Verfahrensgang
OLG Nürnberg (Beschluss vom 31.08.2010; Aktenzeichen 8 U 823/10) |
Tenor
1. Der Beschluss des Oberlandesgerichts Nürnberg vom 31. August 2010 – 8 U 823/10 – verletzt den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 2 Absatz 1 in Verbindung mit Artikel 20 Absatz 3 des Grundgesetzes.
Er wird aufgehoben. Die Sache wird an das Oberlandesgericht Nürnberg zurückverwiesen.
2. Der Freistaat Bayern hat dem Beschwerdeführer seine notwendigen Auslagen zu erstatten.
3. Der Wert des Gegenstands der anwaltlichen Tätigkeit für das Verfassungsbeschwerdeverfahren wird auf 20.000 EUR (in Worten: zwanzigtausend Euro) festgesetzt.
Tatbestand
I.
Die Verfassungsbeschwerde betrifft eine zivilrechtliche Auseinandersetzung über die Rückzahlung von Versicherungsprämien wegen angeblicher Unwirksamkeit des Versicherungsvertrages. Sie beanstandet das Unterlassen einer Vorlage an den Gerichtshof der Europäischen Union durch das Oberlandesgericht.
1. Der Beschwerdeführer schloss im Wege des sogenannten „Policenmodells” einen Versicherungsvertrag ab. Dieses in § 5a des Gesetzes über den Versicherungsvertrag im Geltungszeitraum vom 29. Juli 1994 bis 31. Dezember 2007 (im Folgenden: VVG a.F.) geregelte Verfahren war dadurch gekennzeichnet, dass der potenzielle Versicherungsnehmer (im Folgenden: Versicherungsnehmer) zunächst das von ihm unterzeichnete Antragsformular auf Abschluss des Versicherungsvertrages an den Versicherer übermittelte und dieser dem Versicherungsnehmer die Allgemeinen Versicherungsbedingungen und eine Verbraucherinformation nach § 10a des Versicherungsaufsichtsgesetzes in seiner vor dem 1. Januar 2008 geltenden Fassung (im Folgenden: VAG a.F.) erst zusammen mit der Versicherungspolice zukommen ließ. Widersprach der Versicherungsnehmer nicht binnen 14 Tagen (bei Lebensversicherungen zuletzt binnen 30 Tagen) nach Überlassung der Unterlagen schriftlich, so galt der Vertrag auf Grundlage der Allgemeinen Versicherungsbedingungen und der weiteren für den Vertragsinhalt maßgeblichen Verbraucherinformationen als abgeschlossen (§ 5a Abs. 1 Satz 1 VVG a.F.). In dem Antrag des Versicherungsnehmers war das Vertragsangebot, in der nachfolgenden Übersendung der Vertragsunterlagen die Annahme durch den Versicherer zu sehen. Außerdem setzte der wirksame Vertragsschluss das Unterbleiben des Widerspruchs innerhalb der 14-tägigen (bzw. 30-tägigen) Widerspruchsfrist voraus; bis zu diesem Zeitpunkt war der Versicherungsvertrag nach herrschender Meinung schwebend unwirksam (vgl. BGH, Urteil vom 24. November 2010 – IV ZR 252/08 –, VersR 2011, S. 337 ≪338≫ Rn. 22 m.w.N.). Die Widerspruchsfrist begann nach dieser Regelung erst dann zu laufen, wenn der Versicherungsnehmer mit Aushändigung der Versicherungspolice über sein Widerspruchsrecht belehrt worden war; abweichend hiervon erlosch das Widerspruchsrecht – auch bei fehlender Belehrung – nach § 5a Abs. 2 Satz 4 VVG a.F. spätestens ein Jahr nach Zahlung der ersten Prämie.
2. Der Beschwerdeführer beantragte im Februar 2002 bei dem von ihm im Ausgangsverfahren verklagten Versicherer den Abschluss einer fondsgebundenen Rentenversicherung. Die Versicherungsbedingungen, die Verbraucherinformation sowie eine Belehrung über das Widerspruchsrecht übersandte der Versicherer noch im selben Monat zusammen mit der Versicherungspolice. Im Jahr 2008 widersprach der Beschwerdeführer dem Versicherungsvertrag und nahm den Versicherer unter anderem auf Rückzahlung der bis dahin entrichteten Prämien in Höhe von rund 2.960 EUR zuzüglich Zinsen in Anspruch.
Das Landgericht wies die Klage ab, weil der Versicherungsvertrag nach § 5a Abs. 1 Satz 1 VVG a.F. in der Fassung des Gesetzes zur Anpassung der Formvorschriften des Privatrechts und anderer Vorschriften an den modernen Rechtsgeschäftsverkehr vom 13. Juli 2001 (BGBl I S. 1542) wirksam zustande gekommen und daher die Zahlung der Prämien mit Rechtsgrund erfolgt sei. Der Beschwerdeführer habe seinen Widerspruch erst nach Ablauf der gemäß § 5a Abs. 1 Satz 1 VVG a.F. wirksam in Gang gesetzten Widerspruchsfrist erklärt, weshalb der Widerspruch verfristet sei.
Die hiergegen gerichtete Berufung des Beschwerdeführers wies das Oberlandesgericht nach entsprechendem Hinweis mit Beschluss gemäß § 522 Abs. 2 ZPO in der vor dem 27. Oktober 2011 geltenden Fassung (im Folgenden: ZPO a.F.) zurück. Die auf den Ausgangsfall anzuwendende Vorschrift des § 5a Abs. 1 Satz 1 VVG a.F. verstoße nicht gegen Unionsrecht. Dies könne so auch der im Vertragsverletzungsverfahren (Nr. 2005/5046) gegen die Bundesrepublik Deutschland abgegebenen Stellungnahme der Europäischen Kommission vom 12. Oktober 2006 entnommen werden. Im Übrigen sei die vom Beschwerdeführer herangezogene Richtlinie 2002/83/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 5. November 2002 über Lebensversicherungen (ABl. EG Nr. L 345, S. 1-51 vom 19. Dezember 2002) nicht einschlägig, weil der Versicherungsvertrag bereits vor deren Inkrafttreten zustande gekommen sei. Auch die ständige Rechtsprechung der Oberlandesgerichte sehe in der Regelung des § 5a VVG a.F. keine Unionsrechtswidrigkeit. Die Frage des Nichtvorliegens der Unionsrechtswidrigkeit könne – wie bereits mehrfach geschehen – durch die Oberlandesgerichte entschieden werden, ohne dass es einer Vorlage an den Gerichtshof der Europäischen Union bedürfe.
