Leitsatz (redaktionell)
Für den Unfall, den der Verletzte im Alter von nicht ganz 16 Jahren nach dem Verlassen der Berufsschule beim Schneeballwerfen erlitten hat, kann der Versicherungsschutz nicht aus RVO § 537 Nr 1 hergeleitet werden, weil der Besuch der Berufsschule nicht der Arbeitstätigkeit im Speditionsunternehmen zuzurechnen ist. Als Grundlage für den Versicherungsschutz kommt jedoch RVO § 537 Nr 11 und als leistungspflichtiger Versicherungsträger der für den Sachkostenträger der Berufsschule zuständige GUV in Betracht.
Normenkette
RVO § 537 Nrn. 1, 11
Tenor
Das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 26 . Mai 1959 wird mit den ihm zugrunde liegenden Feststellungen aufgehoben . Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen .
Von Rechts wegen .
Gründe
I
Der am 17 . April 1939 geborene Kläger zu 1) war vom 23 . Februar 1955 an als Beifahrer bei der Speditionsfirma H ... in E ..., einem Mitglied der beklagten Berufsgenossenschaft , beschäftigt . Er besuchte pflichtgemäß die Berufsschule in E .... Die Schule liegt auf einem alten , von einer Mauer umgebenen Kasernengelände . Innerhalb der Mauer befinden sich außer der Schule noch andere , teilweise als Wohnhäuser benutzte Gebäude . In den Unterrichtspausen hielten sich die Schüler auf dem Kasernengelände auf , vor allem zwischen dem Schulgebäude und dem Kasernentor; die Lehrkräfte führten dort Aufsicht . Als der Kläger am 24 . Februar 1955 nach Beendigung des Nachmittagsunterrichts um 17 . 15 Uhr mit seinen Mitschülern das Schulgebäude verließ , lag auf dem Kasernengelände Schnee , der teilweise noch locker , an den viel begangenen Stellen jedoch niedergetreten und glatt war; abstumpfende Mittel waren nicht gestreut . Bald nach dem Durchschreiten der Außentür traf den Kläger ein von dem Mitschüler B ... geworfener Schneeball in den Nacken . Der Kläger glaubte aus dem Verhalten des Mitschülers H ... schließen zu sollen , daß dieser der Täter gewesen sei . Er bewarf deshalb H ... mit Schnee und lief , als dieser ihm nachstellte , in Richtung Kasernentor davon . Dabei rutschte er aus und fiel zu Boden; der ihm nacheilende H ... fiel auf ihn . Während der Kläger seine Hände schützend vor das Gesicht hielt , warf H ... ihm Schnee über den Kopf . Nach diesem Vorfall konnte der Kläger mit dem linken Auge nicht mehr sehen . Es wurde eine perforierende Hornhautverletzung des linken Auges festgestellt , die zum Verlust der Sehkraft führte . Ob die Augenverletzung durch den Sturz auf den Boden , durch den von H ... geworfenen , möglicherweise mit Eis oder Steinen untermischten Schnee oder auf andere Weise eingetreten ist , steht nicht fest .
Im Verwaltungsverfahren vertrat die Klägerin zu 2) , bei welcher der Kläger zu 1) gegen Krankheit versichert ist , die Auffassung , für den Unfall des Klägers zu 1) sei nach den Bestimmungen des Reichsversicherungsamts (RVA) vom 19 . Mai 1944 (AN II 143) der Gemeindeunfallversicherungsverband R ... zuständig , weil die Stadt E... Sachkostenträger der Berufsschule sei . Dieser Auffassung trat die Beklagte mit folgenden Ausführungen entgegen: Nach den von den gewerblichen Berufsgenossenschaften aufgestellten Richtlinien vom 20 . Februar 1952 sei die Zuständigkeit einer gewerblichen Berufsgenossenschaft immer dann gegeben , wenn der nach § 537 Nr . 11 der Reichsversicherungsordnung (RVO) Versicherte gleichzeitig in einem Beschäftigungsverhältnis nach §§ 537 Nrn . 1 bis 9 , 538 , 539 RVO stehe und der Schulbesuch - was im vorliegenden Falle ohne weiteres unterstellt werden müsse - nur als Ausfluß dieser Tätigkeit anzusehen sei (Rundschreiben des Hauptverbandes der gewerblichen Berufsgenossenschaften VB 42/52 vom 6 . März 1952 und VB 47/52 vom 16 . März 1952) .
