Entscheidungsstichwort (Thema)
Zumutbarkeit von Verweisungstätigkeiten
Orientierungssatz
1. Ein ehemaliger Berufsunteroffizier kann auf die Tätigkeiten der Vergütungsgruppen VIII bis X des Bundesangestelltentarifs (BAT) zumutbar verwiesen werden (vgl BSG 1971-07-29 5/12 RJ 282/68 = SozR Nr 95 zu § 1246 RVO).
2. Als Verweisungstätigkeiten für einen Schneider kommen nicht nur Lehrberufe - und gar einer dem Schneiderberuf verwandte Tätigkeiten - in Betracht. Eine Orientierung allein an dem sogenannten Dreistufenschema - gelernt, angelernt, umgelernt - ist nicht zulässig (vgl BSG 1972-08-11 4 RJ 95/72 = SozR Nr 104 zu § 1246 RVO).
Normenkette
RVO § 1246 Abs. 2 S. 2 Fassung: 1957-02-23
Verfahrensgang
LSG Rheinland-Pfalz (Entscheidung vom 08.01.1971) |
Tenor
Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 8. Januar 1971 wird zurückgewiesen.
Kosten sind nicht zu erstatten.
Gründe
Das Landessozialgericht (LSG) hat den im Jahre 1917 geborenen Kläger - ebenso wie die Beklagte (Bescheid vom 22. Juli 1968), jedoch abweichend von der Entscheidung des Sozialgerichts - SG - (Urteil vom 9. Oktober 1969) - noch nicht als berufsunfähig angesehen und deshalb seine Klage auf Gewährung der Versichertenrente abgewiesen (Urteil vom 8. Januar 1971). Es hat die folgenden Tatsachenfeststellungen getroffen: Im Jahre 1934 habe der Kläger die Gesellenprüfung im Schneiderhandwerk bestanden. Anschließend sei er bis Ende 1937 - mit Unterbrechungen - als Schneidergeselle sowie als Kleinstück- und als Änderungsschneider beschäftigt gewesen. Nach seiner Arbeitsdienstzeit - von April bis Oktober 1938 - habe er von November 1938 an Wehrdienst geleistet, zunächst als Wehrpflichtiger, später - seit dem 1. Oktober 1940 - als Berufssoldat. Bei Kriegsende sei er Feldwebel gewesen. Er beziehe eine Versorgungsrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 60 v. H.; darüber hinaus werde ihm vom Versorgungsamt ein Berufsschadensausgleich gewährt. Im Oktober 1948 habe der Kläger zwar den allgemeinkundlichen Teil der Meisterprüfung im Herrenschneiderhandwerk bestanden, zur Ausübung des Schneiderberufs sei er jedoch wegen der Folgen seiner Verwundung nicht mehr imstande. In der Nachkriegszeit habe er als Angestellter im öffentlichen Dienst, als Gelderheber, Kassierer, Expedient, Kassenbote und Registrator sowie als Vertreter und als Wachmann gearbeitet. Inzwischen sei es zu einer weiteren Einschränkung seiner Leistungsfähigkeit gekommen. Er könne zwar noch vollschichtig leichte Arbeiten verrichten, jedoch nur im Wechsel von Sitzen und Stehen und unter Vermeidung von Akkordarbeiten sowie von Wechsel- und Nachtschicht. Diese Einschränkungen bewirken nach Auffassung des LSG noch nicht die Berufsunfähigkeit des Klägers. Von seinem erlernten Beruf als Schneider habe er sich dadurch, daß er Berufssoldat geworden sei, gelöst. Als ehemaliger Berufsunteroffizier könne er auf Tätigkeiten der Vergütungsgruppen VIII bis X des Bundesangestelltentarifs (BAT) verwiesen werden. In diesem Rahmen seien Stellen, die der eingeschränkten Leistungsfähigkeit des Klägers Rechnung trügen, in großer Zahl vorhanden.
Mit der Revision macht der Kläger geltend, bei Prüfung der für ihn in Betracht kommenden Verweisungstätigkeiten müsse von seinem erlernten Schneiderberuf ausgegangen werden. Deshalb könne er nur auf Tätigkeiten verwiesen werden, die einem Lehrberuf vergleichbar seien.
