Entscheidungsstichwort (Thema)
Unzulänglicher Aufruf der Sache verletzt das Recht auf rechtliches Gehör
Leitsatz (redaktionell)
- Eine Prozeßpartei, die sich in die Sitzungsliste eingetragen hat, wegen Überfüllung des Saals außerhalb des Raumes wartet und dort nicht vom Aufruf der Sache in Kenntnis gesetzt wird und demzufolge auch nicht im Saal erscheint, obwohl es dem Gerichtswachtmeister bekannt war, daß sie sich vor dem Sitzungssaal aufhält, darf nicht als säumig behandelt werden.
- Zur Pflicht des Gerichts und zur Form eine Sache ordnungsgemäß aufzurufen.
Normenkette
GG Art. 103 Abs. 1; ZPO § 160 Abs. 5, §§ 214, 220 Abs. 1-2, §§ 331, 513 Abs. 2, § 700 Fassung: 1950-09-12
Verfahrensgang
LG München I (Urteil vom 26.05.1975; Aktenzeichen 15 S 4667/75) |
Gründe
A.
I.
1. Gegen die Beschwerdeführerin erließ das Amtsgericht München unter dem 21. November 1974 einen Zahlungsbefehl. Anschließend erging der Vollstreckungsbefehl. Gegen dessen Erteilung legte die Beschwerdeführerin Einspruch ein. In dem daraufhin anberaumten Verhandlungstermin wurde durch Versäumnisurteil gemäß §§ 700, 331 ZPO ihr Einspruch verworfen.
Die näheren Umstände, die dem Erlaß des Versäumnisurteils vorausgegangen sind, sind zwischen den Parteien des Zivilprozesses streitig. Im formularmäßig vorgedruckten Protokoll der Sitzung vom 12. Februar 1975 ist festgestellt, daß “auf den Aufruf der Sache” “für Bekl: niemand” erschien. Eine dem Sitzungsprotokoll angeschlossene Anlage enthält jedoch nachfolgenden, von dem Richter und dem Urkundsbeamten der Geschäftsstelle unterzeichneten “Vermerk”:
10.15 Uhr
Nach Erlaß des Versäumnisurteils erscheint die Beklagte im Sitzungszimmer und erklärt, daß sie sich seit 8.15 Uhr vor dem Sitzungszimmer befand.
Die zuständige Wachtmeisterin hat den Klägervertreter von der Anwesenheit der Beklagten in Kenntnis gesetzt.
Während die Wachtmeisterin sich nicht im Sitzungszimmer befand, legte Rechtsanwalt H… die Akte vor und beantragte Versäumnisurteil.
2. Die Beschwerdeführerin griff das Versäumnisurteil mit der Berufung zum Landgericht an, mit der sie geltend machte, ein Fall der Säumnis habe nicht vorgelegen (§ 513 Abs. 2 ZPO). Sie sei zu dem Termin am 12. Februar 1975 um 8.30 Uhr in den Sitzungssaal Nr. 508/V des Justizgebäudes geladen worden und dort auch pünktlich erschienen. Sie habe sich von der dort anwesenden Wachtmeisterin in die Sitzungsliste eintragen lassen. Da der Raum überfüllt gewesen sei, habe sie die Wachtmeisterin gefragt, ob sie auch auf dem Flur vor der Tür warten könne. Nachdem die Wachtmeisterin dies bejaht habe, habe sie sich auf die auf dem Flur vor der Tür des Gerichtssaales stehende Bank gesetzt und dort gewartet. In der Folgezeit habe sie zweimal bei der Wachtmeisterin nachgefragt, wann der sie betreffende Rechtsstreit aufgerufen werde. Die Wachtmeisterin habe ihr jedesmal eine rechtzeitige Benachrichtigung zugesagt. Gegen 10.30 Uhr habe sie dann bei einer erneuten Nachfrage feststellen müssen, daß die Sitzung schon beendet war. Die Sache sei vor dem Gerichtssaal nicht aufgerufen worden. Da es unzumutbar sei, in den “viel zu kleinen” Sitzungssälen zu warten, sei es “gerichtsüblich, daß die Parteien nach Eintragung in der Sitzungsliste vor dem Gerichtssaal auf den Aufruf der Sache warteten”.
