Entscheidungsstichwort (Thema)
Beweiswürdigung. Gutachtenwürdigung
Orientierungssatz
Entnimmt das Gericht ärztlichen Gutachten Erklärungen, die mit dem Wortlaut der Gutachten nicht vereinbar sind, hat es den Inhalt beider Gutachten nicht zutreffend gewürdigt und damit gegen § 128 Abs 1 S 2 SGG verstoßen.
Normenkette
SGG § 128 Abs. 1 S. 2
Verfahrensgang
LSG Berlin (Entscheidung vom 05.09.1967) |
Tenor
Das Urteil des Landessozialgerichts Berlin vom 5. September 1967 wird aufgehoben.
Die Sache wird zu neuer Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Gründe
I
Der Kläger, geboren am 13. November 1922, wendet sich gegen die Entziehung der Rente wegen Berufsunfähigkeit. Er ist gelernter Bauschlosser und arbeitete - mit Unterbrechungen durch Kriegsdienst und Kriegsgefangenschaft - in diesem Beruf bis 1956, anschließend bis Juni 1962 als technischer Angestellter. Seither ist er als Kontaktmann zu Kunden und technischer Berater tätig.
Im Februar 1962 beantragte der Kläger Rente wegen Berufsunfähigkeit, weil er an einer Netzhautablösung des rechten und einem Vorfall des linken Auges leide. Die Beklagte lehnte auf Grund eines von dem Facharzt für Augenkrankheiten Dr. G am 28. März 1962 erstatteten Gutachtens den Rentenantrag zunächst ab, erkannte aber im anschließenden Klageverfahren auf Grund eines vom Sozialgericht (SG) Berlin angeforderten augenärztlichen Gutachtens von Dr. O vom 2. August 1963 "wegen zwischenzeitlicher (d. h. seit der Ablehnung eingetretener) Verschlimmerung" Berufsunfähigkeit ab 1. November 1962 an und erteilte dem Kläger den Rentenbescheid vom 9. Januar 1964. Der Kläger betrachtete darauf diesen Rechtsstreit als in der Hauptsache erledigt.
Am 28. August 1965 wurde der Kläger auf Veranlassung der Beklagten durch Dr. G nachuntersucht; dieser Arzt kam zu dem Ergebnis, die Sehschärfe des rechten Auges sei wesentlich besser als im Jahre 1962; die Ansicht, daß der Kläger in seinem Beruf als technischer Angestellter "auch heute ... durchaus noch berufsfähig" sei, müsse aufrechterhalten werden, jedenfalls sei dem Kläger eine Beschäftigung von mindestens vier bis fünf Stunden täglich zuzumuten, zumal er trotz des Rentenbezuges noch voll in diesem Beruf tätig sei. Auf Grund dieses Gutachtens entzog die Beklagte die Rente mit Bescheid vom 23. September 1965 ab 1. November 1965 (§ 63 des Angestelltenversicherungsgesetzes). Das SG Berlin verneinte auf Grund des von ihm beigezogenen Gutachtens des Oberarztes an der Freien Universität B Prof. Dr. K vom 25. Mai 1966 eine Änderung (Besserung) der gesundheitlichen Verhältnisse des Klägers, es hob deshalb den Bescheid vom 23. September 1965 auf. Das Landessozialgericht (LSG) Berlin hob auf die Berufung der Beklagten das Urteil des SG auf und wies die Klage ab: Die Beurteilung des Leistungsvermögens durch Dr. O habe vor allem auf der "nicht unzutreffenden" Annahme einer Verschlechterungsgefahr für das rechte Auge durch mehrstündige Naharbeit beruht. Nach dem Gutachten von Prof. Dr. K sei diese Verschlechterungsgefahr jetzt eindeutig ausgeräumt, auch habe sich die Sehkraft des rechten Auges, verglichen mit dem Befund von Dr. O nach der übereinstimmenden Feststellung von Dr. G und Prof. Dr. K gebessert; es handele sich - entgegen der Auffassung des SG - nicht (nur) um eine unterschiedliche Beurteilung des Leistungsvermögens des Klägers, sondern um eine objektive Änderung der Verhältnisse; sie führe dazu, daß der Kläger in seinem Beruf als technischer Angestellter nicht mehr berufsunfähig sei.
