Verfahrensgang
Saarländisches OLG (Beschluss vom 09.08.2002; Aktenzeichen 1 Ws 150/02) |
LG Saarbrücken (Beschluss vom 09.07.2002; Aktenzeichen 1 StVK 539/02) |
Tenor
Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen.
Gründe
Der Beschwerdeführer wendet sich mit seiner Verfassungsbeschwerde dagegen, dass über die Erforderlichkeit der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung nach § 67c Abs. 1 StGB ohne vorherige Einholung eines Sachverständigengutachtens entschieden wurde.
Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen, weil ein Annahmegrund nach § 93a Abs. 2 BVerfGG nicht vorliegt (vgl. BVerfGE 90, 22 ≪24 ff.≫). Sie hat keine Aussicht auf Erfolg. Das Grundrecht des Beschwerdeführers aus Art. 2 Abs. 2 GG wird durch die unterbliebene Einholung eines Sachverständigengutachtens nicht verletzt.
1. Die Freiheit der Person darf nur aus besonders gewichtigen Gründen und unter strengen formellen Gewährleistungen eingeschränkt werden (Art. 2 Abs. 2, 104 Abs. 1 GG). Die freiheitssichernde Funktion des Art. 2 Abs. 2 GG erfordert dabei auch im Verfahrensrecht Beachtung. Aus ihr ergeben sich Mindesterfordernisse für eine zuverlässige Wahrheitserforschung. Denn es ist unverzichtbare Voraussetzung eines rechtsstaatlichen Verfahrens, dass Entscheidungen, die den Entzug der persönlichen Freiheit betreffen, auf zureichender richterlicher Sachaufklärung beruhen, die der Bedeutung der Freiheitsgarantie entspricht (vgl. BVerfGE 70, 297 ≪308≫). Indes muss nicht bei jeder Überprüfung der Unterbringung von Verfassungs wegen ein Sachverständigengutachten eingeholt werden. Soweit keine zwingenden gesetzlichen Vorschriften bestehen, hängt es vielmehr von dem sich nach den Umständen des einzelnen Falles bestimmenden pflichtgemäßen Ermessen des Richters ab, in welcher Weise er die so genannte Aussetzungsreife prüft (vgl. BVerfGE 70, 297 ≪309 f.≫). Zwar besteht in der Regel die Pflicht, einen Sachverständigen hinzuzuziehen, wenn es um eine Prognoseentscheidung hinsichtlich solcher Personen geht, bei denen geistige und seelische Anomalien vorliegen, die es erfordern, dass der Richter psychiatrische Sachkunde in Anspruch nehmen muss, weil er über das notwendige Fachwissen für die Bewertung nicht ohne weiteres selbst verfügt. Geht es jedoch nicht um derartige Anomalien und liegen bereits Sachverständigengutachten vor, kann der Richter auch unter Berücksichtigung weiterer Umstände von der Einholung eines erneuten Gutachtens absehen.
2. Nach diesem Maßstab ist die Auffassung der Fachgerichte, der Einholung eines Sachverständigengutachtens habe es im vorliegenden Fall nicht bedurft, verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden.
a) Die Auffassung, nach §§ 463 Abs. 3, 454 Abs. 2 StPO sei für eine Entscheidung nach § 67c Abs. 1 StGB ein Sachverständiger zur Entscheidungsfindung nur zwingend hinzuzuziehen, wenn das Gericht die Aussetzung der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung in Betracht ziehe, entspricht der überwiegenden Meinung zu den Voraussetzungen der Einholung eines Prognosegutachtens gemäß § 454 Abs. 2 StPO bei Reststrafenaussetzungsentscheidungen (vgl. BGH, NStZ 2000, S. 279; OLG Celle, NStZ-RR 1999, S. 179; Meyer-Goßner, StPO, 46. Aufl., § 454 Rn. 37; Fischer, in: Karlsruher Kommentar, StPO, 4. Aufl., § 454 Rn. 12a) und einer verbreiteten Ansicht bei Entscheidungen über die Aussetzung von freiheitsentziehenden Maßregeln (HansOLG Hamburg, ZfStrVo 1999, S. 246 ff.; Thür. OLG, StV 2001, S. 26 f.; KG Berlin, Beschluss vom 2. März 2000 – 1 AR 172/00, 5 Ws 143/00 – ≪juris≫; Stöckel, in: KMR, StPO, § 463 Rn. 11, 12; a. A. OLG Koblenz, StV 1999, S. 496; OLG Celle, NStZ 1999, S. 159; Tröndle/Fischer, StGB, 51. Aufl., § 67c Rn. 4; Krehl, in: Heidelberger Kommentar, StPO, 3. Aufl., § 463 Rn. 4; möglicherweise auch Stree, in: Schönke/Schröder, StGB, 26. Aufl., § 67c Rn. 5). Die Auslegung deckt sich mit dem Wortlaut des § 454 Abs. 2 StPO (“… wenn es erwägt, die Vollstreckung … auszusetzen …”), auf den § 463 Abs. 3 Satz 3 StPO verweist. Der systematische Zusammenhang mit § 463 Abs. 3 Satz 4 StPO, der nur bezogen auf Beschlüsse nach § 67d Abs. 3 StGB und daran anschließender Folgeentscheidungen die Einholung eines Sachverständigengutachtens ausdrücklich als zwingend vorschreibt, spricht gleichfalls für die in den angegriffenen Beschlüssen vertretene Ansicht. Schließlich lässt sich auch den Gesetzesmaterialien zu § 463 Abs. 3 StPO entnehmen, dass eine gesetzliche Verpflichtung zur Einholung eines Sachverständigengutachtens nur für den Fall, dass die Strafvollstreckungskammer eine Maßregelaussetzung zur Bewährung in Betracht zieht, als erforderlich angesehen wurde (vgl. BTDrucks 13/9062, S. 15).
b) Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG gebietet keine andere Auslegung. Das Verhältnis zwischen der Anordnung der Maßregel im Strafurteil und der nach § 67c Abs. 1 StGB zu treffenden Entscheidung ist dahin zu bestimmen, dass die Gefährlichkeitsprognose des erkennenden Gerichts so lange maßgeblich bleibt, bis die Strafvollstreckungskammer unter Berücksichtigung der Entwicklung des Verurteilten im Vollzug darüber entscheidet, ob sie weiter aufrecht zu erhalten ist (vgl. BVerfGE 42, 1 ≪8≫). Demgemäß kann sich das Strafvollstreckungsgericht für das Fortwirken der Gefährlichkeitsprognose auf das vom erkennenden Gericht eingeholte Sachverständigengutachten beziehen und sich damit im Hinblick auf die Frage auseinander setzen, ob die Zeit im Vollzug der Freiheitsstrafe mit den beim Verurteilten eingetretenen Entwicklungen noch zum Vollzug der Sicherungsverwahrung zwingt oder ob vor einer solchen Entscheidung die Einholung eines neuen Gutachtens erforderlich erscheint (Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 15. März 1993 – 2 BvR 2062/92 – ≪juris≫).
c) In den angegriffenen Entscheidungen wurde unter Rückgriff auf das vom erkennenden Gericht eingeholte Sachverständigengutachten nachvollziehbar dargelegt, dass keine Anhaltspunkte für eine grundlegende und nachhaltige Persönlichkeitsentwicklung beim Beschwerdeführer in der seit seiner Verurteilung verstrichenen Zeit sprechen. Gegen die beanstandeten Beschlüsse ist deshalb von Verfassungs wegen nichts zu erinnern.
Von einer weiteren Begründung wird gemäß § 93d Abs. 1 Satz 3 BVerfGG abgesehen.
Diese Entscheidung ist unanfechtbar.
Unterschriften
Hassemer, Osterloh, Mellinghoff
Fundstellen
Haufe-Index 905978 |
NStZ-RR 2003, 251 |
NPA 2003, 0 |