Entscheidungsstichwort (Thema)

Bindungswirkung bei Überleitungsanzeige. Tatbestandswirkung eines Verwaltungsaktes

 

Leitsatz (amtlich)

Das ArbA kann nach AFG § 153 Abs 1 S 1 einen Rentenanspruch des Versicherten gegen den Rentenversicherungsträger in Höhe desjenigen Betrags auf sich überleiten, den das ArbA in dem dem Versicherten erteilten, bindend gewordenen Rückforderungsbescheid festgelegt hat.

 

Leitsatz (redaktionell)

1. Durch die Rückforderung von Arbeitslosengeld in unzutreffender Höhe wird allein der gegenüber der Bundesanstalt für Arbeit rückzahlungsverpflichtete Rentner betroffen. Ein Versicherungsträger kann einen bindend gewordenen Verwaltungsakt eines anderen öffentlichen Leistungsträgers nicht überprüfen.

2. Unter "Höhe der zurückzuzahlenden Leistung" iS des AFG § 153 Abs 1 S 1 ist der Betrag zu verstehen, der im bindenden Rückforderungsbescheid des Arbeitsamtes festgelegt ist. Es ist daher nicht ersichtlich, daß der Rentenversicherungsträger im Interesse des Rückzahlungspflichtigen Anlaß hätte, die Richtigkeit der Rückforderung seinerseits nochmals zu überprüfen.

3. Nach dem aus BGB § 404 zu entnehmenden allgemeinen Rechtsgedanken ist davon auszugehen, daß der Schuldner (hier der Rentenversicherungsträger) dem neuen Gläubiger (hier das Arbeitsamt) keine Einwendungen entgegenhalten darf, die sich allein aus dem Verhältnis alter Gläubiger (hier der Versicherte) und neuer Gläubiger ergeben.

 

Orientierungssatz

1. Die Überprüfung eines bindenden Verwaltungsaktes eines Trägers öffentlicher Leistungsverwaltung durch einen anderen kann grundsätzlich nicht erwünscht sein.

2. Verwaltungsakte öffentlicher Leistungsträger werden vielfach allgemein eine "Tatbestandswirkung" für sich in Anspruch nehmen können, wie sie den rechtsgestaltenden und feststellenden Akten in aller Regel ohnedies zukommt (vgl BSG 1974-02-22 3 RK 88/72 = BSGE 37, 135, 136). Ausnahmen von dem Grundsatz, daß ein Leistungsträger den Verwaltungsakt des anderen Leistungsträgers zufolge seiner Tatbestandswirkung hinzunehmen hat, wären allenfalls dann anzuerkennen, wenn der erstere Leistungsträger durch diese Tatbestandswirkung in seinen eigenen schutzwürdigen Interessen betroffen sein könnte (vgl BSG 1972-10-12 10 RV 486/71 = BSGE 34, 289, 290).

 

Normenkette

AFG § 153 Abs. 1 S. 1 Fassung: 1969-06-25; SGG § 77 Fassung: 1953-09-03; BGB § 404

 

Verfahrensgang

SG Nürnberg (Entscheidung vom 28.01.1975; Aktenzeichen S 9 Al 119/74)

 

Tenor

Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Nürnberg vom 28. Januar 1975 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

 

Tatbestand

Unter den Beteiligten besteht Streit, in welcher Höhe die klagende Bundesanstalt für Arbeit (BA) einen Anspruch des beigeladenen Versicherten auf Rente gegen die beklagte Bundesversicherungsanstalt für Angestellte (BfA) nach § 153 des Arbeitsförderungsgesetzes (AFG) auf sich übergeleitet hat.

Die Beklagte bewilligte dem Beigeladenen mit Bescheid vom 7. März 1973 rückwirkend ab 1. Oktober 1972 Rente wegen Erwerbsunfähigkeit, behielt jedoch die aufgelaufene Nachzahlung von mehr als 6.700,- DM zunächst ein. Vor Bewilligung der Rente hatte der Beigeladene - zuletzt auf Grund einer Entscheidung des Arbeitsamtes Memmingen vom 9. Oktober 1972 ab 2. Oktober 1972 - Arbeitslosengeld bezogen.

