Entscheidungsstichwort (Thema)
Arbeitsunfall. Leistungen. Verjährung
Orientierungssatz
1. Die Einrede der Verjährung von Versicherungsleistungen ist vom Unfallversicherungsträger dann nicht mißbräuchlich erhoben, wenn der Versicherte durch Zurückhaltung von ärztlichen Befunden dazu beigetragen hat, daß die Unfallfolgen nicht bis in alle Einzelheiten aufgeklärt worden sind.
2. Nur ein pflichtwidriges Verhalten des Versicherungsträgers hat den Vorwurf der unzulässigen Rechtsausübung beim Geltendmachen der Verjährungseinrede zur Folge.
Normenkette
RVO § 29 Abs. 3, § 627
Verfahrensgang
LSG Niedersachsen (Entscheidung vom 27.05.1969) |
SG Lüneburg (Entscheidung vom 13.09.1968) |
Tenor
Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 27. Mai 1969 wird zurückgewiesen.
Kosten sind nicht zu erstatten.
Gründe
I
Der Kläger wendet sich im Revisionsverfahren gegen die von der Beklagten gemäß § 29 Abs. 3 der Reichsversicherungsordnung (RVO) erhobene Einrede der Verjährung bei der Neufeststellung seiner Rente nach § 627 RVO.
Der Kläger hatte am 17. Oktober 1939 und am 21. April 1945 Flugzeugunfälle erlitten. Wegen des ersten Unfalls bezog und bezieht er von der Beklagten eine Rente, gegenwärtig nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von 25 v.H. (Bescheid vom 24. Februar 1967). Wegen des zweiten Unfalls gewährte ihm die Beklagte durch Bescheid vom 15. August 1947 ab 7. Dezember 1945 eine vorläufige Rente nach einer MdE von 15 v.H. für die Unfallfolgen: geringe Bewegungsbehinderung in der Lendenwirbelsäule, Reibegeräusche bei Bewegung im rechten Kniegelenk, geringe nervöse Reizerscheinungen. Nach Entziehung dieser Rente (Bescheid vom 20. November 1948) wurde die Beklagte vom Oberversicherungsamt Detmold verurteilt, dem Kläger ab 1. Januar 1949 eine Rente nach einer MdE von 10 v.H. zu zahlen (Urteil vom 18. November 1949).
Im November 1966 machte der Kläger eine Verschlimmerung seiner Unfallfolgen geltend. Auf Veranlassung der Beklagten wurde er daraufhin im Berufsgenossenschaftlichen Krankenhaus in Duisburg-Buchholz untersucht. Im Gutachten vom 15. Dezember 1966 und in der Ergänzung dazu vom 13. Januar 1967 führten Dr. J und Dr. A bezüglich des Unfalls vom 21. April 1945 aus, daß neben dem schon bekannten Bruch des 2. Lendenwirbelkörpers auch ein Bruch des 1. Kreuzbeinwirbels vorhanden sei. Dieser sei bereits auf den Röntgenaufnahmen vom 29. Juni 1945 zu erkennen. Durch den Bruch des 1. Kreuzbeinwirbels sei es zu Nervenwurzelreizerscheinungen gekommen, die zum Teil die vom Kläger vorgebrachten Beschwerden verursachten. Die MdE wegen der Folgen des zweiten Unfalls betrage 20 v.H. Durch den auf § 627 RVO gestützten Bescheid vom 7. März 1967 hob die Beklagte den Bescheid vom 15. August 1947 auf und gewährte dem Kläger vom 1. November 1962 an eine Rente nach einer MdE von 20 v.H. Für die Zeit davor erhob sie gemäß § 29 Abs. 3 RVO die Einrede der Verjährung. Als Unfallfolgen stellte sie fest: ganz gering angedeutete Beugebehinderung am rechten Kniegelenk nach Bandverletzung, zeitweise auftretende Nervenwurzelreizerscheinungen im Bereich des 1. Kreuzbeinwirbels und des 5. Lendenwirbels sowie die im Röntgenbild erkennbaren unfallbedingten Veränderungen nach Bruch des 2. und 3. Lendenwirbelkörpers und des 1. Kreuzbeinwirbels.
