Entscheidungsstichwort (Thema)

Beweiswürdigung

 

Orientierungssatz

Es gibt keinen medizinischen Erfahrungssatz, daß bei einer Gehirnkontusion auch ohne Änderung im Befund allein im Hinblick auf einen gewissen Zeitablauf eine Besserung angenommen werden kann.

 

Normenkette

SGG § 128; RVO § 622 Abs. 1

 

Verfahrensgang

LSG Rheinland-Pfalz (Entscheidung vom 03.12.1965)

SG Speyer (Entscheidung vom 01.12.1964)

 

Tenor

Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 3. Dezember 1965 aufgehoben, soweit das Landessozialgericht über die Anfechtung des Bescheides der Beklagten vom 27. August 1964 entschieden hat. Insoweit wird die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

Im übrigen wird die Revision als unzulässig verworfen.

 

Gründe

I

Die Klägerin (geboren ... 1909) stürzte am 25. April 1958 auf dem Weg zur Arbeitsstätte mit ihrem Moped infolge eines Gabelbruchs. Sie wurde in das St. H-Krankenhaus in M eingeliefert. Nach dem Durchgangsarztbericht (Facharzt für Chirurgie Dr. Sp) ergab die Untersuchung einen Schlüsselbeinbruch, einen Schädelbasisbruch und eine Gehirnkontusion. Die auf Veranlassung von Dr. Sp durchgeführte Untersuchung durch den Nervenarzt Dozent Dr. K (Gutachten vom 19. Juni 1958) ergab vorwiegend linksseitige neurologische Ausfallerscheinungen und starke zentral-vasomotorische Störungen, aber keine hirntraumatische Wesensveränderung. Die neurologischen Ausfallerscheinungen weisen nach Auffassung von Dr. K auf eine contusionelle Hirnschädigung hin, die außer einer commotio cerebri vorgelegen habe. Die Untersuchung durch den Leitenden Arzt der Hals-, Nasen- Ohren-Abteilung des St. H-Krankenhauses Dr. Sch am 27. Juni 1958 ergab u. a. eine erhebliche Labyrinthreizung als Folge des Unfalls. Aufgrund weiterer Gutachten der Ärzte Dr. K Dr. Sch und Dr. Sp vom November 1958 stellte die Beklagte durch Bescheid vom 4. März 1959 vom 25. Oktober 1958 (Beginn der 27. Woche nach dem Unfall) bis zum 11. November 1958 eine vorläufige Rente von 80 v. H. der Vollrente, vom 12. November 1958 an bis auf weiteres eine vorläufige Rente von 60 v. H. der Vollrente fest. Dieser Bescheid wurde nicht angefochten.

Aufgrund einer Untersuchung am 10. Juni 1959 kam der Nervenarzt Prof. Dr. K im Gutachten vom 15. Juni 1959 zu dem Ergebnis, daß neurologisch eine Besserung insofern eingetreten sei, als kein Nystagmus und keine Hirnnervensymptome mehr beständen und die Reflexbefunde sich vollkommen normalisiert hätten. Hirnleistungsschwächen seien nicht zu finden. Die subjektiven Beschwerden würden stark überwertet, seien zu einem gewissen Teil allerdings noch als Unfallfolge anzusehen. Da es sich bei der Rückbildung der immer schon dürftigen neurologischen Symptome nicht um wesentliche Änderungen handele und nach den Unterlagen der Unfall doch zu schwereren Störungen geführt habe, empfehle er für sein Fachgebiet eine Berentung von 30 v. H.. Der HNO-Arzt Dr. Sch (Befundbericht vom 16. September 1959) stellte bei einer Untersuchung am 8. August 1959 fest, daß keine Labyrinthreizung mehr bestehe und kam zu dem Ergebnis, daß auf seinem Fachgebiet keine Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) mehr bestehe. Der Chirurg Dr. Sp bewertete die MdE vom chirurgischen Standpunkt aus auf 10 v. H. und empfahl die Anerkennung einer MdE von 40 v. H. mit dem Hinweis, daß durch Gewöhnung mit einer weiteren Besserung zu rechnen sei. Die Beklagte setzte daraufhin durch Bescheid vom 25. November 1959 die vorläufige Rente mit Wirkung vom 1. Januar 1960 auf 40 v. H. der Vollrente herab.