Durch Bescheid vom 15 . Juli 1955 lehnte die Beklagte die Entschädigungsansprüche des Klägers zu 1) mit folgender Begründung ab: Der Kläger habe durch seine Beteiligung am Schneeballwerfen den Zusammenhang mit der versicherten Tätigkeit gelöst . Solche Spielereien ständen allerdings ausnahmsweise unter Versicherungsschutz , wenn es sich um einen Jugendlichen handele , der durch seinen Spieltrieb veranlaßt worden sei , sich mit einer gefahrbringenden Betriebseinrichtung zu beschäftigen , und dadurch infolge ungenügender Beaufsichtigung durch den Arbeitgeber einer Gefahr erlegen sei , der er durch seine Betriebstätigkeit ausgesetzt gewesen sei und deren Gefahrenbereich der Unternehmer zu vertreten habe . Diese Ausnahme könne jedoch im vorliegenden Falle keine Anwendung finden , weil der Unfall sich auf dem Heimweg ereignet habe und dort weder eine Einrichtung des Betriebes mitgewirkt habe noch eine Beaufsichtigung durch den Arbeitgeber vernünftigerweise zu erwarten sei .
Auf die von dem Verletzten und der Allgemeinen Ortskrankenkasse erhobene Klage hat das Sozialgericht (SG) Köln durch Urteil vom 3 . Mai 1956 unter Aufhebung des angefochtenen Bescheides die Beklagte verurteilt , einen den Unfall des Klägers zu 1) als Arbeitsunfall anerkennenden neuen Bescheid zu erteilen . Es hat den Unfall nicht als Wegeunfall (§ 543 RVO) , sondern als Arbeitsunfall nach § 542 RVO angesehen .
Die Berufung der Beklagten ist durch Urteil des Landessozialgerichts (LSG) Nordrhein-Westfalen vom 26 . Mai 1959 mit folgender Begründung zurückgewiesen worden: Der Schulbesuch sei der nach § 537 Nr . 1 RVO versicherten Arbeitstätigkeit des Klägers zu 1) zuzurechnen . Im Rahmen dieses Schulbesuches habe sie der Unfall ereignet; denn die Unfallstelle liege im Bereich der Schule , nämlich auf dem von den Schülern in den Pausen als Schulhof benutzten Gelände . Auch zeitlich habe das Zurücklegen des unfallbringenden Weges noch zum unmittelbaren Schulbesuch gehört . Der Kläger zu 1) habe sich nicht aus dem Gesichtspunkt des Spielens von der versicherten Tätigkeit gelöst . Seine Reaktion auf den Schneeballwurf in seinen Nacken habe der natürlichen Verhaltensweise eines Jugendlichen entsprochen . Die dem Spieltrieb eines Jugendlichen innewohnende Gefahr sei im vorliegenden Falle noch durch die erzwungene Ansammlung gleichaltriger Jugendlicher sowie durch die Glätte des Bodens , ohne die der Kläger zu 1) wahrscheinlich nicht zu Fall gekommen wäre , erhöht worden . Es habe auch an der erforderlichen Beaufsichtigung der Schüler gefehlt . Eine Aufsichtsperson der Schulleitung hätte das Verhalten der Schüler auf dem Schulhof nicht nur in den Pausen , sondern auch nach Beendigung des Schulunterrichts überwachen müssen . Das LSG hat die Revision zugelassen .
Das Urteil ist der Beklagten am 21 . Juli 1959 zugestellt worden . Sie hat hiergegen am 4 . August 1959 Revision eingelegt .
