deren Angaben tranken sie an einem Imbißstand jeweils eine kleine Flasche Bier, und der Kläger aß noch eine Karbonade. Um 22.26 Uhr fuhr der Kläger mit dem Nahverkehrszug nach T. Er hielt sich im letzten Vorraum des letzten Wagens auf. Während der Fahrt stellte der diensthabende Zugführer den Kläger, der erbrochen und damit die Ausstiegstür verschmutzt hatte, deswegen zur Rede. Der Kläger fragte den Zugführer vergeblich nach einem Eimer Wasser und wischte die durch das Erbrochene verschmutzte Scheibe mit seinem Ärmel ab. Der Zugführer verließ alsdann diesen Vorraum. Nach den Ermittlungen der Deutschen Bundesbahn stürzte der Kläger um 22.50 Uhr etwa 150 m vor Beginn des Bahnsteiges von T aus der offenen Tür des fahrenden Zuges. Augenzeugen des Vorfalles sind nicht vorhanden. Nach dem Beratungsfacharztbericht wurden beim Kläger schwere Schädelverletzungen festgestellt. Außerdem wurde Alkoholeinfluß wegen Alkoholgeruchs der Atemluft bejaht. Eine Blutentnahme erfolgte nicht.
Durch Bescheid vom 16. Februar 1973 lehnte die Beklagte die Gewährung von Leistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung ab. Der Kläger habe entweder selber infolge Alkoholeinflusses die Tür des Waggons während der Fahrt geöffnet und sei dann hinausgestürzt oder habe kurz vor dem Bahnhof T aus dem Zug springen wollen, um in der Dunkelheit zu verschwinden und sich auf diese Weise Weiterungen zu entziehen.
Der Kläger hat Klage erhoben.
Das Sozialgericht (SG) hat durch Urteil vom 19. April 1974 die Beklagte verurteilt, dem Kläger aus Anlaß des Arbeitsunfalls vom 15. Dezember 1971 die gesetzlichen Leistungen aus der Unfallversicherung zu gewähren, da der Unfall rechtlich wesentlich auf das vom Kläger für die Zurücklegung des Heimweges von der Arbeitsstätte benutzte Verkehrsmittel zurückzuführen sei.
Die Berufung der Beklagten hat das Landessozialgericht (LSG) durch Urteil vom 26. August 1975 zurückgewiesen und zur Begründung ausgeführt: Die auf Alkoholgenuß zurückzuführende Verkehrsuntüchtigkeit schließe den Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung aus, wenn die Verkehrsuntüchtigkeit die unternehmensbedingten Umstände derart in den Hintergrund dränge, daß sie als die rechtlich allein wesentliche Ursache des Unfalls anzusehen sei. Diese Grundsätze seien zwar im wesentlichen im Rahmen einer alkoholbedingten Fahruntüchtigkeit bei Kraft-, Motorrad- und Radfahrern entwickelt worden, sie müßten jedoch grundsätzlich auch für alle anderen Verkehrsteilnehmer gelten. Allerdings gebe es für diese anderen Verkehrsteilnehmer keinen Grenzwert für eine alkoholbedingte absolute Verkehrsuntauglichkeit. Eine Verkehrsuntauglichkeit eines Benutzers eines öffentlichen Verkehrsmittels liege daher nur vor, wenn neben einer als erheblich anzusehenden Blutalkoholkonzentration sonstige Beweisanzeichen vorlägen, die auf alkoholbedingte Verkehrsuntauglichkeit schließen ließen. Der Senat sei zu dem Ergebnis gelangt, daß der Kläger zum Unfallzeitpunkt durch den von ihm genossenen Alkohol nicht gehindert gewesen sei, am öffentlichen Schienenverkehr als Benutzer der Eisenbahn sicher teilzunehmen, so daß die versicherten Wegegefahren für das Zustandekommen des Unfalls wesentlich ursächlich gewesen seien. Beim Kläger habe zum