Verfahrensgang
LG Frankfurt am Main (Beschluss vom 21.03.2013; Aktenzeichen 2-16 S 166/12) |
LG Frankfurt am Main (Beschluss vom 06.03.2013; Aktenzeichen 2-16 S 166/12) |
Tenor
1. Der Beschluss des Landgerichts Frankfurt am Main vom 6. März 2013 – 2-16 S 166/12 – verletzt den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 103 Absatz 1 des Grundgesetzes. Der Beschluss wird aufgehoben. Die Sache wird an das Landgericht Frankfurt am Main zurückverwiesen. Damit wird der Beschluss des Landgerichts Frankfurt am Main vom 21. März 2013 – 2-16 S 166/12 – gegenstandslos.
2. Das Land Hessen hat dem Beschwerdeführer seine notwendigen Auslagen zu erstatten.
3. Der Wert des Gegenstands der anwaltlichen Tätigkeit für das Verfassungsbeschwerdeverfahren wird auf 8.000 EUR (in Worten: achttausend Euro) festgesetzt.
Tatbestand
I.
Die Verfassungsbeschwerde betrifft einen Zivilrechtsstreit aus dem Nachbarschaftsrecht.
1. a) Die Grundstücke der Beklagten zu 1) und 2) – Flurstück 274/4 – sowie der Beklagten zu 3) – Flurstück 274/5 – des Ausgangsverfahrens liegen nebeneinander. Sie grenzen im Süden an das Grundstück – Flurstück 276/1 – des Beschwerdeführers, dem Kläger des Ausgangsverfahrens, und seiner Ehefrau, die ihre Ansprüche an ihn abgetreten hat. Vor dem Erwerb des Grundstücks 274/4 durch die Beklagten zu 1) und 2) im Jahr 2008 errichtete der Beschwerdeführer im Jahr 1972 auf der gemeinsamen Grundstücksgrenze zu den beiden Grundstücken (Flurstücke 274/4 und 274/5) einen ortsüblichen ca. 0,9 m bis 1,1 m hohen Jägerzaun. Die Beklagten zu 1) und 2) errichteten nach dem Erwerb des Grundstücks 274/4 auf diesem zunächst in einem Abstand von 0,2 m zur Grundstücksgrenze parallel zum Jägerzaun einen ca. 1,5 m hohen Maschendrahtzaun. Diesen ersetzten sie auf ihrem Grundstück und dem Grundstück der Beklagten zu 3) durch einen 2 m hohen blickundurchlässigen Staketenzaun aus Holz, der Gegenstand des Streits war.
Mit seiner Klage verlangte der Beschwerdeführer von den Beklagten zu 1) und 2) „den auf dem Grundstück P. Straße 7 in B. an der Grenze zum Grundstück Am S. 7 in B. errichteten 2 m hohen Holzzaun zu entfernen”. Die Klage erweiterte der Beschwerdeführer auf die Beklagte zu 3), formulierte insoweit jedoch den Klageantrag auch unter Bezugnahme auf die Flurstücknummer des Grundstücks „Am S.”.
Das Amtsgericht gab der Klage nach der Durchführung eines Ortstermins durch Urteil gegenüber der Beklagten zu 3) statt, wies sie aber bezüglich der Beklagten zu 1) und 2) ab. Gegen die Beklagte zu 3) stehe dem Beschwerdeführer ein Anspruch auf Beseitigung des Staketenzaunes aus §§ 921, 922 in Verbindung mit § 1004 BGB zu. Der Jägerzaun sei eine Grenzeinrichtung im Sinne des § 921 BGB. Solange ein Nachbar an dem Fortbestehen dieser Einrichtung ein Interesse habe, dürfe sie gemäß § 922 Satz 3 BGB nicht ohne seine Zustimmung beseitigt oder geändert werden. Von diesem Abwehranspruch werde auch die Beeinträchtigung des ästhetischen Erscheinungsbildes durch die Einrichtung weiterer Anlagen im Umfeld umfasst. Eine solche Anlage sei hier der 2 m hohe Staketenzaun, weil der Jägerzaun nunmehr unmittelbar einer Holzwand gegenüberstehe. Da der vorhandene Jägerzaun ortsüblich sei, dürfe er nicht beeinträchtigt werden. Deshalb könnten die Beklagten auch nicht die Zustimmung zur Errichtung ihres wohl ebenfalls ortsüblichen Staketenzaunes vom Beschwerdeführer verlangen. Die Beklagte zu 3) sei mithin zur Beseitigung des Staketenzaunes auf ihrem Grundstück verpflichtet. Bezüglich der Beklagten zu 1) und 2) sei die Klage jedoch unbegründet, da ihr Flurstück 274/5 sich nicht in der im Klageantrag genannten P. Straße 7 befinde, sondern dieser Straße lediglich ohne Vergabe einer Hausnummer zugeordnet sei. Aufgrund der genauen Straßenbezeichnung sei eine Auslegung des Klageantrages auf eine standortunabhängige Beseitigung des Zaunes nicht möglich.