Gegen diesen Bescheid hat die Klägerin Klage beim Sozialgericht (SG) Speyer - Zweigstelle Mainz - erhoben mit dem Antrag, ihr weiter eine Rente in Höhe von 60 v. H. der Vollrente zuzusprechen.

In einem Verfahren vor dem SG Speyer - Zweigstelle Mainz -, das eine Rentenangelegenheit der Klägerin gegen die Landesversicherungsanstalt (LVA) Rheinland-Pfalz betrifft, erstattete Prof. Dr. D (Medizinische Poliklinik der Universität M) ein Gutachten vom 15. März 1960, das zu dem Ergebnis kommt, die Klägerin könne infolge ihrer körperlichen Leistungsschwäche den Beruf als Lageristin nicht mehr ausüben. In dem nervenärztlichen Zusatzgutachten der Nervenklinik der Universität M vom 9. März 1960 (Oberarzt Prof. Dr. Sch Facharzt Dr. St) ist ausgeführt, die Klägerin habe über eine Gehirnerschütterung hinaus eine contusionelle Hirnprellung erlitten. Hirnherdsymptome seien aber nicht mehr nachzuweisen. Auch von otologischer Seite sei ein organpathologischer Befund nicht mehr faßbar. Psychische Auffälligkeiten seien nicht mehr zu finden. Die auf dem neurologischem Fachgebiet vorgebrachten Beschwerden (Kopfschmerzen, Schwindel, leichtere Erschöpfbarkeit) werde man dem jetzt fast zwei Jahre zurückliegenden Schädel-Hirntrauma nicht mehr zur Last legen können. Die MdE wird in diesem Gutachten bis zum Ablauf des zweiten Jahres nach dem Unfall auf 30 v. H., dann für 1/2 Jahr auf 20 v. H. und anschließend für ein weiteres 1/2 Jahr auf 10 v. H. geschätzt. Prof. Dr. K erstattete auf Veranlassung der Beklagten am 11. Mai 1960 aufgrund einer Untersuchung vom 9. Mai 1960 ein weiteres Gutachten, in dem u. a. ausgeführt ist, angesichts der in dem Gutachten der Medizinischen Poliklinik der Universität Mainz festgestellten Gesundheitsstörungen seien die subjektiven Beschwerden und die Einschränkung der Leistungsfähigkeit der Klägerin nicht verwunderlich. Als Hirncontusionsfolge könne aber nur noch ein kleiner Teil dieser Beschwerden aufgefaßt werden. Die neurologischen Störungen hätten sich praktisch völlig zurückgebildet. Die MdE durch Unfallfolgen sei auf 20 v. H. zu schätzen. Bei der Schwere des Unfalles und nach dem Ausmaß der anfänglichen Symptome sei eine weitere wesentliche Besserung nicht wahrscheinlich. Dr. Sp führte in seinem auf Veranlassung der Beklagten erstatteten Gutachten vom 30. Mai 1960 aufgrund einer Untersuchung vom 25. Mai 1960 aus, die Rippenserienfraktur sei konsolidiert mit einer geringgradigen Einschränkung der Beweglichkeit des rechten Brustkorbes. Die Schlüsselbeinfraktur sei ebenfalls konsolidiert mit geringer Deformierung des Accromeo Claviculargelenks . Es bestehe noch eine geringgradige Einschränkung der Beweglichkeit des rechten Armes, die MdE sei chirurgischerseits auf 10 v. H. einzuschätzen und betrage insgesamt 30 v. H.. Auf eine Anfrage der Beklagten antwortete Dr. Spies am 5. August 1960, daß die Zusammenziehung der MdE auf 25 v. H. "gerechtfertigt und üblich" sei.

Die Beklagte stellte daraufhin durch Bescheid vom 8. September 1960 die Dauerrente mit Wirkung vom 1. November 1960 an auf 25 v. H. der Vollrente fest. Als Unfallfolgen sind in diesem Bescheid anerkannt: "Beschwerden nach Kopfverletzung. Bewegungseinschränkung des Armes nach Schlüsselbeinfraktur rechts". Als Unfallfolgen sind nicht anerkannt: "Beginnende Arteriosklerose; Blutdruckerhöhung; leichte Myocardschädigung; Lungenemphysem; beginnende Osteochondrose der Halswirbelsäule; Krampfadern an beiden Beinen mit Geschwürsbildung rechts".

