Entscheidungsstichwort (Thema)

Verfassungsmäßigkeit des § 11 Abs 1 BKGG?

 

Orientierungssatz

1. Ist § 11 Abs 1 BKGG idF des Art 13 HBegleitG 1983 vom 20.12.1982 (BGBl I 1982, 1857) mit Art 3 Abs 1 GG vereinbar?

2. Das Verfahren vor dem BVerfG ist abgeschlossen, nachdem das vorlegende Gericht durch Beschluß vom 22.8.1990 - 10 RKg 19/90 seinen Vorlagebeschluß aufgehoben hat.

 

Normenkette

BKGG § 11 Abs 1 S 1 Fassung: 1982-12-20, § 11 Abs 1 S 2 Fassung: 1982-12-20, § 11 Abs 2 Fassung: 1982-12-20, § 10 Abs 2 Fassung: 1982-12-20; GG Art 3 Abs 1; EStG § 2 Abs 1; EStG § 2 Abs 2

 

Verfahrensgang

LSG Baden-Württemberg (Entscheidung vom 20.11.1984; Aktenzeichen L 9 Kg 929/84)

 

Tatbestand

Der Kläger bezieht für seine zwei Kinder Kindergeld. Nach dem Einkommensteuerbescheid für das Jahr 1981 erzielte er positive Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit in Höhe von 57.664,-- DM. Als steuerlich abzugsfähig wurden Vorsorgeaufwendungen in Höhe von 8.348,-- DM sowie negative Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung in Höhe von 32.702,-- DM berücksichtigt. Die Einkommensteuerschuld belief sich auf 1.070,-- DM und die Kirchensteuerschuld auf 7,20 DM. Mit Bescheid vom 14. April 1983 hob die Beklagte die Bewilligung des Kindergeldes ab 1. Januar 1983 insoweit auf, als dem Kläger für sein zweites Kind ein höheres Kindergeld als der Sockelbetrag nach § 10 Abs 1 des Bundeskindergeldgesetzes (BKGG) bewilligt worden war. Außerdem teilte die Beklagte in dem Bescheid mit, daß vom laufenden Kindergeld die seit dem 1. Januar 1983 zuviel gezahlten Leistungen einbehalten würden.

Widerspruch, Klage und Berufung hatten keinen Erfolg. Das Landessozialgericht (LSG) hat zur Begründung ua ausgeführt, die Beklagte habe das Jahreseinkommen des Klägers für das Jahr 1981 gemäß § 11 BKGG richtig mit 48.239,-- DM berechnet. Die negativen Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung seien von den aus einer anderen Einkunftsart, nämlich aus nichtselbständiger Arbeit, stammenden Einkünften von 57.664,-- DM nicht absetzbar. Der Freibetrag für den verheirateten, nicht dauernd von seiner Ehegattin getrennt lebenden Kläger belaufe sich auf 41.520,-- DM (25.920,-- DM zuzüglich je 7.800,- DM für die beiden Kinder = 41.520,-- DM). Das maßgebliche Jahreseinkommen übersteige somit den Freibetrag um 6.719,-- DM (48.239,-- DM abzüglich 41.520,-- DM = 6.719,-- DM). Gemäß § 10 Abs 2 BKGG sei deshalb das Kindergeld für das zweite Kind von 100,-- DM auf 70,-- DM zu mindern. Die Regelung der §§ 10 und 11 BKGG sei nicht verfassungswidrig. Insbesondere verstoße sie nicht gegen den Gleichheitssatz des Art 3 des Grundgesetzes (GG). Insbesondere könne eine willkürliche Ungleichbehandlung nicht darin gesehen werden, daß der Verlustausgleich zwischen verschiedenen Einkunftsarten ausgeschlossen sei. Das Verbot des Verlustausgleichs beruhe offenbar auf der Erwägung des Gesetzgebers, daß sich ein Berechtigter von verlustbringenden Einkunftsarten trennen könne.

