Entscheidungsstichwort (Thema)
Spanier. Ehewohnung. Lebensmittelpunkt
Orientierungssatz
Hat ein spanischer Gastarbeiter mit seiner Ehefrau ein möbliertes Zimmer in Deutschland und gehen beide Ehegatten von diesem Zimmer aus ihrer beruflichen Tätigkeit nach, so befindet sich der Mittelpunkt der Lebensverhältnisse der Eheleute am Ort des möblierten Zimmers, auch wenn die Ehewohnung in Spanien aufrechterhalten ist und die gemeinsamen Kinder in Spanien unter der Obhut einer Verwandten zurückgeblieben sind.
Normenkette
RVO § 550 S. 2, § 543
Verfahrensgang
LSG Nordrhein-Westfalen (Entscheidung vom 04.06.1970) |
Tenor
Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 4. Juni 1970 wird zurückgewiesen.
Kosten sind nicht zu erstatten.
Gründe
I
Die Klägerin begehrt Witwenrente aus Anlaß des Todes ihres Ehemannes am 21. September 1963.
Im Jahre 1961 verließen die Klägerin und ihr Ehemann - spanische Staatsangehörige - ihre Heimat, um zunächst in der Schweiz und dann in der Bundesrepublik Deutschland Arbeit zu suchen. Ihre beiden in den Jahren 1951 und 1955 geborenen Kinder blieben in der ehelichen Wohnung in B (O) unter der Obhut der Schwester des verstorbenen Ehemanns der Klägerin. Seit 15. Oktober 1961 waren sie zunächst in E, später in N tätig. Dort bewohnten sie bis zum 14. September 1963 zwei möblierte Zimmer; am 15. September 1963 bezogen sie ein möbliertes Zimmer in B. Für die Zeit vom 23. September bis 4. Oktober 1963 hatten sie ihren restlichen Jahresurlaub genommen, um nach Spanien zu reisen. Sie traten die Fahrt am 21. September 1963 mit dem Kraftwagen an. Dabei kam es in Belgien zu einem Unfall, an dessen Folgen der Ehemann der Klägerin starb.
Durch Bescheid vom 18. März 1965 lehnte die Beklagte eine Entschädigung wegen des Unfalls vom 21. September 1963 ab, weil kein entschädigungspflichtiger Wegeunfall vorgelegen habe. Der Verstorbene habe am Ziel seiner Reise in B keine ständige Familienwohnung gehabt, die der Mittelpunkt seiner Lebensverhältnisse gewesen sei. Seine Kinder hätten sich dort lediglich in der Obhut seiner Schwester befunden. Mittelpunkt seiner Lebensverhältnisse sei die mit seiner Ehefrau gemeinsam bewohnte Wohnung in N gewesen.
Die Klägerin hat Klage erhoben, die das Sozialgericht (SG) durch Urteil vom 10. März 1969 mit der Begründung zurückgewiesen hat, die Familienwohnung des Ehemannes der Klägerin habe nicht in Spanien, sondern in Deutschland gelegen.
Die Berufung der Klägerin hat das Landessozialgericht (LSG) mit Urteil vom 4. Juni 1970 zurückgewiesen und zur Begründung ausgeführt: Der Unfall habe sich auf einer nicht unter Unfallversicherungsschutz stehenden Urlaubsreise ereignet, die dem Besuch der Kinder in Spanien gedient habe. Der Urlaub hänge nicht wesentlich mit der betrieblichen Tätigkeit zusammen, sondern sei eine private, sogenannte eigenwirtschaftliche Angelegenheit und daher unversichert. Das gelte ebenso für die Anreise zum Urlaubsort; dieser Weg teile das rechtliche Schicksal des Urlaubs. Die Fahrt nach Spanien sei auch nicht als versicherte Heimfahrt von der Unterkunft zur ständigen Familienwohnung i. S. des § 550 Satz 2 der Reichsversicherungsordnung (RVO) zu werten. Familienwohnung i. S. dieser Vorschrift sei die Wohnung, die für längere Dauer den Mittelpunkt der Lebensverhältnisse des Versicherten bilde, so daß die Wohngelegenheit am Arbeitsort nur als Unterkunft betrachtet werden könne. Wo sich nach der tatsächlichen Gestaltung der Verhältnisse unter Berücksichtigung soziologischer und psychologischer Umstände der Mittelpunkt der Lebensverhältnisse befinde, sei nach den individuellen Verhältnissen des Versicherten und seiner Familienangehörigen zu beurteilen. Die Tatsache, daß die Eheleute ihre Wohnung in B, in der sich die Kinder aufhielten, zur Unfallzeit nicht aufgegeben hätten, reiche für die Annahme, daß sie auch den Mittelpunkt ihrer Lebensverhältnisse gebildet habe, nicht aus. Für die Zeit ihres bereits zweijährigen Aufenthalts in der Bundesrepublik Deutschland hätten die Eheleute den Mittelpunkt ihrer Lebensverhältnisse, an ihren Arbeitsort verlagert. Wie im allgemeinen bei Verheirateten die Wohnung der Ehefrau den Mittelpunkt der Lebensverhältnisse des Versicherten bilde, so sei dies auch vorliegend der Fall gewesen, zumal da die Eheleute am Arbeitsort eine gemeinsame Wohnung innegehabt hätten. Die grundsätzlich mit zu berücksichtigende subjektive Einstellung der Eheleute - ihre innere Verbundenheit mit den in Spanien lebenden Kindern - könne in Anbetracht der eindeutigen äußeren Gestaltung der Lebensverhältnisse nicht dahin bewertet werden, daß sie allein zur Aufrechterhaltung des Mittelpunktes der Lebensverhältnisse in der in Spanien beibehaltenen Wohnung ausreiche.