3. Das Landgericht wies die Berufung ohne mündliche Verhandlung gemäß § 128 Abs. 2 ZPO mit Urteil vom 26. Mai 1975 zurück. Die Beschwerdeführerin sei im Termin vom 12. Februar 1975 säumig gewesen. Eine Säumnis liege zwar nicht vor, wenn die Sache nicht aufgerufen worden sei. Der Sachaufruf gehöre zu den Förmlichkeiten, die durch das Protokoll bewiesen würden. Ausweislich der Sitzungsniederschrift sei die Sache jedoch aufgerufen worden. Einen Protokollberichtigungsantrag habe die Beschwerdeführerin nicht gestellt. Sie habe auch nicht vorgetragen, daß der Aufruf der Sache nicht ordnungsgemäß erfolgt sei. Dem Aufruf der Sache durch den Vorsitzenden im Gerichtssaal müsse nicht in jedem Falle ein Aufruf durch den Wachtmeister vor dem Gerichtssaal vorausgehen. Vielmehr sei auf die üblichen Gegebenheiten abzustellen. Dabei könne es hier dahingestellt bleiben, ob ein Aufruf der Sache vor dem Gerichtssaal dann erforderlich sei, wenn bei dem Gericht eine entsprechende Übung bestehe oder wenn das wartende Publikum sich üblicherweise außerhalb des Gerichtssaales aufhalte. Hier habe die Beschwerdeführerin “mit der Berufung weder vorgetragen, daß bei dem Erstgericht eine entsprechende Übung bestanden” habe, “die Sache auch vor dem Sitzungssaal aufzurufen, noch daß dies deshalb erforderlich sei, weil sich die Parteien üblicherweise nicht im Sitzungssaal, sondern vor dem Sitzungssaal aufgehalten hätten”. Mangels eines entsprechenden Sachvortrags sei deshalb davon auszugehen, daß die Sache ordnungsgemäß aufgerufen worden sei. Daher könne es dahingestellt bleiben, ob die Beschwerdeführerin vor dem Gerichtssaal anwesend gewesen sei und ob die Wachtmeisterin ihr eine Benachrichtigung zugesagt habe.
II.
1. Mit der Verfassungsbeschwerde rügt die Beschwerdeführerin eine Verletzung der Art. 2 Abs. 1, Art. 3 Abs. 1 und Art. 103 Abs. 1 GG und trägt dazu im wesentlichen vor: Der Grundsatz des rechtlichen Gehörs besage, daß das Gericht den Sachvortrag der Parteien zur Kenntnis nehmen und in Erwägung ziehen müsse. Diesen Grundsatz habe das Berufungsgericht verletzt. Denn das Gericht habe den Vortrag der Beschwerdeführerin nicht zur Kenntnis genommen, da es ihren Vortrag in der Berufungsbegründung, daß es gerichtsüblich sei, daß die Parteien nach Eintragung in die Sitzungsliste vor dem Gerichtssaal auf den Aufruf der Sache warteten, ausdrücklich als nicht vorgetragen bezeichnet habe. Dieser Vortrag habe außerdem auch gerichtskundige Tatsachen betroffen, die das Gericht von sich aus habe verwerten müssen.
2. Der Bayerische Staatsminister der Justiz hält die Verfassungsbeschwerde für zulässig und begründet. Das angefochtene Urteil verletze Art. 103 Abs. 1 GG, weil das Gericht den von ihm ausdrücklich vermißten Vortrag der Beschwerdeführerin, daß sich die Parteien üblicherweise nicht im Sitzungssaal, sondern vor dem Sitzungssaal aufhielten, nicht beachtet habe.
B.
Die Verfassungsbeschwerde ist zulässig; sie ist auch begründet:
I.
