Entscheidungsstichwort (Thema)
Unfallversicherung. Alkoholeinfluß
Orientierungssatz
Die auf Alkoholgenuß zurückzuführende Fahruntüchtigkeit eines Kraftfahrers schließt den Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung nur dann aus, wenn sie die unternehmensbedingten Umstände derart in den Hintergrund drängt, daß sie als die rechtlich allein wesentliche Ursache des Unfalls anzusehen ist. Dies ist in der Regel der Fall, wenn nach der Lebenserfahrung ein nicht unter Alkohol stehender Kraftfahrer bei gleicher Sachlage wahrscheinlich nicht verunglückt wäre (vgl BSG 1960-06-30 2 RU 86/56 = SozR Nr 27 zu § 542 RVO).
Normenkette
RVO § 542
Verfahrensgang
LSG Rheinland-Pfalz (Entscheidung vom 18.04.1958) |
Tenor
Das Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 18. April 1958 wird mit den ihm zugrunde liegenden Feststellungen aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen.
Gründe
I.
Der seinerzeit im Bauunternehmen seines Vaters als Maurergeselle beschäftigte Kläger kam am 4. Dezember 1954 gegen 21.00 Uhr auf einer Fahrt mit seinem Motorrad zu Fall und erlitt dabei schwere Verletzungen; sein rechtes Bein mußte amputiert werden. Die Beklagte lehnte mit Bescheid vom 3. August 1955 den Entschädigungsanspruch ab mit der Begründung, die einander widersprechenden Angaben des Klägers, seines Vaters und des Soziusfahrers ... ließen den Schluß zu, daß es sich um eine nicht mit dem Betrieb zusammenhängende Fahrt gehandelt habe; selbst wenn aber die Behauptung des Klägers zutreffe, er sei aus betrieblichen Gründen unterwegs gewesen, entfalle doch der Versicherungsschutz, da der Kläger - wie der festgestellte Blutalkoholgehalt von 1,4 0 / 00 beweise - durch alkoholbedingte Fahruntüchtigkeit den Zusammenhang mit dem Unternehmen gelöst habe.
Das Sozialgericht hat durch Urteil vom 27. September 1957 die Klage abgewiesen: Es könne dahingestellt bleiben, ob sich der Kläger zur Erledigung eines geschäftlichen Auftrags unterwegs befunden habe; der Zusammenhang mit der Tätigkeit im Unternehmen sei infolge der durch Alkoholgenuß hervorgerufenen Fahruntüchtigkeit gelöst gewesen.
Mit seiner Berufung hat der Kläger sein früheres Vorbringen wiederholt, er habe die zum Unfall führende Motorradfahrt aus geschäftlichen Gründen unternommen, es habe regnerisches und stürmisches Wetter geherrscht, der Unfall sei durch einen plötzlichen Windstoß ausgelöst worden. Das Landessozialgericht (LSG.) hat durch Urteil vom 18. April 1958 die Berufung zurückgewiesen: Ob es sich um eine Betriebsfahrt gehandelt habe, könne dahingestellt bleiben. Der innere betriebliche Zusammenhang werde nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG.) gelöst, wenn ein Kraftwagenfahrer mit einem Blutalkoholgehalt von mindestens 1,5 0 / 00 am Straßenverkehr teilnehme. Bei einem Motorradfahrer sei dieser Promillesatz noch erheblich herabzusetzen. Ob hierfür ein Grenzwert von 1,3 0 / 00 bei Tagfahrten und von 1,00 0 / 00 bei Nachtfahrten allgemein gelte, brauche nicht untersucht zu werden, da der Kläger einen Blutalkoholgehalt von 1,4 0 / 00 aufgewiesen habe. Das LSG. hat die Revision zugelassen.
Gegen das am 28. Mai 1958 zugestellte Urteil hat der Kläger am 9. Juni 1958 Revision eingelegt und sie innerhalb der bis zum 28. August 1958 verlängerten Frist begründet: Der Grenzwert für den Beginn der absoluten Fahruntauglichkeit sei bei Motorradfahrern nicht niedriger anzusetzen als bei Autofahrern. Das LSG. habe seine Annahme, der Kläger sei fahruntüchtig gewesen, nicht auf hinreichende Ermittlungen gestützt.
Der Kläger beantragt,
das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG. zurückzuverweisen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen,
hilfsweise,
unter Aufhebung des angefochtenen Urteils die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG. zurückzuverweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
II.
Die Revision ist statthaft durch Zulassung gemäß § 162 Abs. 1 Nr. 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG). Sie ist form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden und damit zulässig. Sie hatte auch Erfolg.