Das LSG hat die Revision zugelassen.
Die Klägerin hat dieses Rechtsmittel eingelegt und es im wesentlichen wie folgt begründet: Ihr Ehemann und sie hätten in der Bundesrepublik Deutschland keine Familienwohnung begründen wollen und nicht begründet. Ihre Unterbringung hier habe provisorischen Charakter gehabt. Die äußeren Umstände hätten dem subjektiven Zweck entsprochen, den sie mit ihrem Aufenthalt in der Bundesrepublik verfolgt hätten. Er sei darauf gerichtet gewesen, während eines vorübergehenden befristeten Aufenthalts einen erhöhten Gelderwerb zu erzielen, um nach der baldmöglichen Rückkehr zum ständigen Mittelpunkt der Lebensverhältnisse in Spanien für sich und ihre Kinder bessere Lebensumstände zu schaffen. Der Aufenthalt in der Bundesrepublik sei arbeitsorientiert und nicht familienorientiert gewesen. Die lediglich arbeitsorientierte Wohnung der Ehefrau bilde daher auch nicht den Mittelpunkt der Lebensverhältnisse des Ehemannes. Unerheblich sei, daß ihr Ehemann und sie seit der Arbeitsaufnahme in der Bundesrepublik nur einmal in die Familienwohnung nach Spanien gefahren seien. Je größer die Entfernung zwischen der Familienwohnung und der Unterkunft sei, desto seltener könne die Familienwohnung aufgesucht werden. Das sei eine zwangsläufige Folge der hohen Reisekosten und der langen Reisedauer. Spanische Gastarbeiter reisten in der Regel erst nach einjährigem Aufenthalt in der Bundesrepublik zum Erstenmal nach Hause. Das sei auch bei ihnen der Fall gewesen. Daß die Reise während des Urlaubs angetreten worden sei, mache sie nicht schon zu einer unversicherten, dem privaten Lebensbereich zuzuordnenden Urlaubsreise. Eine andere Auffassung würde dem Gleichheitssatz widersprechen. Gemäß Art. 6 des Grundgesetzes (GG) stehe Ehe und Familie unter dem besonderen Schutz des Staates. Dieser Verfassungsgrundsatz müsse bei der Auslegung des § 550 RVO ebenfalls berücksichtigt werden.
Die Klägerin beantragt,
das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 4. Juni 1970 und das Urteil des Sozialgerichts Düsseldorf vom 10. März 1969 aufzuheben, den Bescheid der Beklagten vom 18. März 1965 zu ändern und die Beklagte zu verurteilen, wegen des Todes ihres Ehemannes am 21. September 1963 Witwenrente zu gewähren.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
II
Die zulässige Revision ist nicht begründet.
Der Ehemann der Klägerin hat auf seiner Fahrt im September 1963 nach Spanien nicht gemäß § 550 Satz 2 RVO in der Fassung bis zum Inkrafttreten des Gesetzes über Unfallversicherung für Schüler und Studenten sowie Kinder in Kindergärten vom 18. März 1971 (BGBl I 237) am 1. April 1971 (RVO aF = § 550 Satz 3 RVO idF dieses Gesetzes) unter Versicherungsschutz gestanden. Nach dieser Vorschrift schließt der Umstand, daß der Versicherte wegen der Entfernung seiner ständigen Familienwohnung von dem Ort der Tätigkeit an diesem oder in dessen Nähe eine Unterkunft hat, die Versicherung auf dem Weg von und nach der Familienwohnung nicht aus. Strittig ist hier nur, ob der Ehemann der Klägerin im Zeitpunkt des Unfalles noch in B seine ständige Familienwohnung und in N/B nur eine Unterkunft hatte. Dies hat der Senat in Übereinstimmung mit der Auffassung der Vorinstanz verneint.