Das angegriffene Urteil verletzt zunächst Art. 103 Abs. 1 GG deshalb, weil das Gericht den Vortrag der Beschwerdeführerin bei der Entscheidung nicht hinreichend berücksichtigt hat.
1. Die Garantie des rechtlichen Gehörs gebietet, dem an einem gerichtlichen Verfahren Beteiligten Gelegenheit zu geben, sich zu dem der Entscheidung zugrundeliegenden Sachverhalt vor Erlaß der Entscheidung zu äußern. Dem entspricht die Pflicht des Gerichts, die Ausführungen der Prozeßbeteiligten zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen (ständige Rechtsprechung, vgl. z.B. BVerfGE 11, 218 [220]; 14, 320 [323]; 18, 380 [383]; 21, 102 [103 f.]; 22, 267 [273]). Diese Pflicht wird nicht dadurch eingeschränkt, daß das Gericht nach einer ebenfalls ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nicht gehalten ist, sich mit jedem Vorbringen eines Prozeßbeteiligten in der Begründung der Entscheidung ausdrücklich zu befassen. Daraus können sich im Einzelfall Schwierigkeiten für die Feststellung ergeben, daß der Parteivortrag weder zur Kenntnis genommen noch gewürdigt worden ist. In einem Fall der vorliegenden Art ist jedoch die Verkürzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör offenkundig: Die Beschwerdeführerin hat auf Seite 3 des Schriftsatzes vom 28. Februar 1975, mit dem sie Berufung gegen das Versäumnisurteil des Amtsgerichts eingelegt und sie begründet hat, vorgetragen: “Deshalb ist es gerichtsüblich, daß die Parteien nach Eintragung in der Sitzungsliste vor dem Gerichtssaal auf den Aufruf der Sache warten. So auch in diesem Fall”. Das Berufungsgericht führt auf Seite 7 des angegriffenen Urteils aus: “Hier hat die Beklagte mit der Berufung weder vorgetragen, daß bei dem Erstgericht eine entsprechende Übung bestanden hat, die Sache auch vor dem Sitzungssaal aufzurufen, noch daß dies deshalb erforderlich gewesen sei, weil sich die Parteien üblicherweise nicht im Sitzungssaal, sondern vor dem Sitzungssaal aufgehalten hätten”. Das Berufungsgericht bezeichnet also genau das als nicht vorgetragen, was die Beschwerdeführerin vorgetragen hat.
2. Das angegriffene Urteil beruht auch auf dieser Verletzung des Art. 103 Abs. 1 GG. Hätte das Gericht nämlich den Vortrag der Beschwerdeführerin berücksichtigt, hätte es die von ihm offengelassene Rechtsfrage, unter welchen Voraussetzungen die Sache auch vor dem Sitzungssaal aufgerufen werden muß, entscheiden müssen. Es hätte dann die im Verfahren bestrittene Frage der Anwesenheit der Beschwerdeführerin vor dem Gerichtssaal und gegebenenfalls auch der Zusicherung der Wachtmeisterin nicht dahingestellt lassen können und – soweit es diese Frage nicht schon durch den vom Amtsrichter gefertigten Vermerk als bewiesen angesehen hätte – Beweis erheben müssen. Je nach dem Ausgang der Beweisaufnahme hätte es dann der Berufung stattgeben müssen.
3. Daran durfte sich das Gericht hier auch nicht durch die Überlegung gehindert fühlen, daß der Beweis der Säumnis der Beklagten durch das Protokoll erbracht sei (§ 165 ZPO). Eine rechtsunkundige Partei, die – wie hier – unmittelbar nach der Verkündung vor dem Richter erscheint und erklärt, sie sei anwesend gewesen, aber nicht “aufgerufen” worden, stellt in der Sache den Antrag auf Berichtigung des Protokolls, den das Landgericht vermißt; und der “Vermerk” auf der Anlage zum Protokoll zerstört die Beweiskraft des Protokolls, soweit es festhält, die Beklagte sei nach Aufruf der Sache nicht erschienen, – auch wenn es daran fehlt, daß im Protokoll ausdrücklich auf die Anlage Bezug genommen wird (§ 160 Abs. 5 ZPO).