Entscheidungsgründe
II.
Der Beschwerdeführer wendet sich mit seiner Verfassungsbeschwerde gegen die Zurückweisung seiner Berufung durch das Oberlandesgericht. Er rügt eine Verletzung seiner verfassungsmäßigen Rechte aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG und aus Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG.
Indem das Berufungsgericht davon abgesehen habe, sich zur unionsrechtlichen Rechtslage hinreichend kundig zu machen und es seine Vorlagepflicht an den Gerichtshof der Europäischen Union nach Art. 267 Abs. 3 AEUV mit einer offenkundig nicht tragfähigen Begründung verneint habe, habe es im Zusammenhang mit § 522 Abs. 2 Satz 1 ZPO a.F. den allgemeinen Justizgewährungsanspruch (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG) und damit auch das Recht auf den gesetzlichen Richter (Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG) verletzt. Als letztinstanzlich entscheidendes Gericht sei das Berufungsgericht verpflichtet gewesen, die Frage, ob die Regelung des § 5a VVG a.F. (sog. „Policenmodell”) den Vorgaben der Richtlinie 92/96/EWG des Rates vom 10. November 1992 zur Koordinierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften für die Direktversicherung (Lebensversicherung) sowie zur Änderung der Richtlinien 79/267/EWG und 90/619/EWG (Dritte Richtlinie Lebensversicherung; ABl. EG Nr. L 360, S. 1-27 vom 9. Dezember 1992) entspreche, gemäß Art. 267 Abs. 3 AEUV dem Gerichtshof der Europäischen Union zur Entscheidung vorzulegen.
Die Auslegung der einschlägigen Richtlinienbestimmungen, nach denen dem Versicherungsnehmer die Informationen „vor Abschluss des Versicherungsvertrages” mitzuteilen seien, sei keinesfalls zweifelsfrei. Nach dem Ziel der Richtlinie müssten dem Versicherungsnehmer die Informationen bereits vorliegen, bevor er eine Auswahlentscheidung treffe und er seine auf den Vertragsschluss gerichtete Willenserklärung abgebe. Dem damit verfolgten Zweck, dem Versicherungsnehmer die Auswahl eines seinen Bedürfnissen am besten entsprechenden Angebots zu ermöglichen, werde § 5a VVG a.F. nicht gerecht, weil hiernach Versicherer ihre vorvertraglichen Informationspflichten erst nach der Auswahlentscheidung des Versicherungsnehmers erfüllen müssten. Daran ändere auch die Einräumung eines Widerspruchsrechts nichts, weil dem Versicherungsnehmer die Widerspruchslast aufgebürdet werde, was einer effektiven Durchsetzung der vorvertraglichen Informationspflichten widerspreche.
Das Berufungsgericht sei in der angegriffenen Entscheidung seiner Vorlagepflicht willkürlich nicht nachgekommen. Es habe sich weder mit der Unionsrechtswidrigkeit des § 5a Abs. 1 VVG a.F. noch mit der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union befasst. Zudem erweise sich die Interpretation der Stellungnahme der Europäischen Kommission durch das Berufungsgericht als ebenso unhaltbar wie die der pauschal in Bezug genommenen anderen oberlandesgerichtlichen Entscheidungen.
III.
Die Verfassungsbeschwerde ist dem Bayerischen Staatsministerium der Justiz und für Verbraucherschutz sowie dem im Ausgangsverfahren beklagten Versicherer zugestellt worden.
Der Bundesgerichtshof, der Deutsche Versicherungs-Schutzverband e.V. (DVS), der Bund versicherter Unternehmer e.V. (BvU), der Gesamtverband der Deutschen Versicherungswirtschaft e.V. (GDV), die Gesellschaft für Versicherungswissenschaft und -gestaltung e.V. (GVG) und der Bund der Versicherten e.V. (BdV) wurden in einem Parallelverfahren (1 BvR 2771/11) um die Abgabe einer Stellungnahme gebeten. Diese Äußerungen sind den Beteiligten des Ausgangsverfahrens zur Kenntnis gegeben worden. Die Akten des Ausgangsverfahrens liegen der Kammer vor.
1. Das Bayerische Staatsministerium der Justiz und für Verbraucherschutz, der Deutsche Versicherungs-Schutzverband e.V. (DVS), der Bund versicherter Unternehmer e.V. (BvU) und die Gesellschaft für Versicherungswissenschaft und -gestaltung e.V. (GVG) haben von einer Äußerung abgesehen.
2. Der von der Ausgangsentscheidung begünstigte Versicherer hat zu der Verfassungsbeschwerde Stellung genommen und die angegriffene Entscheidung verteidigt. Das Berufungsgericht habe eine hinreichende Begründung gegeben, die die Unionsrechtskonformität der gesamten Regelung des § 5a VVG a.F. trage und zudem erkennen lasse, dass das Berufungsgericht keine Zweifel an der Beantwortung der Frage nach der Unionsrechtskonformität des „Policenmodells” gehabt habe. Der Verweis auf die herrschende obergerichtliche Rechtsprechung spreche überdies – für sich genommen – dagegen, dass das Berufungsgericht den Zugang zur Rechtskontrolle unzumutbar verwehrt habe.