Das LSG. hat unter Bezugnahme auf die bisherige Rechtsprechung des erkennenden Senats (BSG. 3 S. 116) den Standpunkt vertreten, daß der Versicherungsschutz für einen Kraftfahrer ohne weiteres entfällt, wenn der Fahrer im Zeitpunkt des Unfalls durch Alkoholgenuß fahruntüchtig gewesen ist. Von dieser Rechtsprechung ist der erkennende Senat jedoch nunmehr abgewichen; in seinem Urteil vom 30. Juni 1960 (SozR. RVO § 542 Bl. Aa 14 Nr. 27) hat er die Voraussetzungen für den Wegfall des Versicherungsschutzes eingeengt. Danach schließt die auf Alkoholgenuß zurückzuführende Fahruntüchtigkeit eines Kraftfahrers den Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung nur noch dann aus, wenn sie die unternehmensbedingten Umstände derart in den Hintergrund drängt, daß sie als die rechtlich allein wesentliche Ursache des Unfalls anzusehen ist; dies ist in der Regel der Fall, wenn nach der Lebenserfahrung ein nicht unter Alkohol stehender Kraftfahrer bei gleicher Sachlage wahrscheinlich nicht verunglückt wäre. Weiterhin wird in dieser Entscheidung angenommen, daß - entgegen der vom Kläger vertretenen Ansicht - bei einem Kraftradfahrer die absolute Fahruntüchtigkeit nicht erst bei einem Blutalkoholgehalt von 1,5 0 / 00 , sondern schon bei einem solchen von 1,3 0 / 00 einsetzt.
Hiernach kommt es für die Entscheidung des vorliegenden Falles darauf an, ob beim Kläger im Unfallzeitpunkt der maßgebende Grenzwert der Blutalkoholkonzentration erreicht war und ob die Umstände des Unfallhergangs mit Wahrscheinlichkeit den Schluß zulassen, daß die alkoholbedingte Fahruntüchtigkeit die rechtlich allein wesentliche Ursache des Unfalls darstellt. Die bisher getroffenen Feststellungen reichen für die Beantwortung dieser Fragen nicht aus. Deshalb war die Sache an das LSG. zurückzuverweisen (§ 170 Abs. 2 Satz 2 SGG).
Bei der erneuten Verhandlung wird das LSG. zunächst festzustellen haben, ob sich der Kläger zur Zeit des Unfalls überhaupt auf einer dem Versicherungsschutz unterstehenden Geschäftsfahrt befunden hat. Ist dies zu bejahen, so bedarf es der Klarstellung, von welchem Blutalkoholgehalt im Zeitpunkt des Unfalls auszugehen ist; die Annahme des LSG., dieser habe 1,4 0 / 00 betragen, stützt sich anscheinend lediglich auf die kurze Formularauskunft des Prof. Dr. P an den Polizeipräsidenten in B vom 8. Dezember 1954; in dieser Auskunft ist jedoch abschließend vermerkt, von der angegebenen Konzentration dürfe nicht ohne weiteres auf Blutalkoholkonzentration und Berauschungsgrad zur Tatzeit geschlossen werden, eine abschließende Beurteilung sei vielmehr nur nach Kenntnis der gesamten Vorgänge möglich. Da der Zeitpunkt der Blutentnahme hieraus nicht ersichtlich und eine Rückrechnung des Promillesatzes auf den Unfallzeitpunkt offenbar unterblieben ist, werden genauere Ermittlungen in dieser Richtung nachzuholen sein. Sollte sich hierbei ein geringerer Promillesatz ergeben, so bestünde unter Umständen Anlaß zur Prüfung der vom LSG. offengelassenen Frage, ob für Nachtfahrten von Motorradfahrern ein besonderer Grenzwert in Betracht kommt; hierbei wird die vom Bundesgerichtshof (BGH. Urteil vom 6.3.1959, NJW. 1959 S. 1046) vertretene Ansicht zu berücksichtigen sein.
Sodann wäre die eingehende Erforschung des Sachverhalts zur Frage der Unfallverursachung geboten; hierbei wird das LSG. zu beachten haben, daß der Kläger bereits bei den polizeilichen Vernehmungen und bei der von der Beklagten veranlaßten Unfalluntersuchung nachdrücklich darauf hingewiesen hat, er sei während der Fahrt von einem plötzlichen Windstoß erfaßt worden und habe dadurch die Gewalt über sein Motorrad verloren; diese Angaben bedürfen einer Nachprüfung unter Abwägung mit den Bekundungen des Zeugen Peters und den von der Polizei getroffenen Feststellungen zur Wetterlage am Abend des 4. Dezember 1954. Erweist sich diese Behauptung des Klägers als richtig, so ist sein Entschädigungsanspruch begründet, da in diesem Falle die Alkoholbeeinflussung nicht die allein rechtserhebliche Ursache für den Eintritt des Unfalls war. Läßt sich hingegen ein klares Beweisergebnis zur Unfallverursachung nicht mehr erzielen, so wird das LSG. den Grundsatz vom Beweis des ersten Anscheins hinzuzuziehen haben (vgl. SozR. a.a.O.).
Die Kostenentscheidung bleibt dem abschließenden Urteil des LSG. vorbehalten.
Fundstellen