Tenor
Der Beschluß des Landessozialgerichts für das Land Brandenburg vom 3. März 1997 – L 4 R-S 1/97 – verletzt den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 3 Absatz 1 des Grundgesetzes. Er wird aufgehoben. Die Sache wird an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Damit ist der Antrag auf Erlaß einer einstweiligen Anordnung gegenstandslos.
Das Land Brandenburg hat dem Beschwerdeführer die notwendigen Auslagen zu erstatten.
Tatbestand
I.
Mit der Verfassungsbeschwerde wendet sich der Beschwerdeführer gegen die Anordnung einer Sicherheitsleistung in einem Gerichtsbeschluß, mit dem der Vollzug von Bescheiden über die Kürzung der Altersrente (Ost) gemäß § 97 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) ausgesetzt worden ist. Das Ausgangsverfahren steht im Zusammenhang mit einem Rechtsstreit, der um höhere Renten- oder Versorgungsansprüche sowie darum geführt wird, ob der in der Deutschen Demokratischen Republik zuletzt gezahlte Betrag aus der Rente der Rentenversicherung und der Leistung eines Zusatzversorgungssystems gemäß § 10 Abs. 1 Satz 2 des Gesetzes zur Überführung der Ansprüche und Anwartschaften aus Zusatz- und Sonderversorgungssystemen des Beitrittsgebiets (Anspruchs- und Anwartschaftsüberführungsgesetz – AAÜG) vom 25. Juli 1991 (BGBl I S. 1677) in der Fassung des Gesetzes zur Ergänzung der Rentenüberleitung vom 24. Juni 1993 (BGBl I S. 1038) für (Renten)Bezugszeiten ab 1. August 1991 auf 2.700 DM monatlich begrenzt werden durfte.
Entscheidungsgründe
II.
1. Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an, weil dies zur Durchsetzung des Grundrechts des Beschwerdeführers aus Art. 3 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz angezeigt ist (§ 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG). Die Voraussetzungen für eine stattgebende Entscheidung durch die Kammer (§ 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG) liegen vor. Die für die Beurteilung maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen, insbesondere zur Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit bei der Anordnung von Sicherheitsleistungen im gerichtlichen Vollziehungsaussetzungsverfahren (vgl. BVerfG, StRK, § 69 FGO Rn. 171), hat das Bundesverfassungsgericht bereits entschieden.
Die richterliche Entscheidung über die Anordnung einer Sicherheitsleistung nach § 97 Abs. 2 Satz 3 SGG ist – wie die Entscheidung über die Aussetzung des Vollzuges selbst – eine Ermessensentscheidung. Nach den von der Fachgerichtsbarkeit entwickelten Grundsätzen ist die Anordnung einer Sicherheitsleistung ermessensfehlerfrei, wenn ernsthaft zu befürchten ist, daß der Rechtsuchende bei einem für ihn ungünstigen Prozeßausgang überzahlte Beträge nicht zurückerstatten kann. Erscheint die Rechtslage nicht eindeutig, sondern zweifelhaft, ist nach Auffassung der zuständigen Gerichte bezüglich der Anordnung einer Sicherheitsleistung in jedem Fall zu prüfen, ob eine Gefährdung des Erstattungsanspruchs besteht. Liegen aufgrund einer Würdigung der Gesamtumstände des einzelnen Falles ernstzunehmende Anhaltspunkte dafür vor, daß bei Aussetzung des Vollzuges ein finanzieller Verlust der Behörde eintritt, falls der Rechtsstreit zu ihren Gunsten entschieden wird, so wird die Anordnung einer Sicherheitsleistung regelmäßig als gerechtfertigt angesehen (vgl. ESVGH 24, 194 ≪197≫; 12, 51 ≪55≫; Finkelnburg/Jank, Vorläufiger Rechtsschutz im Verwaltungsstreitverfahren, 3. Aufl. 1986, Rn. 670). Die Anordnung einer Sicherheitsleistung stellt sich hingegen als ermessensfehlerhaft dar, wenn die Rechtslage zu Gunsten des Rechtsuchenden spricht und ein Erfolg der Klage zumindest sehr wahrscheinlich ist (vgl. ESVGH 24, 194 ≪196≫; BFH, BStBl II 1970, 127 ≪129≫; BStBl II 1989, 39 ≪40≫; ferner Finkelnburg/Jank, a.a.O., Rn. 669). Insoweit bestimmt der Grad der Erfolgsaussicht der Klage das Bedürfnis nach Sicherheitsleistung mit. Die Anordnung einer Sicherheitsleistung wird dann als unverhältnismäßig beurteilt, wenn und soweit es dem Rechtsuchenden trotz zumutbarer Anstrengungen nicht möglich ist, Sicherheit zu leisten (vgl. BFH, BFH/NV 1987, 258, m.w.N.). Der Rechtsvorteil der Aussetzung kann danach Rechtsuchenden, deren wirtschaftliche Verhältnisse eine Sicherheitsleistung nicht zulassen, nicht prinzipiell versagt werden (vgl. BFH, BStBl II 1968, 456 ≪457≫). Diese Praxis und die sie bestimmenden Grundsätze sind verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden.
2. a) Soweit das Landessozialgericht die Aussetzung des Vollzuges der streitigen Bescheide nicht vorbehaltlos vorgenommen, sondern – in Anwendung der genannten Grundsätze – die Anordnung einer Sicherheitsleistung für erforderlich gehalten hat, steht dem Verfassungsrecht grundsätzlich nicht entgegen. Zwar kann sich nicht nur bei fehlerhafter Auslegung oder Anwendung eines Gesetzes, sondern auch bei offensichtlicher Verfassungswidrigkeit einer Rechtsnorm die Anordnung einer Sicherheitsleistung als ermessensfehlerhaft erweisen. Jedoch hat das Landessozialgericht die Rechtslage – auch unter Berücksichtigung der beim Bundesverfassungsgericht zu § 10 Abs. 1 Satz 2 AAÜG anhängigen Verfahren (1 BvL 12/96; 32/95; 31/95; 12/95; 29/94; 28/94; 13/94; 2/94) – lediglich für zweifelhaft gehalten und den Prozeßausgang deshalb als offen angesehen. Weil die von den vorlegenden Gerichten geäußerte Überzeugung von der Verfassungswidrigkeit des § 10 Abs. 1 Satz 2 AAÜG in Rechtsprechung und Schrifttum umstritten ist, läßt sich nicht erkennen, daß diese Einschätzung unter keinem denkbaren Aspekt mehr rechtlich vertretbar ist und damit auf willkürlichen Erwägungen beruht (vgl. BVerfGE 80, 48 ≪51≫; 81, 132 ≪137≫). Auch soweit das Landessozialgericht für den Fall der Aussetzung des Vollzuges eine ernsthafte Gefährdung des Erstattungsanspruchs angenommen hat, beruht dies ebenfalls nicht auf sachfremden Überlegungen. Es hat die Anordnung einer Sicherheitsleistung unter Würdigung der Gesamtumstände des Falles als gerechtfertigt angesehen und bei der Bestimmung des Umfangs der Sicherheitsleistung auf die Höhe eines möglichen Erstattungsanspruchs sowie darauf verwiesen, daß die Dauer der Aussetzungszeit im Hinblick auf den Zeitpunkt der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts über die Vorlagen nicht absehbar sei. Daß der Beschwerdeführer nach Ablauf der Aussetzungszeit den streitigen Erstattungsbetrag in Höhe von 400.000 DM zuzüglich weiterer monatlicher Differenzbeträge voraussichtlich nicht alsbald zurückzahlen kann, liegt angesichts seiner wirtschaftlichen Verhältnisse nicht außerhalb jeder Vorstellung.
b) Das Landessozialgericht hat jedoch bei der Anwendung des § 97 Abs. 2 Satz 3 SGG den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit nicht beachtet.
Die Anordnung der Sicherheitsleistung darf nicht zu einem unzumutbaren Nachteil führen (vgl. BVerfG, StRK, § 69 FGO, Rn. 171). Der Beschwerdeführer hat in der Verfassungsbeschwerde dargelegt, die Anordnung der Sicherheitsleistung führe für ihn zu einer weitgehenden Unwirksamkeit der aufschiebenden Wirkung, weil er die infolge der Aussetzung gezahlten Beträge nicht zweckbestimmt für seinen Lebensunterhalt im Alter verwenden könne, sondern für die Sicherheitsleistung einsetzen müsse. Dies sei ihm nicht zuzumuten. Zwar hat er im Aussetzungsverfahren lediglich allgemein darauf hingewiesen, daß seine Vermögenslage die Belastung mit einer Sicherheitsleistung nicht zulasse. Jedoch konnte das Landessozialgericht aus den für das Aussetzungsverfahren maßgeblichen Unterlagen ohne weiteres entnehmen, daß und aus welchen Gründen die Vermögensverhältnisse des Beschwerdeführers eine Sicherheitsleistung in der geforderten Höhe nicht ermöglichen. Auch in Anbetracht des summarischen Charakters des Aussetzungsverfahrens ergab sich das Unvermögen des Beschwerdeführers zur Sicherheitsleistung in dem vorliegenden, durch das hohe Alter des Beschwerdeführers besonders gelagerten Fall schon daraus, daß er sein Erwerbsleben in der Deutschen Demokratischen Republik zugebracht und beendet hatte und auf Grund dieses Umstands Vermögenswerte jedenfalls in Höhe der vom Landessozialgericht geforderten Sicherheitsleistung selbst unter Berücksichtigung seiner früheren weit überdurchschnittlichen Verdienste und Versorgungsleistungen nicht erreichen konnte. Der Beschwerdeführer hat die Darstellung seiner Vermögenssituation inzwischen im Verfassungsbeschwerde-Verfahren durch eine eidesstattliche Versicherung vom 13. August 1997 entsprechend glaubhaft gemacht.
Von einer weiteren Begründung wird gemäß § 93d Abs. 1 Satz 3 BVerfGG abgesehen.
3. Mit der Entscheidung über die Verfassungsbeschwerde wird der Antrag auf Erlaß einer einstweiligen Anordnung gegenstandslos.
4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 34a Abs. 2 BVerfGG.
Unterschriften
Kühling, Jaeger, Steiner
Fundstellen
Haufe-Index 1276667 |
NJW 1999, 2031 |
NVwZ 1999, 638 |
SGb 1999, 252 |
SozSi 1999, 221 |