Nach der auch vom Schrifttum geteilten Rechtsprechung des erkennenden Senats ist ständige Familienwohnung im Sinne des § 550 Satz 2 RVO aF eine Wohnung, die für nicht unerhebliche Zeit den Mittelpunkt der Lebensverhältnisse des Versicherten bildet (vgl. u. a. BSG 1, 171, 173; 20, 110, 111; 25, 93, 95; Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 1. bis 7. Aufl., S. 486 h II; Lauterbach, Gesetzliche Unfallversicherung, 3. Aufl., § 550 Anm. 20). Die Revision geht davon aus, daß der Aufenthalt des Ehemannes der Klägerin in N/B nur dem erhöhten Gelderwerb diente und deshalb "arbeitsorientiert" und nicht Familienorientiert" war. Der Rückkehrwille und die "Orientierung" des sich schon über fast zwei Jahre erstreckenden und für weitere Zeit geplanten Aufenthalts des Ehemannes der Klägerin in der Bundesrepublik bilden jedoch kein ausreichendes Kriterium dafür, wo der Mittelpunkt der Lebensverhältnisse des Ehemannes der Klägerin im Unfallzeitpunkt war. Hätten die Klägerin und ihr Ehemann trotz festen Rückkehrwillens ihre Wohnung in B aufgegeben, so wäre ihr Aufenthalt in N/B nicht minder "arbeitsorientiert" gewesen. Andererseits kann z. B. ein Versicherter, der beabsichtigt, an den Ort seiner neuen Tätigkeit umzuziehen, in seinem Heimatort die Familienwohnung beibehalten, solange dort noch der Mittelpunkt seiner Lebensverhältnisse ist. Wesentlich ist vielmehr die tatsächliche Gestaltung der Lebensverhältnisse des Versicherten im Einzelfall (BSG 25, 93, 95). Bei einem verheirateten Versicherten wird sich der Mittelpunkt der Lebensverhältnisse im allgemeinen an dem Ort befinden, an dem sich der andere Ehepartner nicht nur vorübergehend aufhält (vgl. u. a. BSG 2, 78, 80; BSG Breith. 1966, 383; Brackmann aaO; Lauterbach aaO § 550 Anm. 23 Buchst. a). Deshalb bildet die gemeinsame Wohnung der Eheleute regelmäßig die neue Familienwohnung, wenn sich in ihr das Leben der Eheleute annähernd so gestaltet, wie es zuvor in der ehelichen Wohnung sich abgespielt hat. In seiner Entscheidung vom 27. Oktober 1965 (Breith. aaO) hat der Senat als maßgebend angesehen, welche Absicht mit dem Aufenthalt der Ehefrau außerhalb der gemeinsamen Wohnung der Eheleute verbunden ist. Hält sich die Ehefrau dort nur besuchsweise auf, bleibt die eheliche Wohnung nach wie vor der durch enge persönliche Beziehungen gekennzeichnete Mittelpunkt der Lebensverhältnisse der Eheleute. Dies ist jedoch auch hier nicht der Fall. Die Klägerin war nicht besuchsweise in der Bundesrepublik, sondern arbeitete dort gemeinsam mit dem Ehemann seit fast zwei Jahren und für weitere zunächst unbestimmte, jedenfalls nicht nur kurz befristete Zeit. In dem der Entscheidung des Senats vom 27. Oktober 1965 (aaO) zugrunde liegenden Sachverhalt befanden sich zwar die Ehefrau und die gemeinsamen Kinder bei dem Versicherten. Das Verbleiben der gemeinsamen Kinder in B rechtfertigt es jedoch nicht, dort weiterhin den Mittelpunkt der Lebensverhältnisse des Ehemannes der Klägerin anzunehmen. Die Klägerin meint zu Unrecht, die Familienwohnung eines verheirateten Versicherten befinde sich dort, wo alle Familienmitglieder vereint gewesen seien und nach Abschluß der beruflichen Abwesenheit vereint sein sollten; es sei mit dem Wortlaut des § 550 Satz 2 RVO aF nicht vereinbar, die "Familienwohnung" dort anzunehmen, wo sich die Kinder nicht aufgehalten hätten und nicht aufhalten würden. Für den Versicherungsschutz nach § 550 Satz 2 RVO aF und insbesondere für die Auslegung des Tatbestandsmerkmals der Familienwohnung ist nicht die frühere oder spätere, sondern die tatsächliche Gestaltung der Lebensverhältnisse des