Der Kläger beantragt,
das Urteil des LSG vom 8. Januar 1971 aufzuheben und die Berufung gegen das Urteil des SG Speyer zurückzuweisen,
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Die Revision ist unbegründet. Die Entscheidung des LSG daß der Kläger noch nicht berufsunfähig sei, ist im Ergebnis daher nicht zu beanstanden.
Die hinsichtlich der Leistungsfähigkeit und der beruflichen Fähigkeiten des Klägers getroffenen Tatsachenfeststellungen des Berufungsgerichts sind in der Revisionsinstanz nicht angegriffen worden. Sie sind bei der Beurteilung der Frage, welche Tätigkeiten für den Kläger in Betracht kommen (§ 1246 Abs. 2 RVO), zugrunde zu legen. Es bedarf hiernach keiner weiteren Erörterungen darüber, daß die vom LSG aufgeführten Tätigkeiten - Vergütungsgruppen VIII bis X BAT - den Kräften und Fähigkeiten des Klägers entsprechen. Derartige Tätigkeiten hat er während einer Anzahl von Jahren in der Nachkriegszeit ausgeübt; es gibt in diesem Rahmen solche Tätigkeiten, die er trotz seiner eingeschränkten Leistungsfähigkeit auszuführen vermag. Sie sind ihm nach Auffassung des LSG deshalb zuzumuten (vgl. § 1246 Abs. 2 Satz 2 RVO), weil er sich während des 2. Weltkrieges von dem erlernten Schneiderberuf gelöst habe. Gegenüber der Tätigkeit eines Unteroffiziers der früheren deutschen Wehrmacht - diesem "Beruf" habe sich der Kläger damals zugewandt - seien sie nicht als bedeutsamer sozialer Abstieg zu werten. Letzterem kann bedenkenfrei gefolgt werden, diese Auffassung entspricht der - auch vom erkennenden Senat gebilligten - Rechtsprechung des BSG (vgl. BSG in SozR Nr. 95 zu § 1246 RVO). Ob dagegen der Kläger sich tatsächlich von seinem erlernten Beruf gelöst hat und ob es bei Anwendung des § 1246 RVO gestattet ist, von der Tätigkeit des Berufsunteroffiziers auszugehen, kann auf sich beruhen. Auch wenn man der Meinung des Klägers folgt und annimmt, eine Lösung vom Schneiderberuf sei nicht eingetreten, die Zeit des Wehrdienstes vielmehr als Durchgangsstation anzusehen, weil es in seiner Absicht gelegen habe, sich später seinem ursprünglichen Beruf wieder zuzuwenden, so gelangt man zu keinem anderen Ergebnis. Dem Umstand, daß der Kläger eine handwerkliche Lehre abgeschlossen hat, kommt auch bei der vorbezeichneten Betrachtungsweise die überragende Bedeutung, die der Kläger ihm beimißt, nicht zu. Als Verweisungstätigkeiten kommen nicht nur Lehrberufe - und gar nur dem Schneiderberuf verwandte Tätigkeiten - in Betracht. Der Kreis der Verweisungstätigkeiten ist weiter zu ziehen. Eine Orientierung allein an dem sogenannten Dreistufenschema - gelernt, angelernt, ungelernt - ist nicht zulässig. Dies hat der erkennende Senat bereits in mehreren Entscheidungen - zuletzt in seinem zur Veröffentlichung vorgesehenen Urteil vom 11. August 1972 (Az.: 4 RJ 95/72) - im einzelnen dargelegt. Auf die Gründe der vorbezeichneten Entscheidung wird Bezug genommen, dort sind weitere Bewertungsmaßstäbe genannt, denen im Hinblick auf die fortschreitende Industrialisierung und Mechanisierung zunehmend Gewicht zukommt. Eine allein an handwerklichen Gesichtspunkten ausgerichtete Betrachtungsweise würde den tatsächlichen Gegebenheiten unserer Gesellschafts- und Sozialordnung nicht gerecht werden. An dieser Auffassung hält der erkennende Senat weiter fest. Bei ihrer Anwendung ist ein Anhalt dafür, daß einem gelernten Schneider, der überwiegend als Kleinstück- und Änderungsschneider tätig war, die vom LSG beschriebenen Tätigkeiten, nämlich u. a. auch schwierigere Tätigkeiten im Büro-, Registratur-, Buchhalterei-, Kassen-, Sparkassen und sonstigen Innendienst, nicht zugemutet werden könnten, nicht zu erkennen.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.
Fundstellen