Nachdem die Beklagte dem Arbeitsamt die Bewilligung der Rente angezeigt hatte, hob dieses mit Bescheid vom 16. März 1973 die Entscheidung über die Bewilligung des Arbeitslosengeldes wegen Ruhens des Anspruches hierauf bei Zusammentreffen mit einem Rentenanspruch auf, forderte das für die Zeit vom 1. Oktober 1972 bis 26. Februar 1973 gezahlte Arbeitslosengeld im Betrag von 4.020,20 DM zurück und sprach zugleich aus, daß der Anspruch des Beigeladenen gegen die Beklagte auf Rente für die vorgenannte Zeitspanne im Betrage von 4.020,20 DM zur Befriedigung des Rückforderungsanspruches gemäß § 153 Abs. 1 AFG auf das Arbeitsamt übergeleitet werde. Gegen diesen mit Widerspruchsbelehrung versehenen Bescheid hat der Beigeladene keinen Rechtsbehelf eingelegt.

Die Beklagte befriedigte den vom Arbeitsamt in der vorbezeichneten Höhe übergeleiteten Rentenanspruch des Beigeladenen nur im Betrage von 3.808,10 DM und teilte dem Arbeitsamt mit, der Erhöhungsbetrag nach dem Fünfzehnten Rentenanpassungsgesetz (15. RAG) für die Zeit vom 1. Oktober 1972 bis 31. Dezember 1972 in Höhe von 212,10 DM stehe nach § 13 dieses Gesetzes dem Beigeladenen zu.

Mit der hierauf erhobenen Leistungsklage hatte die Klägerin vor dem Sozialgericht (SG) Erfolg. In dem angefochtenen Urteil vom 28. Januar 1975 hat das Gericht die Beklagte verpflichtet, der Klägerin weitere 212,10 DM zu zahlen. In der Begründung heißt es, die Annahme der Beklagten, das Arbeitslosengeld stelle eine "Sozialleistung" im Sinne des 15. RAG dar, auf die sich der Erhöhungsbetrag für das zweite Halbjahr 1972 nicht auswirke und der deshalb nicht auf die Arbeitsämter übergehen könne, treffe nicht zu.

Gegen dieses Urteil hat das SG die Sprungrevision zugelassen, nachdem die übrigen Beteiligten hierzu zugestimmt hatten (Beschluß vom 4. März 1975).

Die Beklagte hat die Revision eingelegt. Sie trägt vor, bei dem streitigen Betrag von 212,10 DM handele es sich um Erhöhungsbeträge, die sich für die Rente des Beigeladenen auf Grund der Vorschriften des 15. RAG in der Zeit von Oktober bis Dezember 1972 ergeben hätten. Nach § 13 des 15. RAG bleibe der Erhöhungsbetrag für die Zeit vom 1. Juli bis 31. Dezember 1972 bei der Ermittlung anderen Einkommens unberücksichtigt, wenn bei Sozialleistungen auf Grund eines Gesetzes oder anderer Vorschriften die Gewährung oder die Höhe der Leistungen von anderen Einkommen abhängig sei. Sie, Beklagte, sei der Ansicht, daß das Arbeitslosengeld zu den Sozialleistungen im Sinne der genannten Vorschriften gehöre, auf die sich der Erhöhungsbetrag für die Zeit vom 1. Juli bis 31. Dezember 1972 nicht auswirke und daß deshalb der Erhöhungsbetrag vom Übergang auf die Arbeitsämter ausgeschlossen sei. Maßgebend sei hierfür, daß Renten aus der gesetzlichen Rentenversicherung generell zu den auf andere Sozialleistungen anzurechnenden Einkommen gehörten (Hinweis auf § 118 Abs. 1 Nr. 3 und 4 AFG). Der gegenteiligen Ansicht des SG könne nicht gefolgt werden.

Die Beklagte beantragt,

unter Aufhebung des angefochtenen Urteils die Klage abzuweisen.

Die Klägerin beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Sie ist der Ansicht, das Arbeitslosengeld hänge nicht - wie z. B. die Sozialhilfe - von den Einkommensverhältnissen des Berechtigten ab. § 118 AFG verhindere lediglich einen Doppelbezug von Lohnersatzleistungen. Sie, Klägerin, werde über § 153 Abs. 1 Nr. 1 AFG auch Gläubigerin der Erhöhungsbeträge nach dem 15. RAG. Hierin stimme sie mit der von den Spitzenverbänden vertretenen Auffassung überein (Hinweis auf WzS 1974, 187).