Mit der - vom Senat zugelassenen - Revision macht der Kläger ua geltend, daß der Gesetzgeber aus verfassungsrechtlichen Gründen angesichts des Zusammenhangs mit dem Einkommensteuerrecht das Kindergeld nicht habe einkommensabhängig gestalten dürfen. Das Einkommen sei als Anknüpfungspunkt für die Höhe des Kindergeldes heutiger Prägung sachwidrig und daher willkürlich, weil es bereits zu einer Kinderlasten nicht oder nicht nennenswert berücksichtigenden Steuerlast führe und das Kindergeld dies ausgleichen solle, ohne dazu der mit steigendem Einkommen steigenden Steuerlast nach oben zu folgen. Aber selbst wenn das Kindergeld einkommensabhängig gekürzt werden könne, verstoße die Bestimmung des § 11 BKGG gegen den Gleichheitssatz des Art 3 GG. Die unterschiedliche Behandlung danach, wie sich ein Einkommen zusammensetze, sei sachfremd und willkürlich. Da positive Einkünfte aus einzelnen Einkunftsquellen (und Einkunftsarten) zunächst dazu verwendet werden müßten, negative Einkünfte (Verluste) aus anderen Einkunftsquellen (und Einkunftsarten) abzudecken, könne sich die Leistungsfähigkeit des Berechtigten, die allein geeigneter Anknüpfungspunkt sei, nur danach richten, was bei Saldierung aller Einkunftsquellen (und Einkunftsarten) unter dem Strich als Einkommen verbleibe. Dem Gleichheitssatz widerspreche aber auch, daß die vom Einkommen im Sinne des BKGG absetzbare Einkommen- und Kirchensteuer trotz Saldierungsverbot nur in der tatsächlich angefallenen und nicht in der Höhe zu berücksichtigen sei, die sie ohne die unberücksichtigt bleibenden negativen Einkünfte hätte.

Der Kläger beantragt,

das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg

vom 20. November 1984 abzuändern, den Bescheid der

Beklagten vom 14. April 1983 in der Gestalt des

Widerspruchsbescheides des Regierungspräsidiums

Stuttgart vom 5. August 1983 aufzuheben und die

Beklagte zu verurteilen, dem Kläger über den

31. Dezember 1982 hinaus Kindergeld für das

zweite Kind in Höhe von monatlich 100,-- DM zu

gewähren;

hilfsweise,

das Verfahren auszusetzen und die Sache dem

Bundesverfassungsgericht vorzulegen.

Die Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Sie hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.

 

Entscheidungsgründe

Das Verfahren wird nach Art 100 Abs 1 Satz 1 GG ausgesetzt und eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) eingeholt.

Der Senat hält die in § 11 Abs 1 BKGG getroffene Regelung über das Jahreseinkommen, das bei der Bemessung des Kindergeldes nach § 10 Abs 2 BKGG zugrunde zu legen ist, für verfassungswidrig. Die Regelung verstößt gegen den Gleichheitssatz des Art 3 Abs 1 GG.

1. Bei der Entscheidung des Rechtsstreits kommt es auf die Gültigkeit des § 11 Abs 1 BKGG an. Sollte die Norm ungültig sein, so wäre die Revision des Klägers begründet. Die Beklagte könnte nicht das dem Kläger für sein zweites Kind zustehende Kindergeld von monatlich 100,-- DM (vgl § 10 Abs 1 BKGG) ab 1. Januar 1983 auf 70,-- DM monatlich herabsetzen und weder für die Zeit ab 1. Januar 1983 die Rückzahlung von Kindergeld fordern (§ 44 Abs 2 Satz 1 BKGG) noch mit dem angeblichen Rückforderungsanspruch gegen die laufenden Kindergeldansprüche aufrechnen (§ 44 Abs 2 Satz 2 BKGG). Steht § 11 Abs 1 BKGG dagegen mit dem GG in Einklang, ist die Revision zurückzuweisen.

2. Die angefochtenen Bescheide der Beklagten entsprechen dem einfachen Recht.

Nach § 10 Abs 1 BKGG beträgt das Kindergeld für das erste

Kind 50,-- DM und für das zweite Kind 100,-- DM monatlich.