Im Verfahren vor dem SG erstattete Privatdozent Dr. B ein fachchirurgisches Gutachten vom 28. April 1961 (Untersuchung an demselben Tage), in dem ausgeführt ist, der Schädelbruch habe nur auf neurologischem Fachgebiet Schädigungen verursacht, die Brüche des rechten Schlüsselbeins und der rechten Rippen seien in guter Stellung verheilt, ohne daß nennenswerte Schädigungen zurückgeblieben seien. Die MdE auf dem chirurgischen Fachgebiet sei auf Null einzuschätzen. Weiterhin erstattete der Nervenfacharzt Dr. K aufgrund einer Untersuchung vom 9. Mai 1964 ein Gutachten vom 1. August 1964. Die Beurteilung der Folgen des Unfalls vom 25. April 1958 von seiten des Nervensystems werde sehr erschwert durch die starke Überwertung und psychogene Überlagerung. Da es sich aber tatsächlich um einen schweren Unfall mit Schädelbasisbruch und sicherer Hirnquetschung gehandelt habe, müsse man einen kleinen Teil der geklagten Kopfschmerzen und Schwindelzustände noch als zentral-vasomotorische Störungen als Hirnquetschungsfolge auffassen. Die MdE hierdurch sei auf höchstens 10 v. H. einzuschätzen. Die Herabsetzung der Rente von 40 v. H. und die weitere Herabsetzung der Rente auf 25 v. H. seien vom nervenfachärztlichen Standpunkt aus durchaus gerechtfertigt. Das Krankheitsbild werde vollständig von den unfallunabhängigen Erkrankungen und vor allem von einer bereits als unfallneurotisch zu bezeichnender Fehleinstellung beherrscht.

Durch Bescheid vom 27. August 1964 hat die Beklagte die bisherige Dauerrente von 25 v. H. der Vollrente mit Ablauf des Monats September 1964 entzogen, weil die Erwerbsfähigkeit durch Folgen des Unfalls nur noch um 10 v. H. gemindert sei. Als Begründung ist ausgeführt: Eine Bewegungseinschränkung des Armes liege nicht mehr vor. Von seiten des Schlüsselbeinbruchs seien keine nennenswerten Schädigungen zurückgeblieben, auch hätten sich die Folgen der Kopfverletzung fast vollständig zurückgebildet, wobei das jetzige Krankheitsbild von unfallunabhängigen Erkrankungen (Arteriosklerose, Myocardschädigung, Osteochondrose der Wirbelsäule mit Cervicalsyndrom) beherrscht werde. Zur Begründung werde auf die Gutachten des Privatdoz. Dr. B vom 28. April 1961 und des Nervenarztes Dr. K vom 1. August 1964 Bezug genommen.

Im Termin vor dem SG am 1. Dezember 1964 hat die Klägerin beantragt, unter Abänderung der Bescheide vom 25. November 1959 und 8. September 1960 die Beklagte zu verurteilen, der Klägerin auch über den Monat Dezember 1960 hinaus weiterhin eine Rente nach einer MdE von 60 v. H. zu gewähren. Das SG hat durch Urteil von demselben Tage die Klage abgewiesen. Das SG ist der Auffassung, daß die Bescheide der Beklagten vom 25. November 1959, 8. September 1960 und 27. August 1964 weder in tatsächlicher noch in rechtlicher Hinsicht zu beanstanden seien. Zur Begründung hat das SG jeweils auf die bereits erwähnten Gutachten hingewiesen.