II.
Art. 103 Abs. 1 GG ist weiterhin verletzt, weil das Gericht den Begriff der Säumnis im Sinne des § 220 Abs. 2 ZPO unter Verkennung der verfassungsrechtlich durch Art. 103 Abs. 1 GG gezogenen Grenzen ausgelegt hat. Das Landgericht verkennt diese Grenzen, wenn es eine Partei als säumig behandelt, die zu einem Termin pünktlich erschienen ist und nur deshalb nicht verhandelt hat, weil die Sache nicht oder nicht ordnungsgemäß aufgerufen worden ist. Dabei ist von dem auf der Hand liegenden Sinn der Vorschrift des § 220 ZPO auszugehen: Die geladene und erschienene Partei muß effektiv in die Lage versetzt werden, zu hören, daß “jetzt” in die mündliche Verhandlung ihrer Sache eingetreten wird.
1. Art. 103 Abs. 1 GG gibt dem an einem Rechtsstreit Beteiligten ein Recht darauf, daß er Gelegenheit erhält, sich zu dem einer gerichtlichen Entscheidung zugrundeliegenden Sachverhalt vor Erlaß der Entscheidung zu äußern (ständige Rechtsprechung; vgl. zB BVerfGE 36, 92 [97]). Ein Mittel zur Verwirklichung des rechtlichen Gehörs ist die mündliche Verhandlung im Zivilprozeß. Wenn Art. 103 Abs. 1 GG auch nicht für alle Verfahren die Durchführung einer mündlichen Verhandlung erfordert (BVerfGE 5, 9 [11]), begründet der Anspruch auf rechtliches Gehör doch für den Fall, daß eine mündliche Verhandlung stattfindet, das Recht der Partei auf Äußerung in dieser Verhandlung. Deshalb teilt das Gericht der Partei den Verhandlungstermin durch die Ladung zu diesem Termin mit (§ 214 ZPO). Dies allein genügt jedoch zur Gewährleistung des rechtlichen Gehörs nicht, weil im Alltagsbetrieb der Gerichte die in der Ladung angegebene Terminstunde – zumal wenn die Verhandlung in mehreren Verfahren auf dieselbe Stunde angesetzt ist – in der Regel nicht eingehalten werden kann. Darum schreibt § 220 Abs. 1 ZPO den Aufruf der Sache vor. Damit gibt das Gericht dem Betroffenen gleichsam das “Startzeichen” zur Wahrnehmung seines Anspruchs auf rechtliches Gehör. Der Aufruf der Sache ist deshalb von Art. 103 Abs. 1 GG gefordert.
2. Die Anforderungen an die Art und Weise des Aufrufens einer Sache hängen von den Umständen ab. Um einige Beispiele zu nennen: Treten die Anwälte der Parteien an den Richtertisch und sind weitere Beteiligte nicht geladen, so mag schon die Aufforderung an die Anwälte, mit ihren Ausführungen zu beginnen, als “Aufruf der Sache” genügen. Ist der Verhandlungsraum so eng, daß alle Geladenen sich in ihm nicht gleichzeitig aufhalten können, so genügt der Aufruf im Verhandlungsraum – sei es durch den Vorsitzenden, sei es durch den Gerichtswachtmeister – niemals, gleichgültig, ob eine Gewohnheit besteht, außerhalb des Raumes auf den Aufruf zu warten oder nicht. Besteht eine solche Gewohnheit oder lädt das Gericht durch Bereitstellung von Warteräumen oder Sitzgelegenheiten außerhalb des Verhandlungsraumes dazu ein, dort den Aufruf der Sache abzuwarten, so bedarf es des Aufrufs außerhalb des Sitzungssaales, sei es über Lautsprecher, sei es durch den Gerichtswachtmeister; und es besteht Anlaß, zusätzlich ausdrücklich darauf hinzuweisen, daß dieser Aufruf für den aufmerksam Wartenden deutlich hörbar und verständlich sein muß. Läßt der für den Aufruf der Sache verantwortliche Richter zu, daß der Wachtmeister einer geladenen Partei, die außerhalb des Verhandlungsraumes wartet, zusichert, er werde sie rechtzeitig vom Aufruf der Sache verständigen, so konkretisiert sich die Form des Aufrufs der Sache dieser Partei gegenüber in der Aufforderung des Wachtmeisters, nun zur Verhandlung ihrer Sache vor den Richtertisch zu kommen.