Das Kindergeld wird gemäß § 10 Abs 2 Satz 1 BKGG für das

zweite Kind nach dem in Satz 4 genannten Maßstab stufenweise

bis auf einen Sockelbetrag von 70,-- DM gemindert, wenn das

Jahreseinkommen des Berechtigten und seines nicht dauernd von

ihm getrennt lebenden Ehegatten den für ihn maßgeblichen

Freibetrag um wenigstens 480,-- DM übersteigt. Der Freibetrag

setzt sich zusammen aus 25.920,-- DM für Berechtigte, die

verheiratet sind und von ihrem Ehegatten nicht dauernd getrennt

leben, 18.120,-- DM für sonstige Berechtigte sowie

7.800,-- DM für jedes Kind, für das dem Berechtigten Kindergeld

zusteht (§ 10 Abs 2 Satz 3 BKGG). Für je 480,-- DM,

um die das Jahreseinkommen den Freibetrag übersteigt, wird

das Kindergeld um 20,-- DM monatlich gemindert; kommt die

Minderung des für mehrere Kinder zu zahlenden Kindergelds in

Betracht, wird sie beim Gesamtkindergeld vorgenommen (§ 10

Abs 2 Satz 4 BKGG). Die Beklagte hat für den Kläger einen

Freibetrag von 41.520,-- DM (25.920,-- DM zuzüglich 2 x

7.800,-- DM = 41.520,-- DM) errechnet. Dies entspricht der

Vorschrift des § 10 Abs 2 BKGG. Aber auch das Jahreseinkommen

ist zutreffend ermittelt worden. Als Jahreseinkommen gilt

nach § 11 Abs 1 Satz 1 BKGG die Summe der in dem nach Abs 3

oder 4 maßgeblichen Kalenderjahr erzielten positiven Einkünfte

iS des § 2 Abs 1 und 2 des Einkommensteuergesetzes

(EStG). Ein Ausgleich mit Verlusten aus anderen Einkunftsarten

und mit Verlusten des Ehegatten ist gemäß § 11 Abs 1

Satz 2 BKGG nicht zulässig. Für die Berechnung des Kindergeldes

hat der Gesetzgeber im BKGG damit einen besonderen

Begriff des Jahreseinkommens geschaffen. Zugunsten des

Kindergeldberechtigten dürfen nach § 11 Abs 2 BKGG die

Einkommensteuer und die Kirchensteuer sowie in bestimmtem

Umfange die steuerlich anerkannten Vorsorgeaufwendungen und

bestimmte Unterhaltsleistungen abgezogen werden. Die Beklagte

hat die nach dem Gesetz möglichen Abzüge vorgenommen und der

Kindergeldberechnung ein iS der §§ 10 und 11 BKGG anzurechnendes

Einkommen in Höhe von 48.239,-- DM zugrunde gelegt.

Da dieser Betrag den für den Kläger maßgeblichen Freibetrag

um 6.719,-- DM übersteigt (48.239,-- DM abzüglich

41.520,-- DM = 6.719,-- DM), besteht nur ein Kindergeldanspruch

für das zweite Kind in Höhe des Sockelbetrags von

70,-- DM (§ 10 Abs 2 Satz 1 und Satz 3 und 4 BKGG). Ab Januar

1983 ist dem Kläger somit ein Gesamtkindergeld von monatlich

120,-- DM statt monatlich 150,-- DM zu zahlen. Auch die in

den angefochtenen Bescheiden festgestellte Rückzahlungspflicht

für die Zeit ab 1. Januar 1983 und die gegen laufende

Kindergeldansprüche erklärte Aufrechnung entsprechen

dem einfachen Recht (§ 44 BKGG).

