Verfahrensgang
SG Osnabrück (Beschluss vom 15.05.2013; Aktenzeichen S 4 SO 57/13 ER) |
Tenor
Der Beschluss des Sozialgerichts Osnabrück vom 15. Mai 2013 – S 4 SO 57/13 ER – verletzt die Beschwerdeführerin in ihrem Grundrecht aus Artikel 3 Absatz 1 in Verbindung mit Artikel 20 Absatz 3 des Grundgesetzes. Der Beschluss wird aufgehoben. Die Sache wird an das Sozialgericht Osnabrück zurückverwiesen.
Das Land Niedersachsen hat der Beschwerdeführerin die notwendigen Auslagen für das Verfassungsbeschwerdeverfahren zu erstatten.
Der Wert des Gegenstands der anwaltlichen Tätigkeit für das Verfassungsbeschwerdeverfahren wird auf 8.000 EUR (in Worten: achttausend Euro) festgesetzt.
Tatbestand
Gegenstand der Verfassungsbeschwerde ist die Ablehnung der Bewilligung von Prozesskostenhilfe für ein sozialgerichtliches Eilverfahren unter Hinweis auf ein einzusetzendes Hausgrundstück.
I.
1. Die Beschwerdeführerin bezog bis einschließlich Januar 2013 Leistungen nach dem SGB II. Da eine amtsärztliche Untersuchung ergeben hatte, dass sie voraussichtlich länger als sechs Monate arbeitsunfähig sein werde, stellte der Landkreis Osnabrück die weitere Gewährung dieser Leistungen ein.
In einem Schreiben des Landkreises aus dem Jahr 2010 heißt es, nach Vorlage des Bescheids des Gutachterausschusses für Grundstückswerte Osnabrück könne der Beschwerdeführerin mitgeteilt werden, dass ihr Haus im Sinne des SGB II als geschütztes Vermögen zu bewerten sei.
2. Mit Bescheid vom 8. März 2013 lehnte die Stadt D. die Gewährung von Hilfen zum Lebensunterhalt nach dem SGB XII ab. Die Beschwerdeführerin verfüge über ausreichendes Vermögen, um ihren Lebensunterhalt zu bestreiten. Gemäß § 90 Abs. 2 Nr. 8 SGB XII sei ein Hausgrundstück dann geschützt, wenn es selbst bewohnt werde und eine angemessene Größe aufweise. Die Beschwerdeführerin habe angegeben, dass das Haus, in dem sie wohne, eine Wohnfläche von 158 m2 habe. Das Bundessozialgericht halte bei einem Haus, das von einer Person bewohnt werde, eine Wohnfläche von 99 m2 für angemessen.
3. Die Beschwerdeführerin beantragte hierauf beim Sozialgericht Osnabrück den Erlass einer einstweiligen Anordnung und die Bewilligung von Prozesskostenhilfe für das Verfahren.
Nachfolgend schlossen die Beteiligten auf Veranlassung des Gerichts einen Vergleich. Die Zustimmung der Beschwerdeführerin ging beim Gericht am 16. Mai 2013 ein.
4. Mit dem mit der Verfassungsbeschwerde angegriffenen Beschluss vom 15. Mai 2013 lehnte das Sozialgericht Osnabrück den Prozesskostenhilfeantrag ab. Die Beschwerdeführerin könne nach ihren persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen die Kosten der Prozessführung selbst tragen. Nach § 115 Abs. 3 ZPO habe die Partei ihr Vermögen einzusetzen, soweit dies zumutbar sei. § 90 SGB XII gelte entsprechend. Die Beschwerdeführerin sei Eigentümerin eines Einfamilienhauses, das verwertbares Vermögen darstelle. Es handele sich insbesondere nicht um ein angemessenes Hausgrundstück im Sinne von § 90 Abs. 2 Nr. 8 SGB XII, da jedenfalls die Wohnfläche von 158 m2 bei Alleinnutzung durch die Beschwerdeführerin die Angemessenheitsgrenze übersteige.
Entscheidungsgründe
II.
1. Mit ihrer Verfassungsbeschwerde rügt die Beschwerdeführerin eine Verletzung von Art. 3 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG.
Das Sozialgericht verkenne in krasser Weise, dass das angebliche Vermögen – das von ihr bewohnte Haus – der Streitgegenstand des Verfahrens gewesen sei. Es sei in dem Verfahren summarisch zu prüfen gewesen, ob ihr Haus verwertbar sei beziehungsweise ob die Verwertung zumutbar sei. Das Haus sei vom Träger der Grundsicherung für Arbeitsuchende und auch durch den vom Sozialgericht vorgeschlagenen und zustande gekommenen Vergleich zumindest für zwei Jahre von der Verwertung ausgenommen worden. Sie müsse das Haus also nicht für den Bezug von Sozialhilfe einsetzen, aber – zumindest in Form der Belastung – für die entstandenen Anwaltskosten.