b) Wegen der teilweisen Klageabweisung legte der Beschwerdeführer Berufung ein und formulierte seinen Klageantrag nun unter Aufnahme einer Flurstücknummer präziser. Das Landgericht wies auf seine Absicht hin, das Rechtsmittel durch Beschluss zurückzuweisen. Der Jägerzaun, der als Grenzanlage im Sinne des § 921 BGB aufzufassen sei, werde durch den Staketenzaun nicht beeinträchtigt. Die vom Beschwerdeführer empfundene ästhetische Beeinträchtigung begründe keinen Abwehrspruch.
Der Beschwerdeführer nahm zu diesem Hinweis Stellung und beanstandete, dass eine Auseinandersetzung mit seinem zentralen Argument fehle, wonach eine erhebliche Beeinträchtigung der vorhandenen Grenzeinrichtung, des Jägerzaunes, vorliege, die er nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs nicht dulden müsse.
Das Landgericht wies die Berufung gemäß § 522 Abs. 2 ZPO zurück und erklärte nach Rücknahme der Anschlussberufung durch die Beklagte zu 3) diese des Rechtsmittels für verlustig. Es führte unter anderem aus, der Staketenzaun sei keine Grenzeinrichtung im Sinne des § 921 BGB, da er unstreitig auf dem Grundstück der Beklagten zu 1) und 2) stehe. Zwischen beiden Zäunen bestehe ein solcher Abstand, dass der Jägerzaun als Grenzeinrichtung nicht beeinträchtigt werde.
c) Die dagegen erhobene Anhörungsrüge des Beschwerdeführers wies das Landgericht ebenfalls zurück. Im Widerspruch zu seinem Hinweisbeschluss und dem von der Verfassungsbeschwerde angefochtenen Beschluss über die Zurückweisung der Berufung, in denen der Jägerzaun als Grenzanlage im Sinne des § 921 BGB bezeichnet worden war, führte das Landgericht nun aus, es habe im Hinweisbeschluss ausdrücklich hervorgehoben, dass es sich bei den fraglichen Zäunen nicht um eine Grenzeinrichtung im Sinne des § 921 BGB handele. Die vom Beschwerdeführer vorgelegte Entscheidung des Bundesgerichtshofs vom 23. November 1984 (Az. V ZR 176/83), auf die dieser sich berufen hatte, sei deshalb nicht einschlägig.
2. Mit der Verfassungsbeschwerde wendet sich der Beschwerdeführer gegen den Beschluss über die Zurückweisung seiner Berufung; er rügt einen Verstoß gegen das Willkürverbot des Art. 3 Abs. 1 GG sowie die Verletzung seines Anspruchs auf rechtliches Gehör aus Art. 103 Abs. 1 GG.
3. Zu der Verfassungsbeschwerde hat die Hessische Staatskanzlei Stellung genommen. Sie hat von einer Äußerung zu den vom Beschwerdeführer erhobenen verfassungsrechtlichen Rügen abgesehen, jedoch näher ausgeführt, dass nach den Maßstäben des einfachen Rechts im Ausgangsfall ein Erfolg der Berufung des Beschwerdeführers möglicherweise in Betracht gekommen wäre.
4. Die Akte des Ausgangsverfahrens liegt der Kammer vor.
Entscheidungsgründe
II.
Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an und gibt ihr statt, weil dies zur Durchsetzung des grundrechtsgleichen Rechts des Beschwerdeführers aus Art. 103 Abs. 1 GG angezeigt ist (§ 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG). Auch die weiteren Voraussetzungen des § 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG liegen vor. Das Bundesverfassungsgericht hat die hier maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen bereits entschieden. Die Verfassungsbeschwerde ist danach offensichtlich begründet.