3. Der Präsident des Bundesgerichtshofs hat in dem Parallelverfahren eine Stellungnahme des stellvertretenden Vorsitzenden des IV. Zivilsenats übermittelt. Dieser hat mitgeteilt, der IV. Zivilsenat sei mit den im Verfassungsbeschwerdeverfahren aufgeworfenen Rechtsfragen bereits mehrmals befasst gewesen. Eine Vorlage in Bezug auf die Richtlinienkonformität des „Policenmodells” (§ 5a Abs. 1 Satz 1 VVG a.F.) sei bislang nicht vorgesehen gewesen, sondern nur eine Vorlage zur Richtlinienkonformität der Regelung des § 5a Abs. 2 Satz 4 VVG a.F.
4. Der Gesamtverband der Deutschen Versicherungswirtschaft e.V. (GDV) hat ausgeführt, die Unionsrechtskonformität der Regelung des § 5a VVG a.F. entspreche dem von der herrschenden Meinung in Rechtsprechung und Schrifttum vertretenen und zutreffenden Standpunkt. Es sei daher verfassungsrechtlich unbedenklich, wenn ein letztinstanzliches Gericht, das mit der herrschenden Meinung keine Zweifel an der Unionsrechtskonformität des § 5a VVG a.F. habe, von einer Vorlage der Rechtsfrage an den Gerichtshof der Europäischen Union absehe.
5. Der Bund der Versicherten e.V. (BdV) hat zu der Verfassungsbeschwerde in dem genannten Parallelverfahren Stellung genommen und teilt deren Standpunkt. Die dort angegriffene Entscheidung, die exemplarisch für die Entscheidungen vieler Berufungsgerichte sei, lasse eine unhaltbare Handhabung des Art. 267 Abs. 3 AEUV durch das Berufungsgericht erkennen.
IV.
Die zulässige Verfassungsbeschwerde ist zur Entscheidung anzunehmen. Ihr ist durch die Kammer stattzugeben, weil sie unter Berücksichtigung der bereits hinreichend geklärten Maßstäbe zu Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG offensichtlich begründet ist (§ 93c Abs. 1 Satz 1 i.V.m. § 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG).
1. Der Beschluss des Oberlandesgerichts über die Zurückweisung der Berufung nach § 522 Abs. 2 ZPO a.F. verletzt den Beschwerdeführer in seinem Recht auf Gewährung effektiven Rechtsschutzes (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG). Die Annahme des Berufungsgerichts, eine Entscheidung durch Urteil sei nicht erforderlich, weil der Sache keine grundsätzliche Bedeutung (§ 522 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 ZPO a.F.) zukomme, ist nicht nachvollziehbar.
a) aa) Der aus dem Rechtsstaatsprinzip in Verbindung mit den Grundrechten, insbesondere Art. 2 Abs. 1 GG, abzuleitende Justizgewährungsanspruch gewährleistet nicht nur den Zugang zu den Gerichten sowie eine verbindliche Entscheidung durch den Richter aufgrund einer grundsätzlich umfassenden tatsächlichen und rechtlichen Prüfung des Streitgegenstandes (vgl. BVerfGE 97, 169 ≪185≫; 107, 395 ≪401≫; 108, 341 ≪347≫). Das Gebot effektiven Rechtsschutzes beeinflusst auch die Auslegung und Anwendung der Bestimmungen, die für die Eröffnung eines Rechtswegs und die Beschreitung eines Instanzenzugs von Bedeutung sind. Es begründet zwar keinen Anspruch auf eine weitere Instanz; die Entscheidung über den Umfang des Rechtsmittelzugs bleibt vielmehr dem Gesetzgeber überlassen (vgl. BVerfGE 54, 277 ≪291≫; 89, 381 ≪390≫; 107, 395 ≪401 f.≫). Hat der Gesetzgeber sich jedoch für die Eröffnung einer weiteren Instanz entschieden und sieht die betreffende Prozessordnung dementsprechend ein Rechtsmittel vor, so darf der Zugang dazu nicht in unzumutbarer, aus Sachgründen nicht mehr zu rechtfertigender Weise erschwert werden (vgl. BVerfGE 77, 275 ≪284≫; 78, 88 ≪99≫; 88, 118 ≪124≫). Das Rechtsmittelgericht darf ein von der jeweiligen Prozessordnung eröffnetes Rechtsmittel daher nicht ineffektiv machen und für den Beschwerdeführer leerlaufen lassen (vgl. BVerfGE 78, 88 ≪98 f.≫; 96, 27 ≪39≫).
Lässt ein Fachgericht ein zulassungsbedürftiges Rechtsmittel nicht zu, müssen die Entscheidungsgründe das Bundesverfassungsgericht in die Lage versetzen zu überprüfen, ob das Gericht dabei ein von der jeweiligen Rechtsordnung grundsätzlich eröffnetes Rechtsmittel ineffektiv gemacht hat (vgl. BVerfGE 104, 220 ≪231 f.≫; BVerfGK 19, 364 ≪367≫). Darin liegt kein Widerspruch zu dem Grundsatz, dass letztinstanzliche Entscheidungen von Verfassungs wegen nicht begründet werden müssen (vgl. BVerfGE 50, 287 ≪289 f.≫; 104, 1 ≪7 f.≫; BVerfGK 19, 364 ≪367≫). Die Begründungsobliegenheit folgt in dieser Konstellation im Zivilprozess aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG. Denn ein Berufungsgericht, das die Revision nicht zulässt, entscheidet, falls die Nichtzulassungsbeschwerde nicht eröffnet ist, unanfechtbar über die Erreichbarkeit von höherinstanzlichem Rechtsschutz im konkreten Fall. Unterlässt das Fachgericht eine nachvollziehbare Begründung seiner Nichtzulassungsentscheidung und erhellt sich diese auch nicht aus dem Zusammenhang, kommt eine Aufhebung durch das Bundesverfassungsgericht dann in Betracht, wenn die Zulassung des Rechtsmittels nahegelegen hätte (vgl. BVerfGK 17, 533 ≪544≫ m.w.N. [zur Vorlagepflicht gemäß Art. 267 AEUV]; 19, 364 ≪367≫).