3. Der Kläger wendet sich mit der Revision sowohl gegen die Einkommensabhängigkeit der Kindergeldgewährung (§ 10 Abs 2 BKGG) als auch gegen das in § 11 Abs 1 Satz 2 BKGG enthaltene Verbot des Ausgleichs mit Verlusten aus anderen Einkunftsarten. Die genannten Vorschriften lassen sich jedoch nicht verfassungskonform in dem Sinne auslegen, daß die Einkommensabhängigkeit des Kindergeldes entfiele oder der genannte Verlustausgleich als zulässig anzusehen wäre. Die verfassungskonforme Auslegung setzt voraus, daß die anzuwendenden Normen mehrere Auslegungen zulassen (vgl Leibholz/Rinck, GG, Komm, 6. Aufl, Einführung Anm 4). Bei der Auslegung dürfen nicht die Grenzen überschritten werden, die sich aus Wortlaut und Sinngehalt des Gesetzes ergeben; hierbei ist der Zweck der gesetzlichen Regelung zu beachten. Der Grundsatz der Gewaltenteilung verbietet es, daß eine verfassungskonforme Auslegung das gesetzgeberische Ziel in einem wesentlichen Punkt verfehlt oder verfälscht (BVerfGE 8, 28, 34; Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 4. Aufl, S 329). Eine andere als die von der Beklagten und dem LSG gewählte Auslegung der §§ 10 Abs 2 und 11 Abs 1 BKGG würde hiergegen verstoßen. § 10 Abs 2 BKGG regelt die Einkommensabhängigkeit des Kindergeldes für das zweite und jedes weitere Kind. Eine Auslegung, die die Einkommensabhängigkeit des Kindergeldes beseitigen wollte, wäre weder mit dem Sinn und Zweck noch mit dem Wortlaut des § 10 Abs 2 BKGG vereinbar. Das gleiche gilt für das in § 11 Abs 1 Satz 2 BKGG enthaltene Verbot des Verlustausgleichs. Nach dem Gesetzeswortlaut und dem Sinngehalt dieser Norm muß davon ausgegangen werden, daß der Gesetzgeber den Ausgleich mit Verlusten aus anderen Einkunftsarten nicht zulassen wollte. Hierfür läßt sich auch § 11 Abs 1 Satz 1 BKGG als Beleg heranziehen. Wenn dort das Jahreseinkommen als die Summe der in dem nach Abs 3 und 4 maßgeblichen Kalenderjahr erzielten "positiven" Einkünfte iS des § 2 Abs 1 und 2 EStG bezeichnet wird, läßt diese Definition schon erkennen, daß negative Einkünfte bei der Ermittlung des Jahreseinkommens keine Rolle spielen sollen. Der Gesetzeswortlaut bringt auch zutreffend zum Ausdruck, daß der Gesetzgeber mit der Beschränkung auf die positiven Einkünfte und dem Verbot des Ausgleichs mit Verlusten aus anderen Einkunftsarten unterbinden wollte, daß sich steuerliche Subventionen im Kindergeldrecht begünstigend auswirken (vgl BT-Drucks 9/2140, S 86 zu Art 2 Nr 3 iVm BT-Drucks 9/410, S 11, Ziff 3.2).