Versicherten im Unfallzeitpunkt maßgebend. Die Auffassung der Klägerin müßte außerdem dazu führen, daß sich die Familienwohnung im Sinne dieser Vorschrift nicht nach der tatsächlichen Gestaltung der Lebensverhältnisse des Versicherten, sondern nach dem bisherigen und zukünftigen Aufenthaltsort richten würde, sobald die Kinder dort geblieben sind. Art. 6 GG zwingt ebenfalls nicht dazu, die Familienwohnung im Sinne des § 550 Satz 2 RVO aF stets am Aufenthaltsort der Kinder und nicht nach der tatsächlichen Gestaltung am Mittelpunkt der Lebensverhältnisse der Eltern anzunehmen. In der gemeinsamen Wohnung der Eheleute in N/B vollzog sich jedoch nicht nur das Eheleben beider Ehegatten, sondern auch der den Mittelpunkt der Lebensverhältnisse mitbestimmende soziale Kontakt der Eheleute zu anderen Personen (s. BGHZ 7, 104, 107). An dem Ort der gemeinsamen Tätigkeit beider Eheleute waren ebenfalls die persönlichen Entscheidungen hinsichtlich der am früheren Wohnort verbliebenen Kinder zu treffen, soweit sie über die tägliche Betreuung durch Dritte - hier die Schwägerin der Klägerin - hinausgingen und durch die längere Abwesenheit der Eltern auch nicht weiter aufgeschoben werden konnten. Der Auffassung des Senats steht auch nicht entgegen, daß nach den tatsächlichen Feststellungen des LSG die Wohnverhältnisse des Ehemannes der Klägerin in N/B schlechter als die in ihrer Wohnung in B gewesen sind. Der Gesetzgeber ist nach der sprachlichen Unterscheidung in § 550 Satz 2 RVO aF allerdings von der Lebenserfahrung ausgegangen, daß im Mittelpunkt der Lebensverhältnisse im Regelfall auch die besseren Wohnverhältnisse gegeben sein werden. Deshalb haben Rechtsprechung und Schrifttum Art und Ausstattung der Wohnräume am Beschäftigungsort als ein Indiz für oder gegebenenfalls gegen den Mittelpunkt der Lebensverhältnisse an diesem Ort gewertet (vgl. BSG 17, 270, 273; 20, 110, 112; BSG SozR Nr. 17 und 24 zu § 543 RVO aF; Brackmann aaO S. 486 k und 1 mit weiteren Nachweisen). Auch die Klägerin übersieht jedoch nicht, daß die Wohnverhältnisse nur als Anhaltspunkt dafür in Betracht kommen, wo der Mittelpunkt der Lebensverhältnisse des Versicherten ist. Der Senat hat bereits in seinem Urteil vom 15. Dezember 1959 (SozR Nr. 17 zu § 543 RVO aF) darauf hingewiesen, daß ein nur dürftig ausgestattetes Zimmer auf Umständen beruhen kann, unter denen alleinstehende Arbeitnehmer häufig ihr außerberufliches Leben einrichten müßten, die aber für die versicherungsrechtliche Beurteilung unerheblich seien (z. B. die Knappheit an möblierten Zimmern in der betreffenden Stadt, Sparsamkeit im Wohnungsaufwand zwecks Ermöglichung von Anschaffungen usw.). Dies gilt auch für verheiratete Versicherte, die gemeinsam mit dem Ehegatten an dem Ort der Tätigkeit oder in dessen Nähe wohnen. Hierzu zählt - regelmäßig verbunden mit Sparsamkeitserwägungen - auch der Verzicht auf eine dem Mittelpunkt der Lebensverhältnisse an sich entsprechende Wohnung, weil dieser später wieder in die noch bestehende gemeinsame eheliche Wohnung zurückverlegt werden soll.
Der Mittelpunkt der Lebensverhältnisse des Ehemannes der Klägerin hat nach der maßgebenden tatsächlichen Gestaltung somit in N/B gelegen, wo er gemeinsam mit der Klägerin arbeitete und wohnte. Der Ehemann der Klägerin ist deshalb im September 1963 nicht auf einer Fahrt von der Unterkunft nach der ständigen Familienwohnung i. S. des § 550 Satz 2 RVO aF verunglückt. Die Beklagte hat demnach eine Entschädigung aus der gesetzlichen Unfallversicherung wegen der Folgen des Unfalles zu Recht abgelehnt.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen