Verfahrensgang

OLG Stuttgart (Beschluss vom 13.03.1994; Aktenzeichen 4 W 56/93)

LG Stuttgart (Beschluss vom 29.10.1993; Aktenzeichen 2 KfH O 134/90)

 

Tenor

Die Beschlüsse des Oberlandesgerichts Stuttgart vom 13. März 1994 – 4 W 56/93 – und des Landgerichts Stuttgart vom 29. Oktober 1993 – 2 KfH O 134/90 – verletzen die Beschwerdeführerin in ihrem Grundrecht aus Artikel 103 Absatz 1 des Grundgesetzes. Sie werden aufgehoben. Das Verfahren wird an das Oberlandesgericht zurückverwiesen.

Das Land Baden-Württemberg hat der Beschwerdeführerin die notwendigen Auslagen zu erstatten.

 

Gründe

Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Frage, ob es gegen Art. 103 Abs. 1 GG verstößt, wenn die Zivilgerichte im Verfahren der freiwilligen Gerichtsbarkeit einem Antrag auf mündliche Erörterung eines schriftlichen Sachverständigengutachtens nicht nachkommen.

I.

1. Die Beteiligten des Ausgangsverfahrens stritten im aktienrechtlichen Spruchverfahren um die Höhe des Ausgleichsbetrags nach § 304 Aktiengesetz (AktG) sowie des Abfindungsangebots nach § 305 AktG. Dabei ging es insbesondere um den maßgeblichen Bewertungsstichtag sowie die Frage, ob den Minderheitsaktionären Schadensersatzansprüche gemäß § 317 AktG zustünden. Das Landgericht ließ zur Höhe des Ausgleichs- und Abfindungsbetrags ein Sachverständigengutachten erstellen. Die Beschwerdeführerin erhob Einwendungen gegen das Gutachten und beantragte, zur Erörterung Termin zur mündlichen Verhandlung zu bestimmen und dazu die Sachverständigen zu laden.

Mit dem angegriffenen Beschluß entschied das Landgericht den Rechtsstreit ohne die beantragte Anhörung der Sachverständigen. Die Kammer sei aufgrund eigener Sachkunde zu dem Ergebnis gelangt, daß dem Gutachten trotz der Einwendungen der Beschwerdeführerin im Vorgehen wie im Ergebnis zu folgen sei. Der Beschluß enthält keine Ausführungen zu der Frage, warum dem Antrag auf Fortsetzung der mündlichen Verhandlung und Anhörung der Sachverständigen nicht nachzukommen sei.

Das Oberlandesgericht wies die sofortige Beschwerde, die unter anderem auf die Nichtbeachtung des – für die Beschwerdeinstanz ausdrücklich aufrechterhaltenen – Antrags auf Anhörung der Sachverständigen gestützt wurde, zurück. Die Angriffe der Beschwerdeführerin gegen den Beschluß des Landgerichts und das Sachverständigengutachten seien im Ergebnis unbegründet. In dem Beschluß geht das Oberlandesgericht auf die von der Beschwerdeführerin aufgeworfenen inhaltlichen Fragen ein, legt aber nicht dar, warum eine mündliche Verhandlung sowie die Anhörung der Sachverständigen entbehrlich gewesen seien.

2. Mit ihrer Verfassungsbeschwerde rügt die Beschwerdeführerin die Verletzung ihres Anspruchs auf rechtliches Gehör aus Art. 103 Abs. 1 GG. Auch im Verfahren der freiwilligen Gerichtsbarkeit könne jeder Beteiligte gemäß §§ 402, 397 ZPO die Ladung des Sachverständigen zur mündlichen Erläuterung des schriftlichen Gutachtens verlangen. Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs dürfe das Gericht einen entsprechenden Antrag selbst dann nicht ablehnen, wenn es das Gutachten für fehlerfrei und überzeugend halte. Ein Fall rechtsmißbräuchlicher oder verspäteter Antragstellung liege nicht vor. Das Gutachten habe den Hauptgegenstand des Verfahrens gebildet und sei von prozeßentscheidender Bedeutung gewesen. Das Vorgehen des Landgerichts sei auch nicht von § 114 GVG gedeckt. Es lasse sich nicht ausschließen, daß durch eine Anhörung der Sachverständigen die Überzeugungskraft des Gutachtens verringert worden wäre, was im Ergebnis zu einer anderen Entscheidung der Gerichte hätte führen können.

3. Die Antragsgegnerin des Ausgangsverfahrens hält die Verfassungsbeschwerde für unbegründet. Das Landgericht habe gemäß § 114 GVG von einer Anhörung der Sachverständigen Abstand nehmen dürfen. Das Oberlandesgericht sei berechtigt gewesen, die Feststellungen des Landgerichts seiner Entscheidung ohne mündliche Erörterung zugrunde zu legen. Ein Verfassungsverstoß scheide auch deswegen aus, weil die Gerichte sich mit den Einwendungen der Beschwerdeführerin in der Sache befaßt hätten.

II.

Die angegriffenen Entscheidungen verletzen das Grundrecht der Beschwerdeführerin aus Art. 103 Abs. 1 GG. Die hierfür maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen hat das Bundesverfassungsgericht bereits entschieden (§ 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG).

1. Art. 103 Abs. 1 GG gebietet, daß sowohl die gesetzliche Ausgestaltung des Verfahrensrechts als auch das gerichtliche Verfahren im Einzelfall ein Ausmaß an rechtlichem Gehör eröffnet, das dem Erfordernis eines wirkungsvollen Rechtsschutzes auch in bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten gerecht wird und den Beteiligten die Möglichkeit gibt, sich im Prozeß mit tatsächlichen und rechtlichen Argumenten zu behaupten (vgl. BVerfGE 55, 1 ≪6≫; 60, 305 ≪310≫; 74, 228 ≪233≫). Insbesondere haben die Beteiligten einen Anspruch darauf, sich vor Erlaß der gerichtlichen Entscheidung zu dem ihr zugrundeliegenden Sachverhalt zu äußern. Dem entspricht die Verpflichtung der Gerichte, Anträge und Ausführungen der Beteiligten zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen (BVerfGE 67, 39 ≪41≫; 86, 133 ≪146≫). Diese Grundsätze sind auch in dem vom Untersuchungsgrundsatz beherrschten Verfahren der freiwilligen Gerichtsbarkeit zu beachten (BVerfGE 19, 49 ≪51≫; 89, 381 ≪390≫).

Die nähere Ausgestaltung des rechtlichen Gehörs ist den Verfahrensordnungen überlassen, die im Umfang ihrer Gewährleistungen auch über das von Verfassungs wegen garantierte Maß hinausgehen können. Nicht jeder Verstoß gegen Vorschriften des Verfahrensrechts ist daher zugleich auch eine Verletzung von Art. 103 Abs. 1 GG. Die Schwelle einer solchen Verfassungsverletzung wird vielmehr erst erreicht, wenn die Gerichte bei der Auslegung oder Anwendung des Verfahrensrechts die Bedeutung und Tragweite des Grundrechts auf rechtliches Gehör verkannt haben (vgl. BVerfGE 60, 305 ≪310 f.≫). Verletzungen einfachrechtlicher Verfahrensvorschriften sind somit im Einzelfall daraufhin zu überprüfen, ob unter Berücksichtigung des Wirkungszusammenhangs aller einschlägigen Normen der betroffenen Verfahrensordnung durch sie das unabdingbare Mindestmaß des verfassungsrechtlich gewährleisteten rechtlichen Gehörs verletzt worden ist (vgl. BVerfGE 60, 305 ≪311≫).

2. Der Anspruch auf rechtliches Gehör umfaßt grundsätzlich auch die Anhörung gerichtlicher Sachverständiger.

a) Nach § 402 in Verbindung mit § 397 ZPO sind die Parteien berechtigt, dem Sachverständigen diejenigen Fragen vorlegen zu lassen, die sie zur Aufklärung der Sache für dienlich erachten. Der Bundesgerichtshof hat daraus in ständiger Rechtsprechung die Pflicht des Gerichts abgeleitet, dem Antrag einer Partei auf mündliche Befragung gerichtlicher Sachverständiger nachzukommen (vgl. BGHZ 6, 398 ≪400 f.≫; BGH, NJW-RR 1987, S. 339 ≪340≫; BGH, NJW 1997, S. 802 ≪802 f.≫). Auf die Frage, ob das Gericht selbst das Sachverständigengutachten für erklärungsbedürftig hält, komme es nicht an. Es gehöre zur Gewährleistung des rechtlichen Gehörs, daß die Parteien den Sachverständigen Fragen stellen, ihnen Bedenken vortragen und sie um eine nähere Erläuterung von Zweifelspunkten bitten könnten (BGH, NJW-RR 1987, S. 339 ≪340≫). Ein Antrag auf Anhörung des Sachverständigen könne allerdings dann abgelehnt werden, wenn er verspätet oder rechtsmißbräuchlich gestellt wurde (BGHZ 35, 370 ≪371≫; BGH, NJW 1983, S. 340; BGH, NJW-RR 1987, S. 339 ≪340≫; BGH, NJW 1997, S. 802 ≪802 f.≫).