Unfallzeitpunkt keine deutliche Trunkenheit mit einem Blutalkoholwert von erheblich über 0,8 0/00 vorgelegen. Der Unfallversicherungsschutz sei auch nicht deswegen entfallen, weil der Kläger allein wegen einer selbstgeschaffenen Gefahr den Unfall erlitten hätte. Ein solches Verhalten könnte man dann annehmen, wenn der Kläger tatsächlich vor Beginn des Bahnsteiges bei einer Geschwindigkeit, die nach der Aussage des Sachverständigen M etwa 40 km/h betragen habe, hätte abspringen wollen. Dafür seien jedoch keine Anhaltspunkte vorhanden. Es sei nicht anzunehmen, daß der Kläger dies getan habe, um Weiterungen wegen der von ihm verursachten Verschmutzung des Zuges zu entgehen. Der Zugführer habe von ihm weder die Säuberung des Waggons noch eine Gebühr für die Verunreinigung verlangt. Es sei aber auch nicht anzunehmen, daß der Kläger zum Unfallzeitpunkt schon abspringen wollte, um schneller nach Hause zu kommen. Für eine solche hypothetische Vermutung fehle jeder konkrete Anhaltspunkt, zumal da, wie die Schwägerin des Klägers bekundet habe, der Kläger sein Fahrrad am Bahnhof T abgestellt hatte und außerdem von einem namentlich nicht bekannten Mitreisenden mit dessen Auto nach Hause gebracht werden sollte. Aus allen diesen Gründen sei ein solches unvernünftiges, von der Beklagten in Erwägung gezogenes Verhalten des Klägers als fernliegende Möglichkeit außer Betracht zu lassen. Habe sich der Kläger jedoch geirrt und die Entfernung bis zum Bahnhof und die Geschwindigkeit des Zuges falsch eingeschätzt, so stelle dies keine den Versicherungsschutz ausschließende selbstgeschaffene Gefahr dar.
Das LSG hat die Revision zugelassen.
Die Beklagte hat dieses Rechtsmittel eingelegt und ausgeführt: Das LSG hätte bei Prüfung der Alkoholbeeinflussung des Klägers in sachgerechter Anwendung des § 128 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) berücksichtigen müssen, daß nach allgemeinen Erfahrungen der Alkoholkonsum im Betrieb während der Arbeitszeit nicht im vollen Umfange ermittelt werden könne. Zudem komme es gar nicht auf den Grad der Blutalkoholkonzentration an, entscheidend sei vielmehr, ob überhaupt eine Blutalkoholkonzentration oder zumindest der Verdacht hierfür vorgelegen habe. Es müsse zur Annahme des Versicherungsschutzes positiv feststehen, daß der Blutalkoholgehalt für die Entstehung und Schwere des Unfalls keine Rolle gespielt habe. Ein nüchterner Fahrer hätte die Eisenbahntür vor Erreichen des Bahnsteigs nicht geöffnet. Das LSG habe auch gegen § 128 SGG verstoßen, indem es annahm, der Kläger sei versehentlich aus dem Zug gestürzt. Es hätte vielmehr davon ausgehen müssen, daß der Kläger die Tür bewußt geöffnet habe. Unterstelle man mit dem LSG, daß der Kläger unter erheblichem Alkoholeinfluß gestanden habe, so ergebe sich zwangsläufig, daß der Kläger überhaupt nicht aus dem Zug gestürzt sein könne, sondern in vollem Bewußtsein aus dem noch fahrenden Zug gesprungen sein müsse.
Die Beklagte beantragt,
das angefochtene Urteil und das Urteil des SG vom 19. April 1974 aufzuheben und die Klage abzuweisen,
hilfsweise die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.
Der Kläger beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
Entscheidungsgründe
Die zulässige Revision ist nicht begründet.
