Leitsatz (amtlich)

1. Ob Personen vor 1957-03-01 während der wissenschaftlichen Ausbildung für ihren künftigen Beruf nicht pflichtversichert waren (AnVNG Art 2 § 44a Abs 3 S 1 = ArVNG Art 2 § 46 Abs 3 S 1), beurteilt sich nach der im Zeitraum der Ausbildung herrschenden Rechtsauffassung auch dann, wenn die gleiche Vorschrift aufgrund der späteren Rechtsentwicklung durch die höchstrichterliche Rechtsprechung wesentlich anders (enger) ausgelegt worden ist.

2. Wissenschaftliche Mitarbeiter an wissenschaftlichen Instituten, die keine planmäßigen Assistentenstellen inne hatten, waren vor dem 1957-03-01 gleich diesen wegen wissenschaftlicher Ausbildung für ihren künftigen Beruf versicherungsfrei (AVG § 12 Abs 1 Nr 4 - Fassung: 1924-04-28 -, RVO § 172 Abs 1 Nr 5 - Fassung: 1945-03-17 -), wenn ihre Tätigkeit gleich oder ähnlich war (Abgrenzung zu BSG 1974-12-19 3 RK 64/72 = BSGE 39, 41).

 

Normenkette

AVG § 12 Abs. 1 Nr. 4 Fassung: 1924-04-28, § 1 Abs. 2 Nr. 1 Fassung: 1945-03-17; RVO § 172 Abs. 1 Nr. 5 Fassung: 1945-03-17; AnVNG Art. 2 § 44a Abs. 3 S. 1 Fassung: 1972-10-16; ArVNG Art. 2 § 46 Abs. 3 S. 1 Fassung: 1972-10-16

 

Verfahrensgang

LSG Nordrhein-Westfalen (Urteil vom 25.10.1976; Aktenzeichen L 8 An 59/76)

SG Köln (Entscheidung vom 27.01.1976; Aktenzeichen S 2 An 78/74)

 

Tenor

Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 25. Oktober 1976 aufgehoben.

Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Köln vom 27. Januar 1976 wird zurückgewiesen.

Die Beklagte hat dem Kläger auch die außergerichtlichen Kosten des Berufungs- und des Revisionsverfahrens zu erstatten.

 

Tatbestand

Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob der Kläger berechtigt ist, nach Art 2 § 44a Abs 3 Satz 1 des Angestelltenversicherungs-Neuregelungsgesetzes (AnVNG) Beiträge nachzuentrichten.

Der Kläger legte nach sechssemestrigem Studium am 15. Mai 1952 an der wirtschafts- und sozialwissenschaftlichen Fakultät der Universität Frankfurt (Main) die kaufmännische Diplomprüfung ab. Anschließend war er dort weiter bis zum 30. April 1954 als ordentlicher Studierender immatrikuliert. Am 4. Mai 1955 promovierte er zum Doktor der Wirtschaftswissenschaften. In der Zeit vom 1. Oktober 1952 bis 31. März 1953 arbeitete er auf der Grundlage eines privatrechtlichen Vertrages als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für das Kreditwesen der Universität Frankfurt (Main) gegen ein monatliches Entgelt von 350,- DM. Danach wurde er in der Zeit vom 1. April 1953 bis 30. November 1955 als "Verwalter der Dienstgeschäfte eines wissenschaftlichen Assistenten" am selben Institut weiterbeschäftigt. Über den gesamten Zeitraum vom 1. Oktober 1952 bis 30. November 1955 stellte ihm der Lehrstuhlinhaber, Professor Dr. V, ein Zeugnis aus, in dem es ua heißt, der Kläger sei in dieser Zeit als wissenschaftlicher Assistent dem Lehrstuhl zugeteilt und gleichzeitig als Assistent am Institut für das Kreditwesen tätig gewesen. Durch seinen Studiengang sei der Kläger von der Betriebswirtschaft zur Volkswirtschaft hingeführt worden. Auf beiden Gebieten habe er sich gründliche Kenntnisse und ein sicheres Urteil erarbeitet.