2. Das Land Niedersachsen hatte Gelegenheit zur Stellungnahme. Die Akten des Ausgangsverfahrens wurden beigezogen.
III.
Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an und gibt ihr statt. Die Annahme der Verfassungsbeschwerde ist zur Durchsetzung eines in § 90 Abs. 1 BVerfGG genannten Rechts angezeigt (vgl. § 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG). Das Bundesverfassungsgericht hat die für die Beurteilung der Verfassungsbeschwerde maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen bereits geklärt (vgl. BVerfGE 81, 347 ≪356 ff.≫), die zulässige Verfassungsbeschwerde ist offensichtlich begründet (§ 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG). Der Beschluss des Sozialgerichts verletzt die Beschwerdeführerin in ihrem Grundrecht aus Art. 3 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG.
1. Das Grundgesetz gebietet eine weitgehende Angleichung der Situation von Bemittelten und Unbemittelten bei der Verwirklichung des Rechtsschutzes (vgl. BVerfGE 81, 347 ≪356 f.≫ m.w.N.). Dies ergibt sich aus Art. 3 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsgrundsatz, der in Art. 20 Abs. 3 GG allgemein niedergelegt ist und für den Rechtsschutz gegen Akte der öffentlichen Gewalt in Art. 19 Abs. 4 GG seinen besonderen Ausdruck findet. Daher ist es geboten, Vorkehrungen zu treffen, die auch Unbemittelten einen weitgehend gleichen Zugang zu Gericht ermöglichen. Art. 3 Abs. 1 GG stellt die Beachtung dieses Gebotes der Rechtsschutzgleichheit unter grundrechtlichen Schutz.
Derartige Vorkehrungen sind im Institut der Prozesskostenhilfe (§§ 114 ff. ZPO) getroffen (vgl. BVerfGE 81, 347 ≪357≫). Es ist verfassungsrechtlich unbedenklich, die Gewährung von Prozesskostenhilfe davon abhängig zu machen, dass die beabsichtigte Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung hinreichende Aussicht auf Erfolg hat und nicht mutwillig erscheint. Die Prüfung der Erfolgsaussicht soll jedoch nicht dazu dienen, die Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung selbst in das Nebenverfahren der Prozesskostenhilfe vorzuverlagern und dieses an die Stelle des Hauptsacheverfahrens treten zu lassen. Das Prozesskostenhilfeverfahren will den Rechtsschutz, den der Rechtsstaatsgrundsatz erfordert, nicht selbst bieten, sondern zugänglich machen. Dem genügt das Gesetz, indem es die Gewährung von Prozesskostenhilfe bereits dann vorsieht, wenn nur hinreichende Erfolgsaussichten für den beabsichtigten Rechtsstreit bestehen, ohne dass der Prozesserfolg schon gewiss sein muss (vgl. nunmehr § 114 Abs. 1 Satz 1 ZPO). Dies bedeutet zugleich, dass Prozesskostenhilfe verweigert werden darf, wenn ein Erfolg in der Hauptsache zwar nicht schlechthin ausgeschlossen, die Erfolgschance aber nur eine entfernte ist.
Die Auslegung und Anwendung des § 114 ZPO obliegt in erster Linie den zuständigen Fachgerichten, die dabei den – verfassungsgebotenen – Zweck der Prozesskostenhilfe zu beachten haben (vgl. BVerfGE 81, 347 ≪357 f.≫). Das Bundesverfassungsgericht kann hier nur eingreifen, wenn Verfassungsrecht verletzt ist, insbesondere wenn die angegriffene Entscheidung Fehler erkennen lässt, die auf einer grundsätzlich unrichtigen Anschauung von der Bedeutung der in Art. 3 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG verbürgten Rechtsschutzgleichheit beruhen. Hierbei hat es zu berücksichtigen, dass die Beurteilung der Erfolgsaussichten einer Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung in engem Zusammenhang mit der den Fachgerichten vorbehaltenen Feststellung und Würdigung des jeweils entscheidungserheblichen Sachverhalts und der ihnen gleichfalls obliegenden Auslegung und Anwendung des jeweils einschlägigen materiellen und prozessualen Rechts steht. Die Fachgerichte überschreiten den Entscheidungsspielraum, der ihnen bei der Auslegung des gesetzlichen Tatbestandsmerkmals der hinreichenden Erfolgsaussicht verfassungsrechtlich zukommt, erst dann, wenn sie einen Auslegungsmaßstab verwenden, durch den einer unbemittelten Partei im Vergleich zur bemittelten die Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung unverhältnismäßig erschwert wird. Das ist namentlich dann der Fall, wenn das Fachgericht die Anforderungen an die Erfolgsaussicht der beabsichtigten Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung überspannt und dadurch der Zweck der Prozesskostenhilfe, Unbemittelten den weitgehend gleichen Zugang zu Gericht zu ermöglichen, deutlich verfehlt wird.