Der Arbeitsunfall gilt nach § 550 Abs. 1 der Reichsversicherungsordnung (RVO) auch ein Unfall auf einem mit einer der in den §§ 539, 540 und 543 bis 545 RVO angeführten Tätigkeiten zusammenhängenden Weg nach und von dem Ort der Tätigkeit. Ein zeitlicher und örtlicher Zusammenhang mit der versicherten Tätigkeit begründet jedoch, wie das LSG und die Beklagte nicht verkennen, allein den Versicherungsschutz auch nach dieser Vorschrift nicht, vielmehr setzt § 550 Abs. 1 RVO ebenfalls einen ursächlichen Zusammenhang zwischen dem Unfall und dem Weg nach oder von dem Ort der Tätigkeit voraus. Dieser Kausalzusammenhang besteht u. a. nicht, wenn der Unfall wesentlich allein auf eine sogenannte selbstgeschaffene Gefahr durch den Versicherten oder auf den Alkoholgenuß des Verletzten zurückzuführen ist.
Nach den tatsächlichen Feststellungen des LSG kann sich der Kläger als Folge der erlittenen schweren Kopfverletzungen an den Unfallhergang nicht mehr erinnern. Zeugen des Unfalls sind ebenfalls nicht vorhanden. Das Berufungsgericht hat deshalb mit Recht den Kausalzusammenhang zwischen dem Unfall und dem Weg des Klägers von dem Ort der Tätigkeit für alle nach seiner Auffassung in Betracht kommenden möglichen Unfallgeschehen geprüft.
Das LSG hat unter Abwägung der in Betracht kommenden Umstände die Überzeugung gewonnen, daß der Kläger nicht bewußt vor dem Bahnsteig auf die Schienen gesprungen ist, um dadurch einer eventuellen Inanspruchnahme wegen der notwendigen Reinigung des Vorraumes im Eisenbahnwagen zu entgehen. Ebenfalls unter Berücksichtigung des Gesamtergebnisses des Verfahrens hat das LSG festgestellt, daß der Kläger im Unfallzeitpunkt nicht bewußt abgesprungen ist, um schneller nach Hause zu kommen. Es bedarf deshalb keiner Entscheidung, ob anderenfalls durch eine sogenannte selbstgeschaffene Gefahr kein Kausalzusammenhang zwischen dem Weg von dem Ort der Tätigkeit und dem Unfall bestanden hätte. Die Rüge der Revision, das LSG habe bei der Feststellung, daß der Kläger nicht bewußt auf die Schienen gesprungen sei, gegen § 128 SGG verstoßen, weil die Tür sich nicht von selbst geöffnet haben könne, ist unbegründet. Das LSG hat seiner Entscheidung nicht den Fall zugrunde gelegt, daß der Kläger durch eine aus einem technischen Versehen nicht geschlossene oder während der Fahrt wieder geöffnete Tür gefallen ist. Seinen Ausführungen ist vielmehr zu entnehmen, daß der Kläger selbst die Tür geöffnet hat. Die Revision meint zu Unrecht, es komme für den Verlust des Versicherungsschutzes auf die Gründe, weshalb der Kläger ggf. aus dem Zug gesprungen sei, überhaupt nicht an, da es jedenfalls keine betriebsbedingten Gründe gewesen sein könnten. Der Kausalzusammenhang zwischen dem Weg nach oder von dem Ort der Tätigkeit und dem Unfall ist nicht dadurch ausgeschlossen, daß die Unfallursache in einem nicht betriebsbedingten Fehlverhalten des Versicherten liegt.
Nach den weiteren Ausführungen des Berufungsgerichts sieht es als mögliche Unfallursachen an, daß der Kläger entweder durch die von ihm vor dem Halten des Zuges geöffnete Tür aus Unachtsamkeit gefallen ist oder aber irrtümlich zu früh noch vor dem Erreichen des Bahnsteiges abgesprungen ist. Das LSG hat zutreffend für beide mögliche Unfallgeschehen den Kausalzusammenhang zwischen dem Weg des Klägers von dem Ort seiner Tätigkeit und dem Unfall nicht durch eine sogenannte selbstgeschaffene Gefahr ausgeschlossen angesehen. Der erkennende Senat hat in ständiger Rechtsprechung eine sogenannte selbstgeschaffene Gefahr nur in den seltenen Ausnahmefällen angenommen, in denen das zum Unfall führende Handeln des Verletzten in so hohem Grade vernunftwidrig war und zu einer solchen besonderen Gefährdung geführt hat, daß - z. B. - der Weg von dem Ort der Tätigkeit nicht mehr als wesentliche Bedingung für den Unfall anzusehen ist (vgl. u. a. BSG 14, 64, 67; BSG SozR Nr. 53, 77 zu § 542 RVO aF und Nr. 5 zu § 550 RVO; BSG Breithaupt 1966, 834, 835; BSG SGb 1967, 117, 118; Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 1.-8. Aufl., S. 484 i ff.; Lauterbach, Kommentar zur Unfallversicherung, 3. Aufl., § 548 Anm. 52).