Der Beigeladene ist im Verfahren vor dem Bundessozialgericht (BSG) nicht vertreten.

 

Entscheidungsgründe

Die Sprungrevision der Beklagten ist zulässig, sachlich aber nicht begründet.

Rechtsgrundlage des von der Klägerin gegen die Beklagte erhobenen Zahlungsanspruches ist § 153 AFG. Nach dessen Absatz 1 Satz 1 kann das Arbeitsamt durch schriftliche Anzeige an den Leistungspflichtigen bewirken, daß Ansprüche eines nach § 152 AFG Rückzahlungspflichtigen auf Leistungen zur Deckung des Lebensunterhalts, insbesondere u. a. auf Renten aus der Sozialversicherung in Höhe der zurückzuzahlenden Leistung auf die Klägerin übergehen. Der Übergang beschränkt sich auf die Ansprüche, die dem Rückzahlungspflichtigen für den Zeitraum in der Vergangenheit zustehen, für den die zurückzuzahlenden Leistungen gewährt worden sind (Satz 2 aaO). Daß der Beigeladene im Sinne dieser Vorschrift - im Verhältnis zur Klägerin - "Rückzahlungspflichtiger" ist, kann im Hinblick auf den auf § 152 Abs. 1 Nr. 3 AFG gestützten Rückforderungsbescheid des Arbeitsamtes Memmingen vom 16. März 1973, der mangels eines hiergegen eingelegten Rechtsbehelfs im Sinne des § 77 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) in der Sache bindend geworden ist, nicht streitig sein. Kein Streit besteht ferner darüber, daß der von der Klägerin übergeleitete Rentenanspruch des Beigeladenen gegen die Beklagte auf den Zeitraum vom 1. Oktober 1972 bis 26. Februar 1973 beschränkt ist, also auf einen Zeitraum in der Vergangenheit, für den die vom Beigeladenen an das Arbeitsamt zurückzuzahlenden Leistungen - Arbeitslosengeld - gewährt worden sind. Schließlich ist auch nicht ersichtlich, daß das vom Arbeitsamt bei der Überleitung eingeschlagene Verfahren an einem Mangel litte. Im übrigen stellt die Überleitungsanzeige ebenfalls einen Verwaltungsakt dar (allgemeine Meinung, vgl. Schönefelder/Kranz/Wanka, AFG, § 153 Rd. Nr. 6; Schmitz/Specke/Picard, AFG, § 153 Anm. 1; Hennig/Kühl/Heuer, AFG, § 153 Anm. 2). Da der Beigeladene auch die Überleitungsanzeige nicht angefochten hat, ist auch sie bindend geworden.

Die Beklagte hält den von der Klägerin übergeleiteten und gegen sie gerichteten Zahlungsanspruch der Höhe nach für nicht gerechtfertigt. Hierin kann ihr nicht beigepflichtet werden.

§ 153 Abs. 1 Satz 1 AFG legt die Höhe des durch die Überleitungsanzeige des Arbeitsamtes bewirkten Überganges des Rentenanspruches auf die BA ausdrücklich auf die "Höhe der zurückzuzahlenden Leistung" fest. Diese Regelung erscheint ihrem Wortlaut nach klar: "Zurückzuzahlen" an das Arbeitsamt hat der rückzahlungspflichtige Rentner zweifellos den Betrag, den das Arbeitsamt in dem - gegebenenfalls nach Erschöpfung des Rechtsweges - bindend gewordenen Rückforderungsbescheid festgelegt hat. Im vorliegenden Fall ist dies laut dem nicht angefochtenen Rückforderungsbescheid des Arbeitsamtes Memmingen vom 16. März 1973 ein Betrag von 4.020,20 DM. Nun tritt die Beklagte der Forderung der Klägerin in dieser Höhe mit der Behauptung entgegen, das Arbeitsamt habe vom Beigeladenen zuviel Arbeitslosengeld zurückgefordert; nach Auffassung der Beklagten ist der Bescheid vom 16. März 1973 also unrichtig. § 153 Abs. 1 Satz 1 AFG läßt indessen einen solchen Einwand des Rentenversicherungsträgers gegenüber der BA nicht zu.