4. Eine abschließende Entscheidung durch das Bundessozialgericht (BSG) ist nicht möglich. Zwar geht der Senat davon aus, daß der Gesetzgeber - wie dies in § 10 Abs 2 BKGG geschehen ist - die Höhe des Kindergeldes für das zweite und jedes weitere Kind vom Einkommen des Kindergeldberechtigten abhängig machen darf. Eine derartige Differenzierung nach der Leistungsfähigkeit ist verfassungsrechtlich unbedenklich, denn dem Bürger können höhere Eigenbelastungen für den Unterhalt seiner Kinder auferlegt werden, je geringer der Teil seines Einkommens ist, den er für seine notwendigen Bedürfnisse aufwenden muß (BVerfGE 43, 108, 120 f, 125). Dagegen steht § 11 Abs 1 BKGG nicht in Einklang mit dem GG. Die Vorschrift verstößt gegen den Gleichheitssatz des Art 3 Abs 1 GG. Nach der ständigen Rechtsprechung des BVerfG ist der Gleichheitssatz verletzt, wenn sich ein vernünftiger, sich aus der Natur der Sache ergebender oder sonstwie sachlich einleuchtender Grund für die gesetzliche Differenzierung oder Gleichbehandlung nicht finden läßt, wenn also die Bestimmung als willkürlich bezeichnet werden muß (BVerfGE 1, 14, 52; 14, 142, 150; 18, 38, 46; 20, 31, 33; 21, 6, 9). Der Gleichheitssatz verpflichtet damit, nicht nur Gleiches gleich, sondern Ungleiches entsprechend seiner Ungleichheit ungleich zu behandeln. Dabei braucht der Gesetzgeber aber nicht alle tatsächlichen Gleichheiten oder Ungleichheiten der zu ordnenden Lebensverhältnisse zu berücksichtigen. Ein Verstoß gegen Art 3 GG liegt vielmehr nur dann vor, wenn Umstände außer acht bleiben, die so bedeutsam sind, daß sie bei einer am Gerechtigkeitsgedanken orientierten Betrachtungsweise berücksichtigt werden müssen (BVerfGE 1, 264, 275 f; 9, 137, 146; 19, 354, 367). Dem Gesetzgeber bleibt bei der Ordnung der Lebensverhältnisse ein weiter Spielraum für die Betätigung seines Ermessens. Von den Gerichten ist daher nicht zu prüfen, ob der Gesetzgeber die gerechteste und zweckmäßigste Regelung getroffen hat, sondern lediglich, ob er die äußersten Grenzen des Ermessens bereits überschritten hat (BVerfGE 3, 58, 135; 4, 7, 18; 9, 137, 146; 19, 354, 367 f). Die Definition des Jahreseinkommens in § 11 Abs 1 Satz 1 BKGG als Summe der erzielten positiven Einkünfte und das in Satz 2 dieses Absatzes enthaltene Verbot des Ausgleichs mit Verlusten aus anderen Einkunftsarten führt - je nach Betrachtungsweise - zu einer sachwidrigen Gleichbehandlung oder Ungleichbehandlung von Kindergeldberechtigten. Sieht man darin einen wesentlichen Unterschied, daß die Kindergeldberechtigten ihr Einkommen teils aus einer Einkunftsart, teils aus mehreren Einkunftsarten beziehen, so verstößt die Regelung des § 11 Abs 1 BKGG gegen den Gleichheitssatz, indem sie diese beiden Gruppen willkürlich gleich behandelt. Während bei Kindergeldberechtigten, deren Einkommen nur zu einer Einkunftsart gehört, einkommensmindernde Umstände (zB Absetzung für Abnutzung und Substanzverringerung - § 7 EStG - und Werbungskosten - § 9 EStG -) unbegrenzt auf die Höhe des "Jahreseinkommens" Einfluß haben, ist dies bei Kindergeldberechtigten mit Einkommen aus verschiedenen Einkunftsarten nicht der Fall. Bei ihnen können einkommensmindernde Umstände innerhalb der einzelnen Einkunftsarten zwar auch bis zur Null-Grenze berücksichtigt werden. Setzt sich ihr Einkommen jedoch - getrennt nach verschiedenen Einkunftsarten - aus positiven und negativen Einkünften zusammen (zB 60.000,-- DM aus Gewerbebetrieb, 3.000,-- DM aus nichtselbständiger Arbeit und 40.000,-- DM Verluste aus Vermietung und Verpachtung), so dürfen nach der Regelung des § 11 Abs 1 BKGG nur die positiven Einkünfte berücksichtigt werden. Dadurch kann es zu dem Ergebnis kommen, daß ein Kindergeldberechtigter mit Einkommen aus mehreren Einkunftsarten als leistungsfähig gilt, obwohl er tatsächlich wirtschaftlich wesentlich schlechter dasteht als ein anderer Kindergeldberechtigter, dessen Einkommen aus einer Einkunftsart infolge einkommensmindernder Umstände unter dem Freibetrag des § 10 Abs 2 Satz 3 BKGG bleibt. Eine verfassungswidrige Ungleichbehandlung der beiden Gruppen von Kindergeldberechtigten ist jedoch zu konstatieren, wenn auf die Leistungsfähigkeit als das vom Gesetzgeber gewählte Kriterium für die Kürzung des Kindergeldes abgestellt wird. Bei dieser Betrachtungsweise liegt eine Ungleichbehandlung darin, daß der Kindergeldberechtigte mit Einkommen aus einer Einkunftsart bei niedrigem Einkommen bzw Verlusten stets das volle Kindergeld erhalten kann, der Kindergeldberechtigte mit gleich hohem Einkommen aus mehreren Einkunftsarten wegen der Regelung des § 11 Abs 1 Satz 2 BKGG sich unter Umständen mit dem gekürzten Kindergeld zufrieden geben muß, also die Leistungsfähigkeit nicht in gleichem Maße den Ausschlag für die Bemessung des Kindergeldes gibt.