Klage und Berufung sind ohne Erfolg geblieben (Urteile des Sozialgerichts - SG - Lüneburg vom 13. September 1968 und des Landessozialgerichts - LSG - Niedersachsen vom 27. Mai 1969). Der Kläger hatte neben der Feststellung weiterer Unfallfolgen die Verurteilung der Beklagten zur Gewährung einer Rente nach einer MdE von 25 v.H., und zwar bereits vom 7. Dezember 1945 an begehrt. Zur Verjährung hat das LSG ausgeführt: Bei der Neufeststellung der Leistung nach § 627 RVO sei zwar die Rente grundsätzlich von Anfang an nachzuzahlen, da der neue Bescheid an die Stelle des ursprünglichen als unrichtig erkannten Bescheides trete, jedoch sei die Berücksichtigung der Verjährung grundsätzlich nicht ausgeschlossen. Der Versicherungsträger dürfe sich nur dann nicht auf die Verjährung berufen, wenn ihn an der unrichtigen Rentenfeststellung ein Verschulden treffe. Das sei hier jedoch nicht der Fall. Die zahlreichen chirurgischen Sachverständigen, die den Kläger in der Zeit zwischen 1945 und 1955 - teilweise sogar wiederholt - untersucht und begutachtet haben, hätten den Bruch des 1. Kreuzbeinwirbels nicht festgestellt. Der Beklagten könne daher nicht vorgeworfen werden, daß sie ihre Sachaufklärungspflicht verletzt habe. Nachdem Dr. J und Dr. A den Bruch des 1. Kreuzbeinwirbels erkannt hätten, habe die Beklagte unverzüglich einen Neufeststellungsbescheid erteilt. Es sei daher nicht rechtsmißbräuchlich, wenn sich die Beklagte hinsichtlich der bis zum 31. Oktober 1962 fällig gewesenen höheren Rentenleistungen gemäß § 29 Abs. 3 RVO auf Verjährung berufe. Ein etwaiges Verschulden der von ihr beauftragten Ärzte habe sie nicht vertreten; § 278 des Bürgerlichen Gesetzbuches sei in der gesetzlichen Unfallversicherung nicht entsprechend anwendbar.
Das LSG hat die Revision hinsichtlich des Rentenbeginns zugelassen.
Der Kläger hat dieses Rechtsmittel eingelegt und im wesentlichen wie folgt begründet: Die Voraussetzungen für eine Neufeststellung nach § 627 RVO hätten überhaupt nicht vorgelegen. Diese Vorschrift sei nur anzuwenden, wenn eine Leistung zu Unrecht ganz oder teilweise abgelehnt, entzogen oder eingestellt worden sei. Das sei hier nicht der Fall. Der Bruch des 1. Kreuzbeinwirbels sei von der Beklagten überhaupt noch nicht anerkannt worden; der Bescheid vom 15. August 1947 habe insoweit noch keine Feststellung nach § 1545 RVO enthalten; er sei unvollständig. Erst mit der vom Versicherungsträger ausgesprochenen Anerkennung des Bruchs des 1. Kreuzbeinwirbels als Unfallfolge werde diese Gesundheitsstörung zu einer anspruchsbegründenden und zu einer die Rentenberechnung berührenden Tatsache. Diese Anerkennung habe die Beklagte mit dem Bescheid vom 7. März 1967 nachgeholt. Die Anwendung der Vorschriften über die Ausschlußfrist (§§ 1546, 1547 RVO aF) scheide daher aus. Zudem liege auch in der Unfallanzeige des Arbeitgebers vom 11. September 1945 oder seinem an die Beklagte gerichteten Schreiben vom 12. Juni 1946 eine Anspruchsanmeldung. Die Ausschlußfrist würde auch deshalb nicht gelten, weil der Anspruch zweifelsfrei gegeben sei. Da erst mit der nachgeholten Anerkennung des Bruchs des 1. Kreuzbeinwirbels diese Gesundheitsstörung zu einer anspruchsbegründenden Tatsache werde, habe vorher ein der Verjährung ausgesetzter Anspruch auf eine Einzelleistung nicht entstehen können. Bei der Frage, ob die Erhebung der Einrede der Verjährung eine unzulässige Rechtsausübung sei, sei nicht mehr auf das Verschulden abzustellen, sondern darauf, in wessen Verantwortungsbereich es fällt, daß die bei der Rentenfeststellung notwendigen Ermittlungen unterblieben sind. Da die Leistungen der Unfallversicherung nach § 1545 Abs. 1 Nr. 1 RVO von Amts wegen festzustellen sind, liege die Verantwortung für die Aufklärung des Sachverhalts bei der Beklagten.