bb) Diese Grundsätze finden auch auf den einstimmigen Beschluss des Berufungsgerichts über die Zurückweisung der Berufung nach § 522 Abs. 2 Satz 1 ZPO a.F. Anwendung, da er gemäß § 522 Abs. 3 ZPO a.F. nicht anfechtbar war und damit den Weg zur Revision versperrte. Mit dem Gebot effektiven Rechtsschutzes unvereinbar sind eine den Zugang zur Revision erschwerende Auslegung und Anwendung des § 522 Abs. 2 Satz 1 ZPO a.F. mithin dann, wenn sie sachlich nicht zu rechtfertigen sind, sich mithin als objektiv willkürlich erweisen und dadurch den Zugang zur nächsten Instanz unzumutbar einschränken (vgl. BVerfGK 15, 127 ≪131≫; 17, 196 ≪199 f.≫; BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 4. November 2008 – 1 BvR 2587/06 –, NJW 2009, S. 572 ≪573≫ Rn. 17 m.w.N.).
(1) Nach § 522 Abs. 2 Satz 1 ZPO a.F. weist das Berufungsgericht die Berufung unverzüglich zurück, wenn es unter anderem davon überzeugt ist, dass die Rechtssache keine grundsätzliche Bedeutung (Nr. 2) hat.
Grundsätzliche Bedeutung, die gegebenenfalls gemäß § 522 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 ZPO a.F. einer Entscheidung des Berufungsgerichts im Beschlusswege entgegensteht, kommt einer Sache zu, wenn sie eine entscheidungserhebliche, klärungsfähige und klärungsbedürftige Rechtsfrage aufwirft, die sich in einer unbestimmten Vielzahl weiterer Fälle stellen kann und deshalb das abstrakte Interesse der Allgemeinheit an der einheitlichen Entwicklung und Handhabung des Rechts berührt (vgl. zu § 543 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 ZPO: BGHZ 151, 221 ≪223≫; 152, 182 ≪190 ff.≫; 154, 288 ≪291≫; BGH, Beschluss vom 8. Februar 2010 – II ZR 54/09 –, WM 2010, S. 936 ≪937≫ Rn. 3; BVerfGK 17, 196 ≪200≫).
Stellt sich eine entscheidungserhebliche und der einheitlichen Auslegung bedürfende Frage des Unionsrechts, ist bereits mit der sich voraussichtlich in einem künftigen Revisionsverfahren ergebenden Notwendigkeit eines Vorabentscheidungsersuchens an den Gerichtshof der Europäischen Union der Zulassungsgrund der „grundsätzlichen Bedeutung” im Sinne von § 522 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 ZPO a.F. (bzw. § 543 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 ZPO) gegeben (vgl. für das verwaltungsgerichtliche Verfahren: BVerfGE 82, 159 ≪196≫; für das finanzgerichtliche Verfahren: BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 22. Dezember 1992 – 2 BvR 557/88 –, NVwZ 1993, S. 883 ≪883 f.≫; für das zivilgerichtliche Verfahren: BVerfGK 13, 418 ≪425≫; 19, 197 ≪204≫; BGH, Beschluss vom 16. Januar 2003 – I ZR 130/02 –, LRE 46, S. 279 f.; Krüger, in: Münchener Kommentar zur ZPO, 4. Aufl. 2012, § 543 Rn. 6).
(2) Die Entscheidung des Berufungsgerichts, die Berufung gemäß § 522 Abs. 2 ZPO a.F. durch Beschluss zurückzuweisen, und die ihr zugrunde liegende Annahme, dass sich eine entscheidungserhebliche, einen Zulassungsgrund im Sinne des § 522 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2, 3 ZPO a.F. (bzw. § 543 Abs. 2 Satz 1 ZPO) bedingende Frage des Unionsrechts nicht stelle, sind an den vom Bundesverfassungsgericht (in BVerfGE 73, 339 ≪366 ff.≫; 82, 159 ≪192 ff.≫; 126, 286 ≪315 f.≫; 129, 78 ≪105 ff.≫; zuletzt BVerfG, Urteil des Zweiten Senats vom 28. Januar 2014 – 2 BvR 1561, 1562, 1563, 1564/12 –, juris Rn. 176 ff.) für die Handhabung des Art. 267 Abs. 3 AEUV herausgearbeiteten verfassungsrechtlichen Kontrollmaßstäben zu messen (vgl. für die Zurückweisung einer Nichtzulassungsbeschwerde durch das Revisionsgericht: BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 22. Dezember 1992 – 2 BvR 557/88 –, NVwZ 1993, S. 883 ≪884≫).
(a) Das Berufungsgericht, das die Voraussetzungen des § 522 Abs. 2 Satz 1 ZPO a.F. für gegeben erachtet, eröffnet sich den Weg der Berufungszurückweisung durch Beschluss und wird damit zugleich, weil der Beschluss nach § 522 Abs. 3 ZPO a.F. der Anfechtung entzogen ist, zum letztinstanzlichen Gericht und damit zum Adressaten der in Art. 267 Abs. 3 AEUV geregelten Vorlageverpflichtung. Da in einem solchen Fall die Bejahung des Anwendungsbereichs von § 522 Abs. 2 Satz 1 ZPO a.F. durch das Berufungsgericht zwangsläufig die Entscheidung dieses Gerichts einschließt, die ihm angetragene Frage des Unionsrechts nicht dem Gerichtshof der Europäischen Union vorzulegen, bedarf es der Rückbeziehung der Maßstäbe, die für die Handhabung des Art. 267 Abs. 3 AEUV gelten, auf die Auslegung und Anwendung der Anwendungsvoraussetzungen des § 522 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2, 3 ZPO a.F. (so für die vergleichbare Zurückweisung einer Nichtzulassungsbeschwerde durch das Revisionsgericht: BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 22. Dezember 1992 – 2 BvR 557/88 –, NVwZ 1993, S. 883 ≪884≫ [zu § 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO]; ferner BVerfGK 19, 364 ≪367≫ [zu § 543 Abs. 2 Satz 1 ZPO]).