Gegen das Urteil des SG hat die Klägerin Berufung beim Landessozialgericht (LSG) Rheinland-Pfalz eingelegt und zur Begründung u. a. darauf hingewiesen, daß eine Änderung, die eine Herabsetzung der Rente rechtfertige, nicht nachgewiesen sei. Sie ist der Auffassung, ihre Beschwerden seien zu Unrecht auf unfallunabhängige Krankheitserscheinungen zurückgeführt und ebenfalls zu Unrecht als Ausdruck einer psychogenen Fehleinstellung beurteilt worden. Sie hat beantragt, unter Aufhebung des Urteils des SG Speyer, Zweigstelle Mainz, vom 1. Dezember 1964 und in Abänderung der Bescheide der Beklagten vom 25. November 1959, 8. September 1960 und 27. August 1964 die Beklagte zu verurteilen, der Klägerin aus dem Arbeitsunfall vom 25. April 1958 über den 31. Dezember 1959 hinaus eine vorläufige Rente und ab 1. November 1960 auch Dauerrente nach einer MdE von 60 v. H. zu zahlen.

Das LSG hat durch Urteil vom 3. Dezember 1965 die Berufung der Klägerin zurückgewiesen.

Zur Begründung hat das LSG u. a. ausgeführt, die Berufung gegen die Bescheide der Beklagten sei, auch soweit sie nach § 145 Nr. 3 und 4 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) ausgeschlossen sei, nach § 150 Nr. 3 SGG statthaft, weil der ursächliche Zusammenhang der bei der Klägerin bestehenden Gesundheitsstörungen mit dem Arbeitsunfall streitig sei. Die Herabsetzung der vorläufigen Rente von 60 auf 40 v. H. vom 1. Januar 1960 an setze nach § 608 der Reichsversicherungsordnung (RVO) idF vor dem Inkrafttreten des Unfallversicherungs-Neuregelungsgesetzes (UVNG) - RVO aF - eine wesentliche Besserung voraus. Das sei von der Beklagten mit Recht bejaht worden. Dr. Sch habe in seinem Gutachten vom November 1958 einen Labyrinthreiz festgestellt, der jedoch, wie eine Nachuntersuchung ergeben habe, im Herabsetzungszeitpunkt nicht mehr vorhanden gewesen sei. Auch aus dem Gutachten von Prof. Dr. K vom 15. Juni 1959 ergebe sich eine Besserung der Unfallfolgen auf dem nervenfachärztlichen Fachgebiet. Der Chirurg Dr. Sp habe mit Recht unter Einbeziehung der chirurgischerseits angenommenen MdE von 10 v. H. eine MdE von 40 v. H. vorgeschlagen. In Übereinstimmung mit der Vorinstanz sehe der Senat auch keine Möglichkeit, die MdE aus dem Unfall zur Festsetzung der Dauerrente vom 1. November 1960 an (Bescheid vom 8. September 1960) höher als mit 25 v. H. einzuschätzen. Prof. Dr. K (Gutachten vom 11. Mai 1960) sei auf nervenfachärztlichem Fachgebiet zu dem Ergebnis gelangt, daß nur noch eine MdE von 20 v. H. anzunehmen sei, da sich die neurologischen Störungen praktisch zurückgebildet hätten und als Hirnkontusionsfolge nur noch ein kleiner Teil der von der Klägerin geäußerten subjektiven Beschwerden anzusehen sei. Auch im Gutachten der Nervenklinik der Universität Mainz (Prof. Dr. Sch, Dr. St, - Gutachten vom 9. März 1960 in der Arbeiterrentenstreitsache -) hätte vom 25. April 1960 an nur noch eine MdE von 20 v. H. als Folge der kontusionellen Hirnprellung angenommen werden können. Prof. Dr. Sch und St. St seien überdies der Auffassung, daß für die Zeit vom 25. Oktober 1960 an neurologischerseits nur noch eine unfallbedingte MdE von 10 v. H. zu bejahen sein werde. Dem Gutachten des Prof. Dr. K vom 11. Mai 1960, der die MdE für die Folgen der Hirnkontusion auf 20 v. H. schätze, und dem Gutachten des Dr. Sp vom 30. Mai 1960, der die MdE für die Dauerrente auf 25 v. H. schätze, sei uneingeschränkt beizupflichten. Die Schätzung der noch bestehenden Unfallfolgen auf 10 v. H. erscheine angemessen. Auf die Frage einer Änderung der Verhältnisse sei es bei der Erteilung des genannten Dauerrentenbescheides nicht angekommen. Die Entziehung der Dauerrente von 25 v. H. durch den Bescheid vom 27. August 1964, der