Der Kläger beantragt,
die Urteile des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 27. Mai 1969 und des Sozialgerichts Lüneburg vom 13. September 1968 aufzuheben und die Beklagte unter Änderung des Bescheides vom 7. März 1967 zu verurteilen, für die anerkannten Folgen des Arbeitsunfalls vom 21. April 1945 eine Verletztenrente nach einer MdE um 20 v.H. für die Zeit ab 7. Dezember 1945 zu zahlen,
hilfsweise,
das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 27. Mai 1969 aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückzuverweisen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie trägt vor, daß es sich bei dem Bescheid vom 7. März 1967 entgegen der Auffassung des Klägers um eine Neufeststellung nach § 627 RVO handele. Der erste Bescheid vom 15. August 1947 habe den erst später festgestellten Bruch des 1. Kreuzbeinwirbels nicht berücksichtigt. Da er aber damals bereits vorhanden und der sich daraus ergebende gesetzliche Anspruch materiell schon entstanden gewesen sei, enthalte der Bescheid vom 15. August 1947 gleichzeitig eine Ablehnung der Leistung. Die Erhebung der Einrede der Verjährung bei der Neufeststellung der Leistung sei nicht rechtsmißbräuchlich. Mängel bei ärztlichen Begutachtungen fielen nicht in ihren Verantwortungsbereich. Auf gesetzliche Ausschlußfristen habe sie sich nicht berufen, auch habe das LSG sie nicht erörtert; darauf brauche daher nicht eingegangen zu werden.
II
Die statthafte Revision ist nicht begründet.
Soweit der Kläger seine Revision damit begründet, daß die Vorschriften der §§ 1546, 1547 RVO idF vor dem Inkrafttreten des Unfallversicherungs-Neuregelungsgesetzes vom 30. April 1963 (BGBl I 241) - RVO aF - nicht anzuwenden seien, geht sein Angriff fehl. Die Beklagte hat den Rentenbeginn bei der Neufeststellung durch Bescheid vom 7. März 1967 nicht wegen Versäumung der Anmeldefrist des § 1546 RVO aF auf den 1. November 1962 festgesetzt, sondern weil der Rentenanspruch für die Zeit davor gemäß § 29 Abs. 3 RVO verjährt gewesen sei.
Gegen die Einrede der Verjährung kann der Kläger nicht mit Erfolg geltend machen, daß vor der Feststellung des Bruchs des 1. Kreuzbeinwirbels als Unfallfolge ein der Verjährung unterliegender Anspruch nicht habe entstehen können. In der gesetzlichen Unfallversicherung ist der Antrag auf Entschädigungsleistungen keine materiell-rechtliche Voraussetzung für die Entstehung des Rentenanspruchs. Der Rentenanspruch entsteht vielmehr in dem Zeitpunkt, in dem seine gesetzlichen Voraussetzungen erfüllt sind, zu dem er also hätte geltend gemacht werden können. Zu diesem Zeitpunkt beginnt auch die Verjährung des Anspruchs auf die einzelne Rentenleistung nach § 29 Abs. 3 RVO zu laufen und nicht etwa erst mit der Antragstellung oder gar der Feststellung der Leistung (BSG, Beschluß des Großen Senats vom 21. Dezember 1971 - GS 4/71 - in SozR Nr. 24 zu § 29 RVO). Das gilt auch, wenn der Versicherungsträger - wie hier - wegen von Anfang an vorhandener, aber erst nachträglich erkannter Unfallfolgen durch einen Zugunstenbescheid die Rente neu feststellt. Ob hier, wie der Kläger meint, die Voraussetzungen des § 627 RVO für eine Zugunstenregelung überhaupt nicht vorgelegen haben, kann dahinstehen. Denn daran, daß der Rentenanspruch des Klägers in dem Zeitpunkt entstanden ist, in dem seine materiellen Voraussetzungen vorgelegen haben, und in diesem Zeitpunkt die Verjährung begann, würde sich auch dann nichts ändern, wenn es sich entsprechend der Meinung des Klägers, um eine nachgeholte Erstanerkennung handeln würde. Zu Unrecht beruft sich der Kläger in diesem Zusammenhang auf eine Entscheidung des erkennenden Senats (BSG 5, 96), in der ausgesprochen worden ist, daß jede vom Versicherungsträger als Unfallfolge anerkannte Gesundheitsstörung zugleich eine anspruchsbegründende und eine die Rentenberechnung berührende Tatsache ist. Diese Entscheidung betraf die vom Senat bejahte Frage, ob der Versicherungsträger, der seine Entschädigungspflicht unter Feststellung des ursächlichen Zusammenhangs mehrerer Leiden mit einem Unfall bei der Gewährung der vorläufigen Rente anerkannt hat, daran auch bei der Feststellung der Dauerrente gebunden ist. Damit ist jedoch nicht zum Ausdruck gebracht worden, daß auch der Anspruch auf die einzelne Rentenleistung erst mit der Anerkennung einer unfallbedingten Gesundheitsstörung fällig wird.