Der Unfall des Klägers ist nach den tatsächlichen Feststellungen des LSG, wie dieses außerdem zutreffend erkannt hat, auch nicht wesentlich allein auf den Alkoholgenuß des Klägers vor dem Unfall zurückzuführen. Dem Kläger wurde nach dem Unfall keine Blutprobe zur Bestimmung des Blutalkoholgehaltes entnommen. Das Berufungsgericht hat aufgrund des Gesamtergebnisses des Verfahrens festgestellt, daß der Kläger durch den im Laufe der Arbeitsschicht und vor der Heimfahrt genossenen Alkohol nicht so hochgradig unter Alkoholeinfluß gestanden hat, daß er überhaupt nicht mehr fähig war, den Weg von dem Ort der Tätigkeit nach Hause zurückzulegen. Das LSG hat weiter festgestellt, daß der Alkoholgenuß auch nicht die allein wesentliche Ursache des Sturzes aus dem Zug gewesen ist. Diese Feststellung hat das LSG auch unter Würdigung der Zeugenaussagen, einschließlich des Zugführers, über das gesamte Verhalten des Klägers während der Arbeitsschicht sowie auf der Fahrt zum Bahnhof und im Zug und der Aussage des Sachverständigen Dr. K und nicht nur, wie die Revision rügt, aufgrund der Angaben des Klägers und seiner Arbeitskollegen über die Menge des während der Arbeitsschicht genossenen Alkohols getroffen. Das Berufungsgericht hat vielmehr ausdrücklich ausgeführt, daß durch die Beweisaufnahme nicht habe eindeutig geklärt werden können, wieviel Alkohol der Kläger an diesem Tage zu sich genommen habe. Das LSG hat auch nicht, wie die Revision weiter meint, übersehen, daß dem Grad des Blutalkohols beim Kläger hier keine entscheidende Bedeutung beizumessen wäre.
Es hat einen Grad des Blutalkoholgehaltes lediglich schätzungsweise angeführt, um zusätzlich damit seiner Überzeugung Ausdruck zu geben, daß er allenfalls unter Alkoholeinfluß stand wie eine Person, deren Blutalkoholgehalt nicht erheblich über 0,8 0/00 liegt. Diese zusätzlichen Ausführungen tragen das Urteil nicht, so daß dahinstehen kann, woher das LSG seine Sachkunde ableitet, aus dem Verhalten einer Person den Blutalkoholgehalt zu bestimmen.
Da das LSG aufgrund des Gesamtergebnisses des Verfahrens zu der Überzeugung gelangt ist, daß der Alkoholgenuß des Klägers nicht die allein wesentliche Ursache des Unfalls gewesen ist, bedarf es keiner Ausführungen zu der Frage der Beweislast (vgl. BSG 35, 216). Der Senat hat auch in seinem Urteil vom 22. Februar 1973 (BSG aaO S. 219) hervorgehoben, daß sich die Frage der Beweislastverteilung erst stellt, wenn der Tatrichter alle Mittel zur Aufklärung des Sachverhalts erschöpft hat, ohne daß es ihm gelungen ist, die bestehende Ungewißheit zu beheben; die Handhabung des Grundsatzes der objektiven Beweislast darf nicht zu einer Vernachlässigung der Pflicht zur eingehenden Erforschung des Sachverhalts und sorgfältiger Würdigung der erhobenen Beweise führen; dies hat das LSG auch nicht außer acht gelassen.
Die Revision der Beklagten war daher zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.
Fundstellen