1. Die angegriffene Entscheidung verletzt den Beschwerdeführer in seinem grundrechtsgleichen Recht auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG).
a) Der in Art. 103 Abs. 1 GG verbürgte Anspruch auf rechtliches Gehör ist eine Folgerung aus dem Rechtsstaatsgedanken für das gerichtliche Verfahren. Der Einzelne soll nicht bloßes Objekt des Verfahrens sein, sondern er soll vor einer Entscheidung, die seine Rechte betrifft, zu Wort kommen, um Einfluss auf das Verfahren und sein Ergebnis nehmen zu können (vgl. BVerfGE 84, 188 ≪190≫ m.w.N.). Da dies nicht nur durch tatsächliches Vorbringen, sondern auch durch Rechtsausführungen geschehen kann, gewährleistet Art. 103 Abs. 1 GG dem Verfahrensbeteiligten das Recht, sich nicht nur zu dem der Entscheidung zugrunde liegenden Sachverhalt, sondern auch zur Rechtslage zu äußern (vgl. BVerfGE 60, 175 ≪210, 211 f.≫; 86, 133 ≪144≫; stRspr). Die Gewährleistung rechtlichen Gehörs verpflichtet das entscheidende Gericht durch die mit dem Verfahren befassten Richter zudem, die Ausführungen der Prozessbeteiligten zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen (vgl. BVerfGE 21, 191 ≪194≫; 96, 205 ≪216≫; stRspr). Bei vom Gericht entgegengenommenem Vorbringen der Beteiligten ist grundsätzlich davon auszugehen, dass dies geschehen ist, obgleich das Gericht nicht verpflichtet ist, jedes Vorbringen in den Gründen seiner Entscheidung ausdrücklich zu bescheiden. Das Verfahrensgrundrecht aus Art. 103 Abs. 1 GG schützt auch nicht davor, dass das Vorbringen eines Beteiligten aus Gründen des formellen oder materiellen Rechts unberücksichtigt bleibt (vgl. BVerfGE 69, 145 ≪148 f.≫; 70, 288 ≪294≫; 96, 205 ≪216≫). Ebenso wenig bietet es Schutz davor, dass das Gericht die Rechtsansicht eines Beteiligten nicht teilt (vgl. BVerfGE 64, 1 ≪12≫).
Ein Verstoß gegen die Pflicht zur Berücksichtigung von Vorbringen liegt allerdings dann vor, wenn im Einzelfall besondere Umstände vorliegen, die verdeutlichen, dass erhebliches Vorbringen eines Beteiligten entweder überhaupt nicht zur Kenntnis genommen oder bei der Entscheidung ersichtlich nicht erwogen worden ist (vgl. BVerfGE 96, 205 ≪216 f.≫). So kann es sich verhalten, wenn das Gericht auf den wesentlichen Kern des Vortrags einer Partei zu einer zentralen Frage des Verfahrens in den Entscheidungsgründen nicht eingeht (vgl. BVerfGE 86, 133 ≪145 f.≫).
b) Solche besonderen Umstände liegen hier vor. Das Landgericht hat zentralen Vortrag des Beschwerdeführers übergangen. Dieser hatte geltend gemacht, er habe sich mit den Rechtsvorgängern der Beklagten zu 1) und 2) als Grundstücksnachbarn für den Jägerzaun als Grenzeinrichtung entschieden und könne deshalb die Erhaltung der Grenzanlage auch in ihrer äußeren Beschaffenheit und in ihrem Erscheinungsbild verlangen. Dafür hatte er sich auf die höchstrichterliche Rechtsprechung zu einem vergleichbaren Fall berufen.
Nach der vom Beschwerdeführer wiederholt wiedergegebenen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs, auf die auch das Amtsgericht in der Ausgangsentscheidung abgestellt hat, kann jeder Grundstücksnachbar, wenn sich die Grundstücksnachbarn ausdrücklich oder stillschweigend für eine bestimmte Grenzeinrichtung im Sinne des § 921 BGB entschieden haben, die Erhaltung der Grenzanlage auch in ihrer äußeren Beschaffenheit und in ihrem Erscheinungsbild verlangen. Er ist vor einseitigen Eingriffen der Gegenseite geschützt und kann verlangen, dass nicht neben eine solche Einfriedung eine weitere, andersartige gesetzt wird, welche das Erscheinungsbild völlig verändern würde. Wird danach die ursprüngliche Grenzeinrichtung – dort, in dem vom Bundesgerichtshof entschiedenen Fall ein 60 cm hoher Holz-Spriegelzaun – in ihrem Erscheinungsbild durch einen daneben errichteten, mehr als dreimal so hohen Holzzaun wesentlich beeinträchtigt, so kann der Grundstücksnachbar nach § 922 Satz 3, § 1004 BGB die Beseitigung des Holzzaunes verlangen (vgl. BGH, Urteil vom 23. November 1984 – V ZR 176/83 –, NJW 1985, S. 1458 ≪1459 f.≫).