Diese Grundsätze gelten entsprechend, wenn es um die Anforderungen an die Darlegung beziehungsweise Feststellung der Bedürftigkeit von Antragstellern als weitere, in § 114 Abs. 1 Satz 1 ZPO (beziehungsweise § 114 Satz 1 ZPO in der bis einschließlich 31. Dezember 2013 geltenden, für die angegriffene Entscheidung maßgeblichen Fassung) geregelte Voraussetzung für die Bewilligung von Prozesskostenhilfe geht (vgl. BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 13. Dezember 2007 – 1 BvR 2007/07 –, juris Rn. 19).
2. Diese Anforderungen hat das Sozialgericht offensichtlich nicht beachtet.
a) Wird in einem (sozialgerichtlichen) Hauptsacheverfahren um die Frage gestritten, ob ein Hausgrundstück zum einzusetzenden Vermögen im Sinne des § 90 Abs. 2 Nr. 8 SGB XII gehört, so ist bei der Prüfung, ob Prozesskostenhilfe für das Hauptsacheverfahren bewilligt werden kann, davon auszugehen, dass das Grundstück nicht nach § 73a Abs. 1 Satz 1 SGG in Verbindung mit § 115 Abs. 3 ZPO, dieser wiederum in Verbindung mit § 90 Abs. 2 Nr. 8 SGB XII einzusetzen ist (vgl. Hessisches Landessozialgericht, Beschluss vom 18. Juli 2007 – L 7 B 40/07 SO –, juris Rn. 15; Landessozialgericht für das Land Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 4. Februar 2009 – L 7 B 387/08 AS –, juris Rn. 4; auch Leitherer, in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 10. Aufl. 2012, § 73a Rn. 6e).
b) Diese Auffassung ist auch aus verfassungsrechtlicher Sicht geboten, da nur so der weitgehend gleiche Zugang zu Gericht gewährleistet werden kann. Wäre über den „doppeltrelevanten Umstand” des Vermögenseinsatzes schon im Rahmen der Bewilligung von Prozesskostenhilfe zu entscheiden, würde damit die Rechtsschutzgewährung aus dem Hauptsacheverfahren in das Nebenverfahren der Prozesskostenhilfe vorverlagert. Anderes gilt auch nicht in den Fällen, in denen die Erfolgsaussichten in der Hauptsache nur entfernte sind; in diesen Fällen kann das Gericht das Versagen von Prozesskostenhilfe an den fehlenden hinreichenden Erfolgsaussichten festmachen.
c) Im vorliegenden Fall hat das Sozialgericht die Frage, ob das Grundstück zur Finanzierung des Prozesses einzusetzen ist, im Verfahren der Prozesskostenhilfe einfach durchentschieden. Dies ist umso erstaunlicher, als dem Sozialgericht bekannt war, dass das Grundstück vom Landkreis Osnabrück im Hinblick auf die Bewilligung von Leistungen nach dem SGB II als nicht zu berücksichtigendes Vermögen (vgl. § 12 Abs. 3 Satz 1 Nr. 4 SGB II) eingestuft worden war.
d) Die Entscheidung des Sozialgerichts beruht auch auf dem Verfassungsverstoß. Es kann insbesondere nicht angenommen werden, dass die Frage des Einsatzes des Grundstücks im Rahmen der Hauptsache derart eindeutig zulasten der Beschwerdeführerin beantwortet werden kann, dass Prozesskostenhilfe mangels hinreichender Aussichten auf Erfolg versagt werden konnte.
3. Die Entscheidung über die Auslagenerstattung ergibt sich aus § 34a Abs. 2 BVerfGG.
Die Festsetzung des Gegenstandswerts beruht auf § 37 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit § 14 Abs. 1 RVG (vgl. BVerfGE 79, 365 ≪366 ff.≫). Die Festsetzung hat hier noch ausgehend von dem Mindestgegenstandswert in Höhe von 4.000 Euro (§ 37 Abs. 2 Satz 2 RVG in der bis einschließlich 31. Juli 2013 geltenden Fassung) zu erfolgen (vgl. § 60 Abs. 1 RVG). Es ist nicht erkennbar, dass die Beschwerdeführerin ein über den festgesetzten Betrag hinausgehendes Interesse hat.
Unterschriften
Kirchhof, Eichberger, Britz
Fundstellen
Haufe-Index 6556721 |
NJW 2014, 1291 |
AnwBl 2014, 456 |
NZS 2014, 336 |
ZfSH/SGB 2014, 344 |
AiSR 2014, 109 |
info-also 2014, 177 |