(b) Nach dieser Maßgabe wird – bezogen auf die Anwendung von § 522 Abs. 2 Satz 1 ZPO a.F. – ein letztinstanzliches nationales Gericht, das mit einer Frage des Unionsrechts befasst wird und die in § 522 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2, 3 ZPO a.F. genannten Zulassungsgründe verneint, dem Justizgewährungsanspruch in der Regel nur dann gerecht, wenn es entweder festgestellt hat, dass die gestellte Frage nicht entscheidungserheblich ist, oder wenn es nach Auswertung der entscheidungserheblichen Bestimmungen des Unionsrechts eine vertretbare Begründung dafür gibt, dass die maßgebliche Rechtsfrage durch den Gerichtshof der Europäischen Union bereits entschieden ist oder dass die richtige Antwort auf diese Rechtsfrage derart offenkundig ist, dass für einen vernünftigen Zweifel keinerlei Raum bleibt.
Umgekehrt wird die sich stellende entscheidungserhebliche Frage des Unionsrechts dann nicht in zumindest vertretbarer Weise beantwortet, wenn das nationale Gericht eine eigene Lösung entwickelt, die nicht auf die bestehende Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union zurückgeführt werden kann und auch nicht einer eindeutigen Rechtslage entspricht. Dann erscheint die Verneinung der sich voraussichtlich in einem etwaigen Revisionsverfahren ergebenden – und einen Zulassungsgrund im Sinne von § 522 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2, 3 ZPO a.F. (bzw. § 543 Abs. 2 Satz 1 ZPO) begründenden – Notwendigkeit eines Vorabentscheidungsersuchens nicht mehr verständlich und ist offensichtlich unhaltbar.
b) So liegt der Fall hier. Die Begründung des Berufungsgerichts für seine Annahme, eine Entscheidung durch Urteil sei nicht erforderlich, weil der Sache keine grundsätzliche Bedeutung (§ 522 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 ZPO a.F.) zukomme, ist nicht nachvollziehbar und nicht haltbar.
aa) Das Berufungsgericht hat seine Entscheidung in materiellrechtlicher Hinsicht auch darauf gestützt, dass die Regelung des § 5 Abs. 1 Satz 1 VVG a.F. nicht gegen Unionsrecht verstoße. Es hat damit für diese hier erhebliche Rechtsfrage einen allgemeinen Rechtssatz aufgestellt, der in einer unbestimmten Vielzahl weiterer Fälle Bedeutung erlangen kann und deshalb das Interesse der Allgemeinheit an der einheitlichen Entwicklung und Handhabung des Rechts berührt.
bb) Die der Sache nach dokumentierte Annahme des Berufungsgerichts, diese – als Bundesrecht revisible und damit klärungsfähige – Rechtsfrage sei offenkundig im Sinne eines „acte clair” und daher nicht klärungsbedürftig, entbehrt einer nachvollziehbaren, verfassungsrechtlich tragfähigen Begründung. Denn eine vertretbare andere Ansicht zu der vom Berufungsgericht – nicht aber höchstrichterlich – entschiedenen Frage des Unionsrechts erscheint auf Grundlage der hier maßgebenden Richtlinie keinesfalls als ausgeschlossen oder auch nur fernliegend.
(1) Der Klärungsbedürftigkeit steht der Umstand, dass § 5a VVG a.F. mit Wirkung zum 1. Januar 2008 außer Kraft getreten ist, nicht entgegen. Zwar entfällt der Klärungsbedarf, wenn einer Rechtsfrage wegen einer Rechtsänderung für die Zukunft keine Bedeutung mehr zukommt (BVerfGK 15, 127 ≪131≫). Indes bleibt § 5a VVG a.F. für das Zustandekommen der Versicherungsverträge maßgeblich, die in seinem Geltungszeitraum vom 29. Juli 1994 bis zum 31. Dezember 2007 in einer Vielzahl von Fällen nach dem – von den meisten Versicherern bevorzugten – „Policenmodell” abgeschlossen wurden (Art. 1 EGVVG; vgl. ferner Armbrüster, in: Prölss/Martin, Versicherungsvertragsgesetz, 28. Aufl. 2010, EGVVG § 1 Rn. 9; Ebers, in: Schwintowski/Brömmelmeyer, Praxiskommentar zum Versicherungsvertragsgesetz, 2. Aufl. 2011, VVG § 8 Rn. 6, 10). Hieraus ergibt sich zugleich die vom Berufungsgericht angenommene und vom Bundesverfassungsgericht zu unterstellende Entscheidungserheblichkeit der Rechtsfrage für den im Ausgangsverfahren zu beurteilenden Versicherungsvertrag.
(2) Der Gerichtshof der Europäischen Union hat die Frage der Richtlinienkonformität des sogenannten „Policenmodells” (§ 5a Abs. 1 VVG a.F.) bisher nicht beantwortet.