nach § 96 SGG Gegenstand des Verfahrens geworden sei, sei nur bei Vorliegen der Voraussetzungen des § 622 Abs. 1 RVO zulässig, der, ebenso wie § 608 RVO aF eine wesentliche Besserung voraussetze. Indes bestehe nicht der geringste Zweifel daran, daß sich sowohl im neurologischen als auch im chirurgischen Befund in der Zeit vom 1. November 1960 bis zum Ablauf des Monats September 1964 eine wesentliche Besserung eingestellt habe. Auf chirurgischem Gebiet liefere das Gutachten von Dr. B, den Beweis für eine wesentliche Besserung der Verletzungsfolgen. Danach scheide auf diesem Gebiet die Annahme jeder MdE aus. Ein Rentenanspruch, der eine MdE von wenigstens 20 v. H. voraussetze, sei nur begründet, wenn sich ein Schädigungsgrad in dieser Höhe, mangels Eintritts einer Besserung in der Zeit vom 1. November 1960 bis Ende September 1964, noch als Folge der Hirnkontusion feststellen ließe. Dem stehe das Gutachten des Dr. K vom 1. August 1964 entgegen, das zu dem Ergebnis komme, man könne die von der Klägerin geklagten Kopfschmerzen und Schwindelzustände nur zu einem kleinen Teil auf die Hirnkontusion zurückführen und die hierdurch bedingte MdE von seiten des Nervensystems höchstens auf 10 v. H. einschätzen. Der Befund als solcher im Gutachten des Dr. K vom 1. August 1964 enthalte zwar im wesentlichen die gleichen Feststellungen wie das zum Vergleich herangezogene Gutachten des Prof. Dr. K Prof. Dr. K habe sich dahin geäußert, daß nur noch ein kleiner Teil der subjektiven Beschwerden als Hirnkontusionsfolgen aufgefaßt werden könne, und habe einen Schädigungsgrad von 20 v. H. angenommen. Dem Senat sei jedoch aus Fällen, die der vorliegenden Streitsache gegenüber gleichgel-agert seien, bekannt, daß die Besserung eines Schädeltraumas, und zwar ohne die Feststellung einer Änderung speziell im objektiven neurologischen und psychischen Befund, auch nach einer Hirnkontusion allein schon im Hinblick auf einen gewissen Zeitablauf angenommen werde. Es handele sich um einen medizinisch gefestigten und damit beweiskräftigen Erfahrungssatz, den der Senat auch in dem vorliegenden Fall anwenden müsse. Dies um so mehr, als die Dauerrente von 25 v. H. bereits vom 1. November 1960 an festgesetzt und durch den Bescheid vom 27. August 1964 erst mit Ablauf des Monats September 1964 entzogen worden sei. Angesichts des bereits bei der Untersuchung am 9. Mai 1960 nur noch geringfügig vorhandenen neurologischen Befundes in Verbindung mit dem bezeichneten Erfahrungssatz in Hirnkontusionsfällen könne der Senat nicht umhin, auch den Bescheid vom 27. August 1964 wegen wesentlicher Besserung der Unfallfolgen auf neurologischem Fachgebiet als zu Recht ergangen zu bezeichnen. Für eine MdE von 10 v. H. aus dem Unfall könne die Klägerin eine Rente vom 1. Oktober 1964 an nicht mehr beanspruchen. Neue Gesichtspunkte habe die Klägerin im Berufungsverfahren nicht vorgebracht. Durch die vorhandenen Gutachten sei der Sachverhalt medizinisch eindeutig geklärt, die Einholung eines weiteren Gutachtens komme nicht in Betracht. Auch eine zu entschädigende Unfallneurose läge nicht vor. Die nervenfachärztlichen Gutachten sprächen eindeutig dafür, daß die auffälligen psychischen Reaktionen wesentlich auf wunschbedingten Vorstellungen, insbesondere einem Rentenbegehren, beruhten. Damit sei für die Anerkennung einer Neurose als Unfallfolge nach den vom Bundessozialgericht (BSG) im Urteil vom 18. Dezember 1962 (BSG 18, 173) aufgestellten Grundsätzen kein Raum.

Gegen das Urteil des LSG, das dem Prozeßbevollmächtigten der Klägerin am 11. Januar 1966 zugestellt worden ist, hat die Klägerin durch ihre Prozeßbevollmächtigten am 1. Februar 1966 Revision eingelegt und sie gleichzeitig begründet.