Am 14. Dezember 1972 beantragte der Kläger die Nachentrichtung freiwilliger Beiträge für die Zeit vom 1. Oktober 1952 bis 30. November 1955. Dem gab die Beklagte für die Zeit vom 1. April 1953 bis 31. März 1955 statt (Bescheid vom 17. Mai 1973). Auf den Widerspruch des Klägers ließ die Beklagte die Nachentrichtung auch für die Zeit vom 1. April bis 30. November 1955 zu (Bescheid vom 18. Juli 1973). Für die Zeit vom 1. Oktober 1952 bis 31. März 1953 lehnte die Beklagte die Nachentrichtung jedoch ab, da die Beschäftigung als wissenschaftlicher Mitarbeiter keine versicherungsfreie wissenschaftliche Ausbildung gewesen sei. Insoweit blieb auch der Widerspruch des Klägers erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 11. März 1974). Auf die Klage hat das Sozialgericht (SG) Köln die Bescheide der Beklagten in der Gestalt des Widerspruchsbescheides abgeändert und die Beklagte verurteilt, die Nachentrichtung von fünf Beiträgen der Klasse 700 für die Monate Oktober 1952 bis einschließlich Januar 1953 sowie für den Monat März 1953 zuzulassen (Urteil vom 27. Januar 1976). Das SG hat die Auffassung vertreten, der Kläger habe sich auch in dieser Zeit unabhängig von seiner Bezeichnung als wissenschaftlicher Mitarbeiter in wissenschaftlicher Ausbildung befunden, denn er habe während der gesamten Beschäftigungszeit sein Hochschulstudium fortgeführt und seine Promotion betrieben. Der unterschiedliche dienstvertragliche Status sei unbeachtlich. Das Landessozialgericht (LSG) für das Land Nordrhein-Westfalen hat auf die Berufung der Beklagten das Urteil des SG abgeändert und die Klage abgewiesen (Urteil vom 25. Oktober 1976). Nach Auffassung des LSG zählt der Kläger für die streitige Zeit nicht zu den Personen, die während der wissenschaftlichen Ausbildung für ihren künftigen Beruf versicherungsfrei waren. Als Doktorand und Institutsmitarbeiter sei er zwar wissenschaftlich tätig gewesen, jedoch nicht während seiner Ausbildung. Seine Berufsausbildung sei mit der erfolgreichen Diplomprüfung abgeschlossen gewesen. Dieser Abschluß allein würde allerdings einer weiteren wissenschaftlichen Ausbildung nicht entgegenstehen. Die Vorbereitung zur Promotion sei indes keine weitere Ausbildung, sondern lediglich eine der Ausbildung folgende wissenschaftliche Betätigung. Auch die Tätigkeit am Universitätsinstitut sei ihrerseits nicht Ausbildung gewesen. Der Kläger habe nicht dargetan, inwiefern sich hierbei eine Ausbildung vollzogen habe. Die Mitarbeitertätigkeit möge für die Berufslaufbahn nützlich gewesen sein, erforderlich sei sie jedenfalls nicht gewesen. Deshalb könne es auch nicht entscheidend darauf ankommen, ob der Kläger in dieser Zeit die gleiche Funktion gehabt habe wie während der anschließenden Zeit als Verwalter einer Assistentenstelle. Angesichts der eindeutigen Bestimmungen des Dienstvertrages könne er einem Assistenten nicht gleichgestellt werden. Maßgebend sei allein die Rechtsnatur des Beschäftigungsverhältnisses und nicht dessen Inhalt.

Der Kläger hat - die vom LSG zugelassene - Revision eingelegt. Er rügt eine Verletzung des Art 2 § 44a Abs 3 AnVNG iVm § 12 Abs 1 Nr 4 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG) aF, des § 139 der Zivilprozeßordnung (ZPO) - und damit sinngemäß des § 106 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) - und des Art 103 des Grundgesetzes (GG). Er führt dazu aus, es komme entgegen der Auffassung des LSG nicht allein auf die Rechtsnatur des Beschäftigungsverhältnisses an. Als Tatbestandsmerkmal der "wissenschaftlichen Ausbildung" sei vielmehr allein der mit der Tätigkeit im Einzelfall verfolgte Zweck entscheidend.

Der Kläger beantragt (sinngemäß),

das Urteil des LSG aufzuheben und die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des SG zurückzuweisen.

Die Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Beide Beteiligten sind mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden (§ 124 Abs 2 SGG).

 

Entscheidungsgründe

Die Revision des Klägers ist begründet. Das Urteil des LSG ist aufzuheben; die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des SG ist zurückzuweisen.