Diese Rechtsprechung hat die Zustimmung der übrigen obersten Bundesgerichte (vgl. BVerwGE 69, 70 ≪77 f.≫; Bundesfinanzhof, Bundessteuerblatt II 1970, S. 460 ≪461≫; Bundessozialgericht, Die Sozialgerichtsbarkeit 1985, S. 290; Bundesarbeitsgericht, BB 1981, S. 54) und des weit überwiegenden Teils der Literatur (vgl. Greger, in: Zöller, ZPO, 20. Aufl. 1997, § 411 Rn. 5a; Leipold, in: Stein/Jonas, ZPO, 20. Aufl. 1989, § 411 Rn. 11 f.; Hartmann, in: Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, ZPO, 56. Aufl. 1998, § 411 Rn. 9; Damrau, in: Münchener Kommentar zur ZPO, 1992, § 411 Rn. 11; Thomas/Putzo, ZPO, 20. Aufl. 1997, § 411 Rn. 5; Bayerlein, Praxishandbuch Sachverständigenrecht, 1990, S. 333 f.; Ankermann, NJW 1985, S. 1204; Pantle, MDR 1989, S. 312) gefunden. Sie beansprucht aufgrund der Verweisung des § 15 Abs. 1 Satz 1 FGG auch im Verfahren der freiwilligen Gerichtsbarkeit Geltung (vgl. Oberlandesgericht Hamm, NJW-RR 1992, S. 1469 ≪1470≫; Bumiller/Winkler, FG, 6. Aufl. 1995, § 15 Anm. 2e).

b) Beachtet ein Gericht diese verfahrensrechtlichen Anforderungen nicht, so liegt darin jedenfalls dann ein Verstoß gegen den verfassungsrechtlichen Anspruch auf rechtliches Gehör, wenn es einen Antrag auf Erläuterung des Sachverständigengutachtens völlig übergeht oder ihm allein deshalb nicht nachkommt, weil das Gutachten ihm überzeugend und nicht weiter erörterungsbedürftig erscheint. Damit wird der entscheidenden Bedeutung des Sachverständigengutachtens für den Ausgang vieler Verfahren Rechnung getragen. Je wichtiger ein Sachverständigengutachten für das Ergebnis eines Prozesses ist, desto mehr Gewicht kommt dem Recht der Verfahrensbeteiligten zu, Einwendungen dagegen vorzubringen und die Sachverständigen mit ihnen zu konfrontieren. Dagegen verlangt Art. 103 Abs. 1 GG nicht, einem rechtzeitigen und nicht mißbräuchlichen Antrag auf Anhörung der Sachverständigen ausnahmslos Folge zu geben. Die mündliche Anhörung des Sachverständigen ist zwar die nächstliegende, aber nicht die einzig mögliche Behandlung eines derartigen Antrags (vgl. BGH, NJW 1992, S. 1459 f.).

3. Einer Überprüfung anhand dieser Maßstäbe halten die angegriffenen Entscheidungen nicht stand.

a) Zwar war es verfassungsrechtlich nicht unter allen Umständen geboten, dem Antrag der Beschwerdeführerin nachzukommen und die Gutachter mündlich anzuhören. Die Gerichte hätten aber in irgendeiner Weise auf den Antrag der Beschwerdeführerin eingehen müssen. Daran fehlt es. Beide Gerichte haben sich lediglich mit den sachlichen Einwendungen der Beschwerdeführerin gegen das Gutachten auseinandergesetzt. Daraus ergibt sich aber nicht mehr, als daß die Gerichte diese Einwendungen für unerheblich hielten. Dies reicht als Ablehnungsgrund indessen nicht aus. Dieses Versäumnis wiegt um so schwerer, als das Gutachten des gerichtlich bestellten Sachverständigen im aktienrechtlichen Spruchverfahren wegen der Komplexität des zu begutachtenden Sachverhaltes besonders bedeutsam ist und meist den Prozeßausgang entscheidend beeinflußt.

Aus dem Rechtsgedanken des § 114 GVG ergibt sich nichts anderes. Die Vorschrift berechtigt die Kammer für Handelssachen, ihre eigene Sachkunde an die Stelle eines Sachverständigengutachtens zu setzen (vgl. Wolf, in: Münchener Kommentar zur ZPO, 1992, § 114 GVG Rn. 2; Albers, in: Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, ZPO, 56. Aufl. 1998, § 114 GVG Rn. 1; Gummer, in: Zöller, ZPO, 20. Aufl. 1997, § 114 GVG Rn. 2; Kissel, GVG, 2. Aufl. 1994, § 114 Rn. 1; Thomas/Putzo, ZPO, 20. Aufl. 1997, § 114 GVG). Ob in Fällen, in denen ein solches Gutachten eingeholt worden ist, noch eine Entscheidung aufgrund eigener Sachkunde getroffen werden darf, kann offen bleiben. Denn jedenfalls ist das Landgericht nicht nach § 114 GVG vorgegangen. Das ergibt sich aus dem Fehlen des erforderlichen Hinweises gemäß § 139 ZPO (vgl. Kissel, a.a.O., Rn. 6).

b) Die angegriffenen Entscheidungen beruhen auf dem Grundrechtsverstoß. Es kann nicht ausgeschlossen werden, daß es der Beschwerdeführerin in einer mündlichen Anhörung gelungen wäre, das Gutachten in Frage zu stellen und damit auch die Überzeugung des Gerichts von dessen Richtigkeit zu erschüttern.

 

Unterschriften

Grimm, Hömig, Seidl

 

Fundstellen

Haufe-Index 1276254

DB 1998, 1506

NJW 1998, 2273

NZG 1998, 633

ZIP 1998, 1047

AG 1998, 334

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