Mit der Revision rügte der Kläger u. a. Verstöße des LSG gegen § 128 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG): Das LSG habe - wie der Kläger näher darlegte - den Gutachten von Dr. O und Prof. Dr. K Erklärungen entnommen, die in den Gutachten nach ihrem klaren Wortlaut nicht enthalten seien, und es habe daraus in seiner irrigen Auffassung über den Erklärungsinhalt unrichtige Schlüsse gezogen; es habe aus dem Gutachten von Dr. O nicht - jedenfalls nicht ohne vorherige Anhörung dieses Gutachters - eine Verschlechterungsgefahr für das rechte Auge entnehmen dürfen, und es habe sich auch damit auseinandersetzen müssen, daß Prof. Dr. K abschließend eine entscheidende Änderung der Gesamtleistungsfähigkeit des Klägers verneint habe. Die Voraussetzungen für einen Rentenentzug hätten deshalb nicht vorgelegen. Der Kläger beantragte,
unter Aufhebung des Urteils des LSG Berlin vom 5. September 1967 die Berufung der Beklagten zurückzuweisen.
Die Beklagte stellte keinen Antrag.
II
Die vom LSG nicht zugelassene Revision ist statthaft nach § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG. Der Kläger rügt zu Recht Verstöße des LSG gegen § 128 SGG; auf die weiteren Verfahrensrügen kommt es damit nicht an.
Das LSG ist bei der Feststellung der - medizinischen - Tatsachen, die für die Rechtmäßigkeit des Rentenentziehungsbescheids vom 23. September 1965 erheblich sind, einerseits von dem Gutachten des Dr. O vom 2. August 1963, andererseits von dem Gutachten des Prof. Dr. K vom 25. Mai 1966 ausgegangen. Es hat eine Besserung des Sehvermögens des Klägers im wesentlichen deshalb bejaht, weil "die Verschlechterungsgefahr, die nach dem Gutachten des Sachverständigen Dr. O bei mehrstündiger Naharbeit noch bestand, nach dem Gutachten von Prof. Dr. K jedenfalls jetzt eindeutig ausgeräumt ist". Der Kläger hat diese Feststellungen zu Recht angegriffen; das LSG hat insoweit beiden Gutachten Erklärungen entnommen, die mit dem Wortlaut der Gutachten nicht vereinbar sind, es hat den Inhalt beider Gutachten nicht zutreffend gewürdigt und damit gegen § 128 Abs. 1 Satz 2 SGG verstoßen. Dr. O hat (auf S. 5 oben seines Gutachtens) zunächst ausgeführt, der Kläger sei - wegen des schlechten Zustandes des linken Auges - "allein auf das Sehvermögen des rechten Auges bei der Naharbeit als technischer Angestellter" angewiesen. Auf Seite 5 unten, Seite 6 oben des Gutachtens hat er zur Begründung seiner Auffassung, daß dem Kläger "selbst eine Tätigkeit von vier bis fünf Stunden nicht mehr zuzumuten" sei, weiter ausgeführt: "Das linke Auge fällt infolge der schweren zentralen Netzhautschädigungen in seinem Sehvermögen bei jeder Naharbeit aus, das rechte Auge bereits durch die Netzhautablösung gefährdet, ist mehrstündiger Naharbeit bei dem Verlust des Tiefensehens nicht mehr gewachsen". Er hat also das Sehvermögen des linken Auges für jede Naharbeit verneint, das Sehvermögen des rechten Auges als mehrstündiger Naharbeit nicht mehr gewachsen bezeichnet. Wenn er dabei das rechte Auge als "bereits durch die Netzhautablösung gefährdet" bezeichnet hat, so hat diese Äußerung nicht, auch nicht in Verbindung mit dem sonstigen Inhalt des Gutachtens, die Feststellung des LSG zugelassen, daß Dr. O eine (wenigstens) vier bis fünf Stunden tägliche Naharbeit des Klägers deshalb nicht für möglich gehalten habe, weil diese