Sie beantragt,

das Urteil des LSG aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen.

Die Revision rügt, das LSG sei bei dem Vergleich der beiden Gutachten zu dem Ergebnis gekommen, daß die Feststellungen im wesentlichen gleich seien. Das LSG meine einen Erfahrungssatz anwenden zu können, den es in Wirklichkeit nicht gebe. Es gebe zwar eine Vermutung, wonach Gehirnschäden nach einer bestimmten Zeit abzuklingen pflegen. Diese Vermutung greife aber nur Platz, wenn sie nach sorgfältiger Prüfung des einzelnen Falles durch andere Umstände gestützt werde. Möglicherweise hätte sich Dr. K zur Frage der wesentlichen Änderung geäußert, wenn ihm dies seitens des Gerichts aufgetragen worden wäre. Mit Recht sei daher schon in der Vorinstanz gerügt worden, daß Dr. K zu der Frage der wesentlichen Änderung der Verhältnisse nicht Stellung genommen habe.

Die Beklagte beantragt,

die Revision als unzulässig zu verwerfen.

II

Die Revision der Klägerin ist form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden. Da das LSG die Revision nicht zugelassen hat (§ 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG) ist ihre Statthaftigkeit davon abhängig, ob die Voraussetzungen der Nr. 2 oder der Nr. 3 des § 162 Abs. 1 SGG gegeben sind.

Die Revision rügt, daß das LSG die Entziehung der Dauerrente von bisher 25 v. H. der Vollrente (Bescheid vom 27. August 1964) für berechtigt gehalten habe, obwohl sich aus den zum Vergleich herangezogenen Gutachten keine Änderung der Befunde ergeben habe. Die Revision ist der Auffassung, daß das LSG sich für seine Feststellung einer Änderung der Verhältnisse zu Unrecht auf einen Erfahrungssatz berufe. Diese Rüge ist nach der Auffassung des erkennenden Senats geeignet darzutun, daß das LSG die Grenzen des Rechts der freien Beweiswürdigung überschritten hat und sein Verfahren somit an einem wesentlichen Mangel im Sinne des § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG leidet (vgl. BSG 10, 46, 49; SozR Nr. 68 zu § 162 SGG; auch BSG 2, 236).

Das LSG hat nicht verkannt, daß die Entziehung der Dauerrente durch den Bescheid vom 27. August 1964 nach § 622 Abs. 1 RVO eine wesentliche Änderung in den für die Feststellung der Dauerrente (Bescheid vom 8. September 1960) maßgebend gewesenen Verhältnissen voraussetzt. Auch von seinem sachlich-rechtlichen Standpunkt aus (vgl. BSG 2, 84, 87) hing die Entscheidung davon ab, ob eine solche Änderung festzustellen war. Das LSG hat hierfür, soweit es sich um die Unfallfolgen auf neurologischem Gebiet handelt, die Gutachten des Prof. Dr. K (vom 11. Mai 1960) und des Nervenfacharztes Dr. K (vom 1. August 1964) zum Vergleich herangezogen und ist zu dem Ergebnis gelangt, daß sich aus einem Vergleich der von den beiden Sachverständigen erhobenen Befunde eine wesentliche Änderung der Verhältnisse nicht feststellen lasse. Es ist jedoch der Auffassung, daß aufgrund eines "medizinisch gefestigten und damit beweiskräftigen Erfahrungssatzes" auch ohne Feststellung einer Änderung im Befund bei einer Hirnkontusion "allein schon im Hinblick auf einen gewissen Zeitablauf" eine Besserung angenommen werden könne. Die Revision rügt mit Recht, daß es einen solchen Erfahrungssatz nicht gibt. Prof. Dr. Felix J (in Bürckl e de la Camp/Rostock, Handbuch der gesamten Unfallheilkunde, 2. Band, 2. Aufl. S. 93) weist darauf hin, daß im Anschluß an eine Contusio cerebri "sehr lange Zeit Beschwerden zurückbleiben können". Schrader/ Stockdorph (in Fischer/Herget/Mollowitz "Das ärztliche Gutachten im Versicherungswesen", 3. Aufl. Band II S. 33) sind sogar der Auffassung, daß, selbst wenn klinisch keine Ausfallerscheinungen zu erfassen seien, bei gesicherter Contusio cerebri als Anerkennung der stattgehabten Hirnschädigung eine Dauerrente von mindestens 20 v. H. zu gewähren sei (vgl. auch Bues in demselben Lehrbuch, Band I S. 695). Auch Ewald (Lehrbuch für Neurologie und Psychiatrie, 5. Aufl. S. 168) weist darauf hin, daß sich Störungen bei Substanzschädigungen des Hirns langsam und "nicht immer vollständig" zurückbilden, und aus den Ausführungen von Störring (in Reichhard "Einführung in die Unfall- und Rentenbegutachtung", 4. Aufl. neu herausgegeben von Störring/Schellworth S. 233 f) ergibt sich, daß die Einschätzungen der MdE bei einer Contusio cerebri jeweils von der Lage des Einzelfalles abhängig ist. Die Revision rügt also mit Recht, daß das LSG das Vorliegen einer wesentlichen Besserung der für die Rentenfeststellung maßgebend gewesenen Verhältnisse nicht auf Grund des von ihm irrtümlich angenommenen Erfahrungssatzes feststellen durfte. Das Verfahren des LSG leidet insoweit an einem wesentlichen Mangel, der von der Revision gerügt ist. Die Revision ist deshalb statthaft.