Im Hinblick auf diese Auswirkungen läßt sich - bei einer am Gerechtigkeitsgedanken orientierten Betrachtungsweise - für die in § 11 Abs 1 BKGG vorgeschriebene Gleichbehandlung bzw Ungleichbehandlung von Kindergeldberechtigten mit Einkommen aus einer Einkunftsart und Kindergeldberechtigten mit Einkommen aus mehreren Einkunftsarten kein sachlich einleuchtender Grund finden. Zwar wollte der Gesetzgeber durch das Verbot des Verlustausgleichs aus anderen Einkunftsarten verhindern, daß auch steuerliche Subventionierungen (zB Abschreibungen) begünstigend im Kindergeldrecht wirken (vgl dazu BT-Drucks 9/2140, S 86 zu Art 12 Nr 3 iVm BT-Drucks 9/410, S 11, Ziff 3.2). Dieses Ziel ist aber nur ungenügend erreicht worden. Abschreibungen und sonstige steuerliche Subventionierungen sind nämlich bei Kindergeldberechtigten mit Einkommen aus einer Einkunftsart und Kindergeldberechtigten mit Einkommen aus mehreren Einkunftsarten gleichermaßen bis zur Null-Grenze innerhalb der jeweiligen Einkunftsart zu berücksichtigen, bei der sie anfallen. Nur wenn bei einem Einkommen aus mehreren Einkunftsarten negative Einkünfte mit positiven Einkünften zusammentreffen, verhindert § 11 Abs 1 BKGG durch das Verbot des Verlustausgleichs, daß sich die Abschreibungen und sonstigen steuerlichen Subventionierungen noch jenseits der Null-Grenze - also im Verlustbereich einer Einkunftsart - einkommensmindernd und damit für den Kindergeldberechtigten "günstig" auswirken. Wenn sich das Verbot des Verlustausgleichs auf Verluste beschränkte, die durch Absetzungen, Sonderabschreibungen oder ähnliche steuerliche Subventionierungen "künstlich" herbeigeführt werden, wäre der Gesetzgeber im Rahmen des ihm zustehenden Ermessensspielraums möglicherweise befugt, eine solche Regelung zu treffen, auch wenn durch sie die Kindergeldberechtigten mit Einkommen aus mehreren Einkunftsarten im Einzelfalle benachteiligt würden. Da das Verbot des Verlustausgleichs aber auch die realen Verluste (zB die Geschäftsunkosten - Miete für Geschäftsräume, Energiekosten, Löhne usw - übersteigen die erzielten Einnahmen) erfaßt, sind die Nachteile für die Kindergeldberechtigten mit Einkommen aus mehreren Einkunftsarten so gravierend, daß das mit der Norm verfolgte Ziel die Gleichbehandlung unterschiedlicher Sachverhalte hier nicht zu rechtfertigen vermag.

Ebensowenig kann § 11 Abs 1 BKGG mit der Begründung für verfassungsrechtlich unbedenklich erklärt werden, der Gesetzgeber habe die Ermittlung des Jahreseinkommens für die Verwaltung durch pauschalierende Regelungen so praktikabel wie möglich gestalten müssen. Zwar darf der Gesetzgeber bei der Ordnung von Massenerscheinungen typisierende Regelungen treffen (BVerfGE 17, 1, 25; 51, 115, 122 f; 63, 119, 128). Härten, die mit einer solchen Typisierung im Einzelfalle unvermeidlich verbunden sind, müssen hingenommen werden (BVerfGE 13, 21, 29). Indessen rechtfertigt das nicht jede Härte im Einzelfall. Eine noch hinzunehmende Typisierung setzt vielmehr voraus, daß die durch sie eintretenden Härten oder Ungerechtigkeiten nur eine verhältnismäßig kleine Zahl von Personen betreffen und daß der Verstoß gegen den Gleichheitssatz nicht sehr intensiv ist (BVerfGE 26, 265, 275 f).

Die Grenzen zulässiger Typisierung sind hier jedoch überschritten. Die mit der typisierenden Regelung des § 11 Abs 1 BKGG verbundenen Härten oder Ungerechtigkeiten betreffen eine erhebliche Zahl von Personen. Kindergeldberechtigt sind nämlich nicht nur abhängig Beschäftigte, sondern auch Selbständige, bei denen sich das Einkommen oft aus Einkünften verschiedener Einkunftsarten zusammensetzt. Aber auch kindergeldberechtigte Arbeitnehmer gehören keineswegs immer zu dem Personenkreis, der sein Einkommen nur aus nichtselbständiger Arbeit bezieht. Da ein sehr großer Personenkreis Einkünfte aus verschiedenen Einkunftsarten bezieht, muß davon ausgegangen werden, daß auch häufiger negative und positive Einkünfte zusammentreffen und sich dadurch die dargestellten Ungerechtigkeiten ergeben können.