Der Gerichtshof der Europäischen Union ist – nach der Entscheidung des Berufungsgerichts – zwar mit der Frage nach der Vereinbarkeit einer nationalen Regelung mit dem Inhalt des § 5a Abs. 2 Satz 4 VVG a.F. (Erlöschen des Rücktrittsrechts spätestens ein Jahr nach Zahlung der ersten Prämie auch bei fehlender Belehrung über das Rücktrittsrecht) mit Art. 15 Abs. 1 der Zweiten Richtlinie 90/619/EWG des Rates vom 8. November 1990 zur Koordinierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften für die Direktversicherung (Lebensversicherung) und zur Erleichterung der tatsächlichen Ausübung des freien Dienstleistungsverkehrs sowie zur Änderung der Richtlinie 79/267/EWG (ABl. EG Nr. L 330, S. 50-61 vom 29. November 1990) in Verbindung mit Art. 31 der Richtlinie 92/96/EWG befasst worden (vgl. BGH, Beschluss vom 28. März 2012 – IV ZR 76/11 –, VersR 2012, S. 608). In seinem Urteil vom 19. Dezember 2013 hat er sich jedoch auf den Gegenstand des Vorabentscheidungsersuchens beschränkt und von einer Stellungnahme dazu abgesehen, ob das „Policenmodell” insgesamt richtlinienkonform ist (vgl. EuGH, Urteil vom 19. Dezember 2013 – Rs. C-209/12 – Endress, NJW 2014, S. 452 Rn. 20; weitergehend dagegen die Generalanwältin Sharpston in ihren zugrunde liegenden Schlussanträgen vom 11. Juli 2013, in denen sie bei Rn. 57 ff. ≪61 f.≫ Zweifel an der Richtlinienkonformität des „Policenmodells” formuliert).
(3) Der durch das Berufungsgericht zur Begründung seines Standpunktes angeführte Verweis auf „die ständige Rechtsprechung der Oberlandesgerichte” und die von ihm in diesem Zusammenhang mittelbar in Bezug genommenen Entscheidungen (OLG Nürnberg, Urteil vom 29. Februar 2000 – 3 U 3127/99 –, VersR 2000, S. 713; OLG Düsseldorf, Urteil vom 5. Dezember 2000 – 4 U 32/00 –, VersR 2001, S. 837; OLG Frankfurt a.M., Urteil vom 10. Dezember 2003 – 7 U 15/03 –, VersR 2005, S. 631; OLG Karlsruhe, Urteil vom 7. Mai 2009 – 12 U 241/08 –) sind vorliegend nicht geeignet, um die durch das Berufungsgericht entschiedene Frage des Unionsrechts als geklärt erscheinen zu lassen. Die Begründungen der in Bezug genommenen Entscheidungen greifen zu kurz.
(a) Die angeführten Entscheidungen gehen aus zwei Gründen davon aus, dass die Regelung des § 5a VVG a.F. nicht gegen Art. 31 Abs. 1 der Richtlinie 92/96/EWG verstoße.
(aa) Zum einen würden die Verbraucherinformationen auch im Anwendungsbereich des § 5a Abs. 1 Satz 1 VVG a.F. „vor” Vertragsschluss im Sinne von Art. 31 Abs. 1 der Richtlinie 92/96/EWG übermittelt, weil der Vertrag erst nach Ablauf der Widerspruchsfrist rechtsverbindlich zustande komme. Der Verbraucher könne mithin die Informationen prüfen, bevor er sich endgültig für den Vertragsschluss entscheide. Dies trage dem Ziel der Richtlinie, Markttransparenz zu schaffen, Rechnung.
(bb) Zum anderen sei davon auszugehen, dass die Richtlinie den Mitgliedstaaten ausschließlich Vorgaben für das Versicherungsaufsichtsrecht mache und eine Harmonisierung des Versicherungsvertragsrechts gerade nicht anstrebe (vgl. die Erwägungsgründe Nr. 5 und Nr. 19 der Richtlinie 92/96/EWG). Aufsichtsrechtlich habe der deutsche Gesetzgeber die Vorgaben der Richtlinie in § 10a VAG a.F. umgesetzt.
(b) Beide Erwägungen sind nicht geeignet, eine dahingehende Auslegung des Unionsrechts als offenkundig im Sinne eines „acte clair” und die Rechtsfrage als geklärt erscheinen zu lassen. Vor diesem Hintergrund ist die mit dem Beschluss nach § 522 ZPO a.F. einhergehende Ablehnung einer Vorlage an den Gerichtshof der Europäischen Union offensichtlich unhaltbar.
(aa) Die zitierten Berufungsgerichte haben sich, sofern es ihnen nach der zeitlichen Abfolge möglich war, mit den beachtlichen Gegenargumenten der Europäischen Kommission in dem von ihr im Jahr 2005 gegen die Bundesrepublik Deutschland eingeleiteten Vertragsverletzungsverfahren (Nr. 2005/5046) nicht auseinandergesetzt.
Die Europäische Kommission hat in ihrer Stellungnahme vom 12. Oktober 2006 darauf hingewiesen, dass der Versicherungsnehmer nach der deutschen Regelung bereits eine Auswahlentscheidung für eine Versicherung treffen müsse, bevor ihm die notwendigen Informationen erteilt würden. Nach Erteilung der Information müsse er sodann durch fristgemäßes Erheben eines Widerspruchs aktiv werden, um eine Bindung an den Vertrag zu verhindern. Es spreche einiges dafür, dass dies die Zielsetzung der Richtlinie, den Versicherungsbinnenmarkt zu stärken, vereitle. Der Verbraucher solle nämlich gerade deshalb umfassend informiert werden, damit er die Vielfalt der Angebote im Binnenmarkt und den verstärkten Wettbewerb der Versicherer untereinander besser nutzen und einen seinen Bedürfnissen am ehesten entsprechenden Vertrag auswählen könne (siehe die Erwägungsgründe Nr. 20 und 23 der Richtlinie 92/96/EWG bzw. die Erwägungsgründe Nr. 46 und 52 der Richtlinie 2002/83/EG; vgl. dazu weiter und ebenso die Generalanwältin Sharpston bei Rn. 59 ihrer Schlussanträge vom 11. Juli 2013 in der Rechtssache C-209/12 – Endress).