Der Kläger ist berechtigt, nach Art 2 § 44a Abs 3 Satz 1 AnVNG Beiträge für die streitigen Kalendermonate Oktober 1952 bis Januar 1953 und März 1953 nachzuentrichten. Er war während dieser Zeit zur wissenschaftlichen Ausbildung für seinen künftigen Beruf tätig und deshalb in der gesetzlichen Rentenversicherung nicht pflichtversichert.

Die Vorinstanzen haben darauf abgestellt, daß sich diese Frage nach § 12 Abs 1 Nr 4 AVG aF beurteilt, ohne zu berücksichtigen, daß diese Vorschrift im streitigen Zeitraum kein geltendes Recht mehr war. Sie war durch die Erste Verordnung zur Vereinfachung des Leistungs- und Beitragsrechts in der Sozialversicherung (1. VereinfVO) vom 17. März 1945 (RGBl I 41) aufgehoben und über den neugefaßten § 1 Abs 2 Nr 1 AVG durch den ebenfalls neugefaßten § 172 Abs 1 Nr 5 der Reichsversicherungsordnung (RVO) ersetzt worden. Die 1. VereinfVO ist in den Teilen der Bundesrepublik Deutschland, die bei Verkündung bereits durch die alliierten Streitkräfte besetzt waren, spätestens mit dem 7. September 1949 - dem Tag der konstituierenden Sitzungen des Deutschen Bundestages und des Deutschen Bundesrates - wirksam geworden. Sie regelte nämlich keine Materie, die im Besatzungsstatut vom 12. Mai 1949 (Amtsbl der Alliierten Hohen Kommission S. 13) ausdrücklich den Besatzungsmächten vorbehalten war (Urteil des Bundessozialgerichts - BSG - vom 11. Juli 1956 - BSGE 3, 161, 170 -). Dies gilt nicht nur für Art 19 der 1. VereinfVO, der Gegenstand jener Entscheidung war, sondern auch für die hier in Betracht kommenden Art 1 (Änderung der Krankenversicherung) und 6 (Änderung der Angestelltenversicherung). Die Gesetzesänderung ist jedoch für den vorliegenden Fall im Ergebnis ohne sachliche Bedeutung. Nach § 12 Abs 1 Nr 4 AVG idF vom 28. April 1924 sind nämlich Personen versicherungsfrei, "die zu ihrer wissenschaftlichen Ausbildung für den zukünftigen Beruf gegen Entgelt tätig sind". Nach § 172 Abs 1 Nr 5 RVO iVm § 1 Abs 2 Nr 1 AVG idF der 1. VereinfVO sind Personen versicherungsfrei, "die zu oder während ihrer wissenschaftlichen Ausbildung für den zukünftigen Beruf gegen Entgelt tätig sind". Diese Vorschrift geht lediglich noch weiter und umfaßt auch Fälle, in denen es sich bei der entgeltlichen Tätigkeit nicht um die Ausbildung selbst sondern um andere Beschäftigungen handelt, sofern solche Tätigkeiten nur die Ausbildung finanziell fördern. Solche Tätigkeiten "während" der Berufsausbildung waren aber schon vom Reichsversicherungsamt (RVA) als versicherungsfrei angesehen worden (AN 1934 IV 343; Koch/Harmann/v.Altrock/Fürst, AVG, 2. Aufl., Bd I - Stand Juni 1952 - S. 221).

Aus dem vom LSG - unangefochten und deshalb für das Revisionsgericht bindend (§ 163 SGG) - festgestellten Sachverhalt (Zeugnis des Lehrstuhlinhabers und Institutsleiters Prof. Dr. V vom 31. November 1955) ergibt sich unmittelbar, daß sich die Beschäftigung des Klägers in der streitigen Zeit vom 1. Oktober 1952 bis zum 31. März 1953 von der nachfolgenden, als versicherungsfrei anerkannten Assistentenzeit (vgl. Runderlaß des ehemaligen Reichsministers für Erziehung, Wissenschaft und Volksbildung vom 28. Februar 1936 - W Ia 2479/35, K) inhaltlich nicht unterschied. Sie wurde daher auch folgerichtig von der Universitätsverwaltung ebenfalls als versicherungsfreie Ausbildungszeit betrachtet. Das LSG hat übersehen, daß diese Beurteilung der damaligen Rechtsauffassung entsprach. Die Beschäftigung eines wissenschaftlichen Mitarbeiters in einem wissenschaftlichen Institut war nämlich nach der Rechtsprechung des RVA in der Grundsätzlichen Entscheidung vom 8. März 1938 (AN 1938 IV 437) dann der Beschäftigung eines wissenschaftlichen Assistenten gleichzuachten, wenn sie sich nach den Umständen des Einzelfalles inhaltlich von dieser nicht unterschied.