Wie das LSG zutreffend entschieden hat, ist die Einrede der Verjährung bei der Neufeststellung einer Rente durch Zugunstenbescheid nicht grundsätzlich ausgeschlossen (BSG 19, 93; 28, 282; SozR Nr. 5 zu § 1300 RVO). Die Beklagte hat die Einrede der Verjährung auch nicht rechtsmißbräuchlich erhoben. Eine unzulässige Rechtsausübung liegt entgegen der Meinung der Revision nicht schon vor, weil in der gesetzlichen Unfallversicherung im Verfahren auf Feststellung der Leistungen Amtsbetrieb herrscht, daher die Aufklärung des Sachverhalts im Verantwortungsbereich des Versicherungsträgers liegt und es somit auf ein Verschulden des Versicherungsträgers nicht ankommt. Bei der Frage der rechtsmißbräuchlichen Erhebung der Verjährungseinrede hat das Bundessozialgericht (BSG) stets darauf abgestellt, ob der Versicherungsträger an der unrichtigen Rentenfeststellung schuld war (BSG 19, 93, 97; SozR Nr. 5 und 11 zu § 1300 RVO; vgl. auch Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 7. Aufl. S. 730 a). Daran ändert nichts, daß auch auf den Verantwortungsbereich des Versicherungsträgers hingewiesen ist. Im Zusammenhang mit den übrigen Gründen ist ersichtlich, daß immer nur ein pflichtwidriges Verhalten des Versicherungsträgers den Vorwurf der unzulässigen Rechtsausübung beim Geltendmachen der Verjährungseinrede zur Folge hat.
Nach den Feststellungen des LSG, die für das Revisionsgericht bindend sind (§ 163 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -), bildeten die Grundlage für die Neufeststellung der Rente durch Bescheid vom 7. März 1967 das Gutachten Dr. J/Dr. A vom 15. Dezember 1966 mit Ergänzung vom 13. Januar 1967. Das Röntgenbild vom 29. Juni 1945, das den Sachverständigen bestätigte, daß der von ihnen festgestellte Bruch des 1. Kreuzbeinwirbels eine Folge des Unfalls vom 21. April 1945 ist, hatte der Kläger den Sachverständigen vorgelegt. Ihm und nicht der Beklagten stand somit eine wesentliche Unterlage für die Aufklärung des medizinischen Sachverhalts zur Verfügung. Die Mitwirkungspflicht des Klägers an der notwendigen und möglichen Aufklärung des Sachverhalts hätte es geboten, diese Röntgenaufnahme - der Kläger besaß auch noch eine zweite Aufnahme aus dem Jahre 1945 von einem höheren Bereich der Wirbelsäule - der Beklagten für die Feststellung der Rente zur Verfügung zu stellen oder sie schon bei der ersten von der Beklagten veranlaßten Untersuchung und Begutachtung im Jahre 1946 vorzulegen. Bei Abwägung der beiderseitigen Pflichten ist es auch unter Berücksichtigung der Tatsache, daß der Kläger in den zurückliegenden Jahren mehrfach im Auftrag der Beklagten von ärztlichen Sachverständigen untersucht worden ist, in annähernd gleichen Ausmaß auch dem Verantwortungsbereich des Klägers zuzurechnen, daß die Unfallfolgen nicht bis in alle Einzelheiten aufgeklärt worden sind. Die Einrede der Verjährung ist daher von der Beklagten nicht rechtsmißbräuchlich erhoben worden.
Die Revision des Klägers war als unbegründet zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.
Fundstellen