Um die Vielfalt der Versicherungsprodukte und den verstärkten Wettbewerb selbst voll nutzen zu können, muss ein Versicherungsnehmer nach dem „Policenmodell” zunächst gegenüber mehreren Versicherern – mit einigem Aufwand – Anträge auf Abschluss eines Versicherungsvertrages stellen, um schließlich mit der Versicherungspolice die Informationen zu erhalten, die ihm eine sachgerechte Auswahlentscheidung erst ermöglichen. Ihm wird hierbei eine mit erheblichen Risiken – etwa dem der Fristversäumnis – behaftete „Widerspruchslast” aufgebürdet, sich von diesen Verträgen nach seiner Auswahlentscheidung wieder lösen zu müssen. Dass ein Versicherungsnehmer gleichzeitig Anträge bei mehreren Versicherungen stellt, um dann die nicht immer zeitgleich bei ihm eingehenden Versicherungsbedingungen während der regelmäßig unterschiedlich laufenden Widerspruchsfristen eingehend zu vergleichen, erscheint lebensfremd (so auch Berg, VuR 1999, S. 335 ≪341 f.≫; Osing, Informationspflichten des Versicherers und Abschluss des Versicherungsvertrages, 1996, S. 92 f.; Rehberg, Der Versicherungsabschluss als Informationsproblem, 2003, S. 109 ff. ≪113 f.≫). Hierbei macht der Umstand, dass die Verträge vor Ablauf der Widerspruchsfrist rechtsdogmatisch noch „schwebend unwirksam” sind, für den Versicherungsnehmer keinen entscheidenden Unterschied. Ihm würde bei anderer Betrachtung angesonnen, mehrere auf Abschluss verschiedener Verträge gerichtete Willenserklärungen abzugeben, von vornherein jedoch mit der Absicht, alle Erklärungen bis auf eine später fristgerecht unter Fristüberwachung zu widerrufen, nur um „vorab”, vor dem Wirksamwerden der Verträge, in den Besitz der gebotenen Verbraucherinformation zu gelangen. Art. 36 Abs. 1 der Richtlinie 2002/83/EG stellt dafür jedoch auf einen Zeitpunkt „vor Abschluss des Versicherungsvertrags” ab, nicht fernliegender Weise also auf den Zeitpunkt der maßgeblichen, zum Vertragsschluss führenden Willenserklärung des Versicherungsnehmers.
(bb) Auch die zweite von den Berufungsgerichten angestellte Erwägung, mit der Richtlinie werde nur die Vereinheitlichung der aufsichtsrechtlichen Bestimmungen in den Mitgliedstaaten angestrebt, nicht aber eine Harmonisierung der versicherungsvertraglichen Regelungen (vgl. die Erwägungsgründe Nr. 5 und 19 der Richtlinie 92/96/EWG bzw. die Erwägungsgründe Nr. 7 und 44 der Richtlinie 2002/83/EG), vermag nicht zu überzeugen. Obgleich die Informationspflicht „vor” Abschluss des Vertrages in § 10a VAG a.F. aufsichtsrechtlich normiert war, wurde der Inhalt dieser Pflicht durch die versicherungsvertragsrechtliche Regelung des § 5a VVG a.F. geprägt. Gemäß § 81 Abs. 1 VAG überwacht die Aufsichtsbehörde die „Einhaltung der aufsichtsrechtlichen, der das Versicherungsverhältnis betreffenden und aller sonstigen die Versicherten betreffenden Vorschriften”. Solange also das Versicherungsvertragsrecht das „Policenmodell” als eine Möglichkeit für den Abschluss eines Versicherungsvertrages vorsah, schritten die Aufsichtsbehörden dagegen folgerichtig nicht ein (vgl. nur Ebers, in: Micklitz, Verbraucherrecht in Deutschland – Stand und Perspektiven, 2005, S. 253, 260 ff. ≪266 f.≫). Im Ergebnis hätte mithin die Bundesrepublik Deutschland, sollte diese Praxis der Informationserteilung nicht der Richtlinie entsprochen haben, der Richtlinie durch die Regelung des § 5a VVG a.F. aufsichtsrechtlich keine praktische Wirksamkeit verschafft.
(4) Soweit das Berufungsgericht als Beleg für seinen Standpunkt, dass § 5a Abs. 1 Satz 1 VVG a.F. nicht gegen Unionsrecht verstoße, pauschal auf die im Vertragsverletzungsverfahren (Nr. 2005/5046) abgegebene Stellungnahme der Europäischen Kommission vom 12. Oktober 2006 verweist, ist dies nicht nachvollziehbar, weil die Europäische Kommission in dieser Stellungnahme die gegenteilige Auffassung vertreten hat.
Die in diesem Zusammenhang vom Berufungsgericht gegebene knappe Begründung, die im Vertragsverletzungsverfahren als Prüfmaßstab herangezogene Richtlinie 2002/83/EG finde auf den Versicherungsvertrag des Beschwerdeführers noch keine Anwendung, erscheint zwar auf den ersten Blick und formal zutreffend. Sie berücksichtigt jedoch nicht, dass es sich bei dieser Richtlinie – soweit hier von Bedeutung – um eine reine Konsolidierungsrichtlinie handelt, die das bestehende und im Ausgangsverfahren anzuwendende Recht (in Art. 31 Abs. 1 i.V.m. Anhang II A der Richtlinie 92/96/EWG sowie deren Erwägungsgründe Nr. 5, 19, 20 und 23) aus Gründen der Übersichtlichkeit lediglich zusammenfasst (in Art. 36 Abs. 1 i.V.m. Anhang III A und in ihren Erwägungsgründen Nr. 7, 44, 46 und 52, vgl. Erwägungsgrund Nr. 1 der Richtlinie 2002/83/EG und die in deren Anhang VI enthaltene Entsprechungstabelle; ferner Brand, VersR 2013, S. 1 ≪4≫; OLG München, Urteil vom 10. Oktober 2013 – 14 U 1804/13 –, juris Rn. 36).