Die Statthaftigkeit der Revision hat zur Folge, daß das Revisionsgericht das angefochtene Urteil in vollem Umfang materiell-rechtlich nachprüfen muß (vgl. BSG 3, 180, 186). Im vorliegenden Fall besteht jedoch die Besonderheit, daß der von der Revision gerügte Verfahrensmangel nicht den gesamten Anspruch der Klägerin auf eine Rente in Höhe von 60 v. H. der Vollrente vom 1. Januar 1960 an betrifft, den die Klägerin durch Anfechtung der Bescheide vom 25. September 1959, 8. August 1960 und 27. August 1964, die sämtlich nach § 96 SGG Gegenstand des Klageverfahrens vor dem SG geworden waren, mit ihrer Anfechtungs- und Leistungsklage geltend gemacht hat. Die Rüge der Revision betrifft vielmehr nur den Bescheid vom 27. August 1964 und damit den zeitlich abgrenzbaren Anspruch auf eine Dauerrente für die Zeit vom 1. Oktober 1964 an. Soweit die Klägerin ihren Rentenanspruch durch Anfechtung der übrigen Bescheide betreibt, wird die Entscheidung des LSG durch die Rüge der Revision nicht berührt. Die Revision hat insoweit auch keine weitere Rüge vorgetragen. Die Revision ist deshalb nur statthaft, soweit das Urteil des LSG die Anfechtungs- und Leistungsklage gegen den Bescheid vom 24. August 1964 betrifft, im übrigen ist sie unzulässig.

Soweit die Revision statthaft ist, ist sie auch begründet, denn es ist nicht auszuschließen, daß das LSG hinsichtlich des Anspruchs der Klägerin auf eine Dauerrente von 25 v. H. für die Zeit vom 1. Oktober 1964 an zu einem für die Klägerin günstigeren Ergebnis gekommen wäre, wenn es dem Sachverständigen Dr. K - oder einem anderen Sachverständigen - die Frage vorgelegt hätte, ob in den für die Feststellung der Dauerrente von 25 v. H. der Vollrente vom 1. November 1960 an maßgebend gewesenen Verhältnissen inzwischen eine wesentliche Änderung eingetreten ist.

Es ist dem Senat verwehrt, eine Entscheidung in der Sache selbst zu treffen, weil hierfür auf tatsächlichem Gebiet liegende Wertungen erforderlich sind. Der Senat hat deshalb auf die Revision der Klägerin das Urteil des LSG insoweit aufgehoben, als das LSG über die Anfechtung des Bescheides der Beklagten vom 27. August 1964 entschieden hat. Insoweit hat der Senat die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückverwiesen. Im übrigen hat er die Revision als unzulässig verworfen.

Das LSG wird bei der erneuten Entscheidung auch über die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden haben.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1649636

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