Das Landgericht hat den Jägerzaun des Beschwerdeführers sowohl in seinem Beschluss, indem es auf die beabsichtigte Zurückweisung der Berufung hinwies, als auch in der angefochtenen Berufungsentscheidung als Grenzanlage im Sinne des § 921 BGB angesehen, sich mit der vorgenannten höchstrichterlichen Rechtsprechung aber nicht auseinandergesetzt. In seinem die Anhörungsrüge des Beschwerdeführers zurückweisenden Beschluss hat es im Widerspruch zum Hinweisbeschluss und der angefochtenen Entscheidung dann jedoch ausgeführt, es habe im Hinweisbeschluss ausdrücklich hervorgehoben, dass es sich bei den fraglichen Zäunen nicht um eine Grenzeinrichtung im Sinne des § 921 BGB handele, weshalb die vom Beschwerdeführer vorgelegte Entscheidung des Bundesgerichtshofs vom 23. November 1984 (Az. V ZR 176/83, NJW 1985, S. 1458) nicht einschlägig sei. Inhaltlich ist das Landgericht auf diese Entscheidung – die erkennbar auf den vorliegenden Fall übertragbar ist – nicht eingegangen, obgleich sich der Beschwerdeführer ausdrücklich auf sie berufen hatte. Dies belegt, dass das Landgericht zentrales Vorbringen des Beschwerdeführers, das nach Lage des Falles ersichtlich der inhaltlichen Würdigung bedurfte, nicht wirklich zur Kenntnis genommen, jedenfalls in der Sache nicht erwogen hat.
c) Die angefochtene Entscheidung beruht auf dem Gehörsverstoß. Es ist nicht auszuschließen, dass das Landgericht, hätte es sich mit der vorgenannten Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs unter dem von ihm bis dahin zutreffend vertretenen Standpunkt auseinandergesetzt, dass es sich bei dem Jägerzaun um eine einvernehmlich festgelegte Grenzeinrichtung im Sinne des § 921 BGB handele, zu einem anderen, dem Beschwerdeführer günstigeren Ergebnis gelangt wäre.
2. Die Annahme der Verfassungsbeschwerde ist zur Durchsetzung des Verfahrensgrundrechts des Beschwerdeführers angezeigt (§ 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG). Die Verletzung des Art. 103 Abs. 1 GG hat hier besonderes Gewicht (vgl. BVerfGE 90, 22 ≪25≫). Dabei kann offen bleiben, ob dies anders zu beurteilen wäre, wenn anzunehmen wäre, dass das Landgericht den maßgeblichen Vortrag des Beschwerdeführers lediglich aus dem Blick verloren hätte. Denn zumindest bei Zurückweisung der Anhörungsrüge war dies offensichtlich nicht mehr der Fall. Dort hat sich das Landgericht erstmalig mit der vom Beschwerdeführer wiederholt zitierten und schon vom Amtsgericht berücksichtigten Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs befasst. Dabei musste das Landgericht gerade in Abkehr von seiner bis dahin – wie zuvor vom Amtsgericht – vertretenen Ansicht die Eigenschaft des Jägerzaunes als Grenzeinrichtung im Sinne des § 921 BGB verneinen, um die vom Beschwerdeführer ins Feld geführte Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs als nicht einschlägig beurteilen zu können. Ein solches Übergehen und Umgehen entscheidungsbedeutsamen Vortrags einer Partei ist mit dem Verfahrensgrundrecht auf rechtliches Gehör aber offensichtlich unvereinbar.
3. Danach bedarf keiner Entscheidung, ob auch bezüglich des vom Beschwerdeführer als verletzt gerügten Grundrechts aus Art. 3 Abs. 1 GG in seiner Ausprägung als Verbot objektiver Willkür die Annahmevoraussetzungen vorliegen.
III.
1. Der Beschluss über die Zurückweisung der Berufung ist wegen dieses Verstoßes gemäß § 93c Abs. 2 in Verbindung mit § 95 Abs. 2 BVerfGG aufzuheben und die Sache an das Landgericht Frankfurt am Main zurückzuverweisen. Der Beschluss über die Anhörungsrüge wird damit gegenstandslos.
2. Die Entscheidung über die Auslagenerstattung beruht auf § 34a Abs. 2 BVerfGG; die Festsetzung des Gegenstandswerts folgt aus § 37 Abs. 2 Satz 2 RVG in Verbindung mit § 14 Abs. 1 RVG und den Grundsätzen für die Festsetzung des Gegenstandswerts im verfassungsgerichtlichen Verfahren (vgl. BVerfGE 79, 365 ≪366 ff.≫).
Unterschriften
Gaier, Schluckebier, Paulus
Fundstellen
MDR 2013, 1113 |
SchAZtg 2013, 267 |