Es erscheint zwar denkbar, daß eine nicht nur den Wortlaut der vorgenannten Vorschrift berücksichtigende Gesetzesauslegung zu dem Ergebnis käme, vom Rentenempfänger an das Arbeitsamt "zurückzuzahlende Leistung" sei nicht der im bindenden Rückforderungsbescheid festgelegte Betrag, sondern der von dem Rentner unabhängig davon nach den sachlich-rechtlichen Vorschriften zurückzuzahlende Betrag. Eine solche Gesetzesauslegung würde im Ergebnis bedeuten, daß dem Rentenversicherungsträger gestattet wäre, die sachliche Richtigkeit des bindenden Rückforderungsbescheides des Arbeitsamtes zu überprüfen. Indessen liegt auf der Hand, daß eine solche Überprüfung der bindenden Verwaltungsakte eines Trägers öffentlicher Leistungsverwaltung durch den anderen grundsätzlich nicht erwünscht sein kann. Verwaltungsakte öffentlicher Leistungsträger werden vielfach allgemein eine "Tatbestandswirkung" für sich in Anspruch nehmen können, wie sie den rechtsgestaltenden und feststellenden Akten in aller Regel ohnedies zukommt (vgl. BSGE 28, 111, 113; 37, 135, 136; Eyermann/Fröhler, VGO, 7. Aufl. § 40 Rd. Nr. 27). Ausnahmen von dem Grundsatz, daß ein Leistungsträger den Verwaltungsakt des anderen Leistungsträgers zufolge seiner Tatbestandswirkung hinzunehmen hat, wären allenfalls dann anzuerkennen, wenn der erstere Leistungsträger durch diese Tatbestandswirkung in seinen eigenen schutzwürdigen Interessen betroffen sein könnte (vgl. BSGE 34, 289, 290 f mit weiteren Nachweisen). Dies ist hier nicht der Fall. Von einer zu hohen Rückforderung des Arbeitsamtes wirtschaftlich und rechtlich betroffen ist allein der rückzahlungspflichtige Rentner. Dieser aber hat es in der Hand, die Gesetzmäßigkeit der Rückforderung nach Grund und Höhe u. a. im sozialgerichtlichen Verfahren voll nachprüfen zu lassen. Ist dies geschehen oder nur deswegen nicht geschehen, weil der Rückzahlungspflichtige auf einen Rechtsbehelf gegen den Rückforderungsbescheid verzichtet hat, so kann nicht ersichtlich werden, daß nunmehr der Rentenversicherungsträger im Interesse des Beigeladenen Anlaß hätte, die Richtigkeit der Rückforderung seinerseits nochmals zu überprüfen. Hat der Rentenempfänger gegen den Rückforderungsbescheid des Arbeitsamtes auf Rechtsbehelfe verzichtet oder einen Rechtsbehelf nur erfolglos eingelegt, so kann er dem Rentenversicherungsträger nicht entgegenhalten, dieser habe zu Unrecht an das Arbeitsamt geleistet; denn das Arbeitsamt hat laut dem dem Rentenberechtigten erteilten Bescheid dessen Rentenanspruch ausdrücklich nur zum Zwecke der "Befriedigung der (Rück-) Forderung" auf sich übergeleitet. Im übrigen ist auch nach dem aus § 404 des Bürgerlichen Gesetzbuches zu entnehmenden allgemeinen Rechtsgedanken davon auszugehen, daß der Schuldner (hier der Rentenversicherungsträger) dem neuen Gläubiger (hier das Arbeitsamt) keine Einwendungen entgegenhalten darf, die sich allein aus dem Verhältnis alter Gläubiger (hier der Versicherte) und neuer Gläubiger ergeben.

Nach alledem muß davon ausgegangen werden, daß § 153 Abs. 1 Satz 1 AFG unter "Höhe der zurückzuzahlenden Leistung" den Betrag versteht, der im bindenden Rückforderungsbescheid des Arbeitsamtes festgelegt ist. In dieser Höhe darf mithin das Arbeitsamt den Rentenanspruch des Rückzahlungspflichtigen auf sich überleiten. Zu Recht hat daher das SG die Beklagte verurteilt, dem Kläger weitere 212,10 DM zu zahlen, da erst dadurch der im Rückforderungsbescheid festgelegte Betrag von 4.020,20 DM erreicht wird. Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des SG war sohin zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs. 4 SGG.

 

Fundstellen

BSGE, 215

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