Naharbeit die Gefahr einer weiteren Verschlechterung des - bereits gefährdeten - Sehvermögens des rechten Auges bedeute; Dr. O hat nicht auf eine von ihm bei weiterer Arbeitsleistung des Klägers befürchtete künftige ungünstige Entwicklung des Augenleidens, sondern auf den bereits im Zeitpunkt des Gutachtens gegebenen Zustand abgehoben; dieser Zustand hat nach Meinung des Gutachters schon damals eine mehrstündige Naharbeit "nicht mehr" zugelassen. Das LSG hat diese ärztliche Beurteilung "nicht als unzutreffend" angesehen. Da Dr. O bei seiner Beurteilung nicht von der Gefahr einer künftigen Verschlechterung ausgegangen ist, ist die Feststellung des LSG, daß eine solche Gefahr "jedenfalls jetzt eindeutig ausgeräumt" sei, mit dem Gesamtergebnis des Verfahrens nicht vereinbar; sie hat nicht auf das Gutachten von Prof. Dr. K gestützt werden können. "Eindeutig" ist dem Gutachten von Prof. Dr. K nur zu entnehmen, daß (vgl. S. 5 unten, S. 6 oben) keine Gesundheitsstörungen neu - nämlich seit der Begutachtung durch Dr. O - hinzugekommen seien, daß sich "das Sehvermögen auf dem rechten Auge etwas gebessert" habe, "auf dem linken Auge aber erheblich schlechter" geworden sei. Prof. Dr. K hat zwar der Besserung des Sehvermögens rechts mehr Bedeutung beigemessen als der Verschlechterung des schon seinerzeit stark herabgesetzten Sehvermögens links, er hat aber anschließend gesagt: "Eine entscheidende Änderung der Gesamtleistungsfähigkeit Liegt allerdings nicht vor". Wenn er weiter ausgeführt hat, er könne sich nicht der gutachtlichen Beurteilung durch den Augenarzt Dr. O anschließen, wonach das rechte Auge, welches durch die Netzhautablösung bereits gefährdet sei, mehrstündiger Naharbeit ... nicht mehr gewachsen sei, weil die Netzhautablösung voll geheilt sei und keine Funktionseinbuße hinterlassen habe, so hat auch dies nicht die Feststellung des LSG gerechtfertigt, daß sich der Zustand des Klägers gegenüber dem Zustand bei der Begutachtung durch Dr. O geändert - gebessert - habe, zumal auch bereits Dr. O von einem Zustand "nach erfolgreicher Operation der Netzhautablösung rechts" ausgegangen ist. Dem Wortlaut nach lassen diese Ausführungen von Prof. Dr. K eher erkennen, daß er die Gesamtbeurteilung des damaligen Zustandes durch Dr. O nicht teile.
Die Feststellung des LSG, daß sich die gesundheitlichen Verhältnisse des Klägers, die im Zeitpunkt des Rentenbewilligungsbescheides bestanden haben, geändert haben, wird also durch die vom LSG herangezogenen Äußerungen in den Gutachten von Dr. O und Prof. Dr. K nicht getragen; der Kläger hat dies zu Recht gerügt. Die Revision, die frist- und formgerecht eingelegt ist, ist daher zulässig. Sie ist auch begründet. Auf Grund der bisherigen Feststellungen hat die Rechtmäßigkeit des Rentenentziehungsbescheides nicht bejaht werden dürfen. Das Urteil des LSG ist daher aufzuheben. Der Senat kann über die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des SG jedoch nicht selbst entscheiden, weil er die Tatsachen, die für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit des Rentenentziehungsbescheids erheblich sind, nicht selbst feststellen darf. Die Sache ist daher zu neuer Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen (§ 170 Abs. 2 Satz 2 SGG).
Die Entscheidung über die Kosten bleibt dem abschließenden Urteil vorbehalten.
Fundstellen