Auch die Intensität des Verstoßes gegen den Gleichheitssatz läßt die durch die Typisierung eintretenden Härten und Ungerechtigkeiten nicht mehr als hinnehmbar erscheinen. Nach der Regelung des § 11 BKGG ist es möglich, daß der eine Kindergeldberechtigte, der sein Einkommen nur aus einer Quelle bezieht, für sein zweites und seine weiteren Kinder das volle Kindergeld nach § 10 Abs 1 BKGG erhält, während einem anderen Kindergeldberechtigten mit Einkommen aus mehreren Einkunftsarten bei gleich geringer Leistungsfähigkeit wegen des Verbots des Verlustausgleichs nur jeweils der Sockelbetrag des § 10 Abs 2 BKGG zusteht. Die Differenz macht bei vier Kindern einen Betrag von monatlich 210,-- DM oder von jährlich 2.520,-- DM aus und ist - selbst bei einem Einkommen, das über dem durchschnittlichen Einkommen eines Arbeitnehmers liegt - beträchtlich.

Für die Zulässigkeit der typisierenden Regelung sprechen hier auch nicht praktische Erfordernisse der Verwaltung. Eine Typisierung kann verfassungsrechtlich unbedenklich sein, wenn die durch sie entstehenden Ungerechtigkeiten nur unter Schwierigkeiten vermeidbar wären (vgl BVerfGE 45, 376, 390; dazu auch 66, 234, 245). Hierfür sind auch praktische Erfordernisse der Verwaltung von Gewicht (BVerfGE 9, 20, 31 ff; 63, 119, 128). Selbst wenn man davon ausgeht, daß die strittige Regelung des § 11 BKGG relativ einfach zu handhaben ist und der Verwaltung ermöglicht, über die Höhe des Kindergeldes allein an Hand des vorzulegenden Einkommensteuerbescheides zu entscheiden (vgl dazu BT-Drucks 9/603, S 5, 23 ff), ist dies keine hinreichende Rechtfertigung für die entstehenden Ungerechtigkeiten. Das Verwaltungsverfahren würde nicht unerträglich erschwert, wenn der Gesetzgeber beispielsweise den Abzug von steuerlichen Subventionen beim Jahreseinkommen iS des § 11 BKGG für unzulässig erklärte, im übrigen den Verlustausgleich aber unbeschränkt zuließe. Bei einer solchen gesetzlichen Regelung müßte zwar häufiger neben dem Einkommensteuerbescheid auf die Einkommensteuererklärung des Kindergeldberechtigten zurückgegriffen werden. Diese Erschwerung ist nach Auffassung des vorlegenden Senats indessen als weniger bedeutsam zu bewerten als die mit der jetzigen Typisierung verbundene Benachteiligung einer relativ großen Zahl von Personen. Hinzu kommt, daß das BKGG keine Härteklausel enthält, die es ermöglichte, die Folgen des Verbots des Verlustausgleichs im Einzelfalle zu mildern (vgl dazu Leibholz/Rinck, Art 3 Anm 15 unter Hinweis auf BVerfGE 17, 57).

An der Beurteilung ändert sich schließlich auch nichts dadurch, daß es sich bei dem Kindergeldrecht um die Regelung einer rein darreichenden Verwaltung handelt, also einem Rechtsgebiet, auf dem der Gesetzgebung ein weiter Gestaltungsspielraum zusteht (vgl BVerfGE 11, 50, 60). Denn auch hier gilt das Verbot, wesentlich Ungleiches nicht sachwidrig gleich zu behandeln oder wesentlich Gleiches ungleich zu behandeln (vgl BVerfGE 28, 324, 349; 60, 16, 42). Dieses Verbot wird auch nicht dadurch gelockert, daß die Neufassung des § 11 BKGG durch das Haushaltsbegleitgesetz 1983 erfolgt ist und die Minderung des Kindergeldes entsprechend der Höhe des Einkommens zu den Maßnahmen der Sanierung des Staatshaushaltes zu rechnen ist. Wenn der Gesetzgeber im Rahmen von Haushaltssanierungen auch grobrastige Gesamtmaßnahmen treffen darf, so muß er gleichwohl die Willkürgrenze beachten (BVerfGE 60, 16, 43). Dies gilt insbesondere für benachteiligende Typisierungen. Bei ihnen ist die Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers ohnehin geringer (BVerfGE 19, 101, 116; 65, 325, 356). Das Verbot über den Verlustausgleich aus anderen Einkunftsarten ist eine benachteiligende Typisierung. Auch wenn der Gesetzgeber sie im Rahmen einer Haushaltssanierung in das Kindergeldrecht eingeführt hat, ist sie wegen des damit verbundenen Verstoßes gegen den Gleichheitssatz, der Intensität dieses Verstoßes und der Zahl der betroffenen Personen nicht mehr hinnehmbar.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1661751

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