Die Beklagte beantragt ,
die Urteile der Vorinstanzen aufzuheben und die Klage abzuweisen ,
hilfsweise ,
die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an die Vorinstanz zurückzuverweisen .
Die Kläger beantragen ,
die Sache unter Aufhebung des angefochtenen Urteils zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen ,
hilfsweise ,
die Revision der Beklagten zurückzuweisen .
II
Die Revision ist durch Zulassung statthaft (§ 162 Abs . 1 Nr . 1 des Sozialgerichtsgesetzes -SGG-) , auch form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden , also zulässig . Sie hatte insofern Erfolg , als nach dem vom LSG festgestellten Sachverhalt die Beklagte entgegen ihrer eigenen Auffassung nicht der zuständige Versicherungsträger ist .
Das LSG hat den dem Kläger zu 1) zuerkannten Versicherungsschutz aus § 537 Nr . 1 RVO hergeleitet . Der Kläger zu 1) war zwar auf Grund eines Arbeitsverhältnisses bei dem Speditionsunternehmen H ... beschäftigt , er ist aber nicht bei dieser Tätigkeit verunglückt , sondern beim Besuch der Berufsschule . Dabei ist es unerheblich , ob der unfallbringende Weg von der Außentür des Schulgebäudes bis zum Kasernentor , wie das LSG ausgeführt hat , noch dem Schulunterricht selbst zuzurechnen oder bereits ein Teil des Heimweges war . Im ersten Falle kommt ein Unfall beim Schulbesuch (§ 542 Abs . 1 RVO) , im zweiten Falle ein Unfall auf dem Heimweg von der Schule (§ 543 Abs . 1 Satz 1 RVO) in Betracht . Auf die Prüfung der vom LSG entschiedenen Frage wäre es im Revisionsverfahren nur dann angekommen , wenn der Kläger zu 1) nach Beendigung des Schulunterrichts die Absicht gehabt hätte , seine Tätigkeit im Speditionsunternehmen alsbald wieder aufzunehmen; in diesem Falle läge nämlich ein mit dem Verlassen der Schule begonnener Weg zur Arbeitsstätte im Speditionsunternehmen vor (vgl . RVA , EuM 30 , 3) , für den der Versicherungsschutz nach §§ 537 Nr . 1 , 542 , 543 RVO zu beurteilen wäre . Da das LSG jedoch festgestellt hat , der Kläger zu 1) habe sich nach 17 . 15 Uhr auf dem Heimweg befunden , kann dieser Weg nur den Schulbesuch beendet , nicht aber zugleich eine andere versicherte Tätigkeit eingeleitet haben .
Der Auffassung des LSG , der Schulbesuch des Klägers zu 1) sei einer nach § 537 Nr . 1 RVO versicherten Arbeitstätigkeit zuzurechnen , vermochte sich der erkennende Senat nicht anzuschließen , obwohl sie den als Empfehlung für die Bearbeitung von Schadensfällen gedachten. Richtlinien entspricht , die der Hauptverband der gewerblichen Berufsgenossenschaften in seinen Rundschreiben VB 42/52 vom 6 . März 1952 und VB 47/52 vom 16 . März 1952 mitgeteilt hat . Durch den Besuch der Berufsschule erfüllte der Kläger zu 1) seine Berufsschulpflicht nach §§ 8 bis 10 des Reichsschulpflichtgesetzes vom 6 . Juli 1938 (RGBl I 799) . Berufsschulen sind Schulen , die pflichtmäßig von gleichzeitig in der praktischen Ausbildung (in Lehr- und Anlernverhältnissen oder dgl . ) oder in Arbeit befindlichen jungen Menschen sowie von erwerbslosen Jugendlichen besucht werden (vgl . Erlaß des Reichs- und Preußischen Ministers für Wissenschaft , Erziehung und Volksbildung vom 29 . Oktober 1937 - MinAmtsbl . Deutsche Wissenschaft S . 