Dem steht auch nicht die neuere Rechtsprechung des BSG (Urteil vom 19. Dezember 1974 - 3 RK 64/72 - BSGE 39, 41) entgegen. Es handelt sich nämlich bei dieser Rechtsprechung um den Ausdruck einer nachfolgenden Rechtsentwicklung. Das wird aus dem Besprechungsergebnis der Spitzenorganisationen der Sozialversicherungsträger vom 30. und 31. Oktober 1973 (DOK 1974, 108, 109) deutlich, in dem es unter Nr 3 Abs 1 heißt:

"Bisher wurden Verwalter wissenschaftlicher Assistentenstellen und wissenschaftliche Hilfskräfte mit abgeschlossener Hochschulausbildung im allgemeinen als kranken- und arbeitslosenversicherungsfrei nach § 172 Abs 1 Nr 5 RVO iVm § 169 Nr 1 Satz 1 AFG angesehen. Gegen diese Rechtsauffassung sind in der letzten Zeit jedoch wiederholt Bedenken geäußert worden. Es wird nunmehr überwiegend der Standpunkt eingenommen, daß die Tätigkeit der Verwalter wissenschaftlicher Assistentenstellen sowie der wissenschaftlichen Hilfskräfte nicht mehr als Beschäftigung zu oder während der wissenschaftlichen Ausbildung gewertet werden kann."

Die Rechtsprechung des BSG (BSGE 39, 41) brachte lediglich die höchstrichterliche Bestätigung dieser geänderten Rechtsauffassung, die als das Ergebnis einer an dem veränderten Sicherungsbedürfnis aller Bevölkerungsgruppen orientierten Betrachtungsweise gesehen werden muß. Hiernach befand sich die mit der Vorschrift des § 172 Abs 1 Nr 5 RVO aF mit bezweckte "Vorwirkung der endgültigen Versicherungsfreiheit in dem endgültigen Beruf" nicht mehr im Einklang mit der Rechtsentwicklung. Diese aus der Rechtsentwicklung gezogenen Erkenntnisse können aber nicht dazu führen, rückwirkend für Sachverhalte aus den Jahren 1952/53 Versicherungspflicht anzunehmen, obwohl in diesem Zeitraum, Verwaltungspraxis und Rechtsprechung gerade den gegenteiligen Standpunkt eingenommen und solche Beschäftigungsverhältnisse als versicherungsfrei beurteilt hatten. Damit würde nämlich der Sinn und Zweck des Art 2 § 44a Abs 3 AnVNG verfehlt, der dahin geht, den Betroffenen die Möglichkeit zu geben, die aufgrund der früher herrschenden versicherungsrechtlichen Lage entstandenen Nachteile durch Nachentrichtung von Beiträgen auszugleichen. Nur eine Gesetzesanwendung, die dies beachtet, wird damit auch für die Fälle der Vergangenheit der im Urteil des BSG vom 19. Dezember 1974 - 3 RK 64/72 (BSGE 39, 41) dargelegten Auffassung gerecht, daß die mit der Vorschrift des § 172 Abs 1 Nr 5 RVO aF bezweckte "Vorwirkung der endgültigen Versicherungsfreiheit in dem endgültigen Beruf" von der Rechtsentwicklung überholt worden ist.

Da sich nach allem die Versicherungsfreiheit des Klägers in dem streitigen Zeitraum schon aus seiner Tätigkeit als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für das Kreditwesen der Universität Frankfurt/Main ergibt, kann es dahinstehen, ob die neben der wissenschaftlichen Beschäftigung am Institut betriebene Promotion als wissenschaftliche Ausbildung iS des § 12 Abs 1 Nr 4 AVG aF und des § 172 Abs 1 Nr 5 RVO aF angesehen werden kann.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1651518

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