(5) Darüber hinaus berücksichtigt das Berufungsgericht nicht, dass selbst die Gesetzesbegründung zu der am 1. Januar 2008 in Kraft getretenen Reform des Versicherungsvertragsgesetzes die Vereinbarkeit des – abzuschaffenden – „Policenmodells” aufgrund der unionsrechtlichen Vorgaben als „nicht zweifelsfrei” bezeichnet (vgl. BTDrucks 16/3945, S. 60).
(6) Dass die Richtlinienkonformität des „Policenmodells” nicht eindeutig war und ist, findet schließlich in dem gespaltenen Meinungsbild im Schrifttum seine Bestätigung (die Richtlinienkonformität bezweifeln: Berg, VuR 1999, S. 335 ≪341 f.≫; Dörner, in: Brömmelmeyer/Heiss/Meyer/Rückle/Schwintowski/Wallrabenstein, Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz, Private Krankenversicherung und Gesundheitsreform, Schwachstellen der VVG-Reform, 2009, S. 137 ≪145 f.≫; Dörner/Staudinger, WM 2006, S. 1710 ≪1712≫; Ebers, in: Micklitz, Verbraucherrecht in Deutschland – Stand und Perspektiven, 2005, S. 253 ≪260 ff.≫; ders., in: Schwintowski/Brömmelmeyer, Praxiskommentar zum Versicherungsvertragsrecht, 1. Aufl. 2008, § 8 Rn. 9 f. [bezogen auf § 5a Abs. 2 Satz 4 VVG a.F.]; Lenzing, in: Basedow/Fock, Europäisches Versicherungsvertragsrecht, Band I, 2002, S. 139 ≪164 f.≫; Micklitz/Ebers, in: Basedow/Meyer/Rückle/Schwintowski, Verbraucherschutz durch und im Internet bei Abschluss von privaten Versicherungsverträgen – Altersvorsorgeverträge – VVG-Reform, 2003, S. 43 ≪82 f.≫; Osing, Informationspflichten des Versicherers und Abschluss des Versicherungsvertrages, 1996, S. 92 f.; Rehberg, Der Versicherungsabschluss als Informationsproblem, 2003, S. 109 ff. ≪116 f.≫; Schwintowski, VuR 1996, S. 223 ≪238 f.≫; die Übereinstimmung mit den Richtlinienvorgaben bejahen: Herrmann, in: Bruck/Möller, Versicherungsvertragsgesetz, 9. Aufl. 2009, § 7 Rn. 65; Lorenz, VersR 1995, S. 616 ≪625 f.≫; ders., VersR 1997, S. 773 ≪780 f.≫; Prölss, in: Prölss/Martin, Versicherungsvertragsgesetz, 27. Aufl. 2004, VVG § 5a Rn. 8; Reiff, VersR 1997, S. 267 ≪271≫; Schirmer, VersR 1996, S. 1045 ≪1056≫; Wandt, Verbraucherinformation und Vertragsschluss nach neuem Recht – Dogmatische Einordnung und praktische Handhabung –, 1995, S. 31 ff.).
cc) Unter diesen Umständen hat das Berufungsgericht das Vorliegen der Anwendungsvoraussetzungen des § 522 Abs. 2 Satz 1 ZPO a.F. mit einer verfassungsrechtlich nicht tragfähigen Begründung angenommen. Eine Entscheidung durch Beschluss kam daher schlechterdings nicht in Betracht. Das Berufungsgericht hätte vielmehr durch Urteil unter Zulassung der Revision (gemäß § 543 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 ZPO) entscheiden müssen, wenn es nicht selbst zur Klärung der entscheidungserheblichen Frage der Richtlinienkonformität des „Policenmodells” eine Vorabentscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union einholen und das Verfahren aussetzen wollte.
dd) Der angegriffene Beschluss des Berufungsgerichts über die Zurückweisung der Berufung beruht auf dem festgestellten Verstoß gegen Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG, weil das Gericht seine Entscheidung in der Sache allein auf seine oben dargestellte Rechtsauffassung gestützt hat. Beim derzeitigen Verfahrensstand kann auch nicht angenommen werden, dass bei Aufhebung der angegriffenen Entscheidung und Zurückverweisung der Sache an das Berufungsgericht kein anderes, für den Beschwerdeführer günstigeres Ergebnis in Betracht kommt (vgl. dazu BVerfGE 90, 22 ≪25 f.≫).
2. Danach liegen die Voraussetzungen für die Annahme der Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung vor; die Annahme ist zur Durchsetzung der verfassungsmäßigen Rechte des Beschwerdeführers angezeigt (§ 93a Abs. 2 Buchstabe b, § 93b Satz 1, § 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG).
Die weitere vom Beschwerdeführer erhobene Rüge einer Verletzung seines Anspruchs auf den gesetzlichen Richter (Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG) bedarf danach keiner Entscheidung.
V.
1. Die Entscheidung über die Auslagenerstattung beruht auf § 34a Abs. 2 BVerfGG.
2. Die Festsetzung des Gegenstandswerts beruht auf § 37 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit § 14 Abs. 1 RVG in der gemäß § 60 Abs. 1 RVG vor dem 1. August 2013 geltenden Fassung und in Anwendung der durch das Bundesverfassungsgericht im 79. Band seiner Entscheidungssammlung für die Festsetzung des Gegenstandswerts im Verfahren der Verfassungsbeschwerde entwickelten und fortgeltenden Maßstäbe (vgl. BVerfGE 79, 365 ≪366 ff.≫; BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 13. Juni 2013 – 1 BvR 2952/08 –, NJW 2013, S. 2738 Rn. 6).
Unterschriften
Gaier, Schluckebier, Paulus
Fundstellen
NJW 2014, 1796 |
WM 2014, 644 |
VersR 2014, 609 |
VuR 2014, 238 |
r+s 2014, 271 |