500) . Daß die Berufsschule in E ... eine Schule in Sinne der angeführten gesetzlichen Vorschriften ist , wird von den Beteiligten nicht in Zweifel gezogen . Mit der Ausbildung in einer solchen Schule wird der Zweck verfolgt , den jungen Menschen das Rüstzeug für den künftigen , nicht notwendigerweise bereits gewählten Beruf zu geben . Der Umstand , daß der Kläger zu 1) in dem Speditionsunternehmen H ... als Beifahrer tätig war , bildete nicht einmal den Anlaß für seine Zuweisung in diese Schule; denn eingewiesen war er schon vor Antritt dieses Beschäftigungsverhältnisses , und offenbar besuchte er die Schule auch schon vor dem 23 . Februar 1955 . Der Schulbesuch brauchte also nicht der für die Firma H ... ausgeübten Tätigkeit zugute zu kommen . Nach der Auffassung des Senats sind - wie bereits in der ebenfalls am 31 . Juli 1962 ergangenen Entscheidung 2 RU 218/58 ausgeführt wurde - der Schulbesuch und ein gleichzeitig bestehendes Arbeitsverhältnis grundsätzlich getrennt zu behandeln . Der Kläger zu 1) war während des Schulbesuchs und auf dem Heimweg von der Schule nicht nach § 537 Nr . 1 RVO versichert . Als gesetzliche Grundlage des Versicherungsschutzes kommt § 537 Nr . 11 RVO in Betracht . Der Anwendung dieser Vorschrift , die eine Ausbildung für eine der in den Nummern 1 bis 9 des § 537 RVO genannten Tätigkeiten voraussetzt , steht nicht entgegen , daß zwischen dem Schulbesuch des Klägers zu 1) und seinem Arbeitsverhältnis kein unmittelbarer innerer Zusammenhang bestand; denn der Schulbesuch diente ohne Rücksicht auf ein bestehendes Arbeitsverhältnis allgemein einer beruflichen Ausbildung im Sinne des § 537 Nr . 11 RVO .
Kommt als Grundlage für den gesetzlichen Versicherungsschutz somit § 537 Nr . 11 RVO in Betracht , so ist die Beklagte nicht der zuständige Versicherungsträger . Nach dem auf Grund der Ermächtigung des Art . 3 § 1 des Sechsten Gesetzes über Änderungen in der Unfallversicherung vom 9 . März 1942 ergangenen , materielles Recht enthaltenden Erlaß des Reichsarbeitsministers vom 23 . Oktober 1943 (AN 1943 II 471) , hinsichtlich dessen Rechtswirksamkeit keine Bedenken bestehen (vgl . BSG vom 31 . Juli 1962 - 2 RU 218/58) , bestimmt sich die Zugehörigkeit der nach § 537 Nr . 11 RVO Versicherten zu einem Versicherungsträger nach dem Träger der unterrichtlichen Veranstaltung (Sachkostenträger) . Da die Stadt E ... Sachkostenträger der Berufsschule sein dürfte , kommt der Gemeindeunfallversicherungsverband Rheinprovinz als zuständiger Versicherungsträger in Betracht .
Der Senat hat , weil die von ihm als unzuständig erachtete Beklagte ihre Zuständigkeit bisher nicht bestritten hat , davon abgesehen , die gegen sie gerichtete Klage aus den oben angeführten Gründen abzuweisen; er hat in Anwendung des § 170 Abs . 2 Satz 2 SGG das angefochtene Urteil mit den ihm zugrunde liegenden Feststellungen aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an die Vorinstanz zurückverwiesen , damit der zuständige Versicherungsträger beigeladen werden kann .
Materiell-rechtliche Ausführungen zu der Frage , ob ein zu entschädigender Arbeitsunfall vorliegt , sind dem Senat verwehrt , weil der nach seiner Meinung gegebenenfalls leistungspflichtige Versicherungsträger am Verfahren nicht beteiligt ist und deshalb auch nicht durch die rechtliche Beurteilung des Revisionsgerichts gebunden wäre .
Fundstellen