Der Aufruf der Sache ist nicht eine dem Gericht aufgebürdete lästige Förmlichkeit, sondern eine Pflicht des Gerichts gegenüber den anwesenden geladenen Parteien und Beteiligten, sie effektiv in die Lage zu versetzen, den Termin auch “wahrzunehmen”. Säumnis im Sinne des Gesetzes kann deshalb nur vorliegen, wenn es an dem Geladenen liegt, daß er den Termin nicht wahrnehmen konnte, obwohl das Gericht alles getan hatte, ihm den Beginn der mündlichen Verhandlung anzuzeigen. Das kann je nach den Umständen auch erforderlich machen, die Sache mehrmals aufzurufen, die Sache zurückzustellen und zu späterer Stunde noch einmal aufzurufen, den Geladenen, weil es verhältnismäßig viele Träger des gleichen Namens gibt, näher zu bezeichnen usw. Vor allem entsteht für ein Gericht, das die Praxis hat, auf dieselbe Terminstunde mehrere mündliche Verhandlungen anzusetzen (sog. Sammeltermine), die Verpflichtung, besondere Vorkehrungen zu treffen, die sicherstellen, daß die geladenen und erschienen Verfahrensbeteiligten durch Aufruf der Sache den Beginn der mündlichen Verhandlung zuverlässig erfahren.
Auf der anderen Seite haben die geladenen und erschienen Prozeßbeteiligten ihrerseits die Pflicht, sich in geeigneter Weise darum zu kümmern, daß sie von dem Aufruf der Sache erfahren; d.h. insbesondere: Sie haben den von ihnen vernehmbaren Aufrufen einer Sache Aufmerksamkeit zu schenken. Sie haben im Verhandlungsraum oder, soweit nach dem oben Ausgeführten gestattet, im Warteraum oder vor dem Verhandlungsraum anwesend zu bleiben, sie haben, wenn sie sich aus einem plausiblen Grund vorübergehend entfernen wollen, vorher den Richter oder den Wachtmeister zu verständigen, sie haben nach Rückkunft sich zu vergewissern, daß während ihrer vorübergehenden Abwesenheit die Sache nicht aufgerufen worden ist. Bei der Abgrenzung des einer Partei Zumutbaren an Aufmerksamkeit und Bemühung, den Beginn der Verhandlung ihrer Sache zu erfahren, gilt der Grundsatz, den das Bundesverfassungsgericht zur Wiedereinsetzung in den vorigen Stand entwickelt hat: Die an den Betroffenen zu stellenden Anforderungen – dort an Vorkehrungen gegen eine drohende Fristversäumnis, hier an Vorkehrungen gegen die Versäumung des Beginns der mündlichen Verhandlung – dürfen nicht überspannt werden (vgl. zuletzt BVerfGE 40, 42; 40, 46; 40, 88; 40, 95; 40, 101; 40, 182). In beiden Fällen geht es um den Zugang zum Gericht.
3. Im vorliegenden Fall genügte, wenn die Behauptungen der Beschwerdeführerin sich als richtig erweisen sollten, der Aufruf der Sache durch den Richter im Verhandlungsraum nicht. Denn dann ergäbe sich: Die Beschwerdeführerin hatte sich als anwesend in die Sitzungsliste eintragen lassen; sie hatte nach Rückfrage bei der Wachtmeisterin mit deren Einverständnis vor dem Sitzungssaal auf einer dort stehenden Bank Platz genommen; sie vertraute auf die Versicherung der Wachtmeisterin, daß sie von ihr vom Beginn der Verhandlung ihrer Sache verständigt werde. Außerdem bestand die dem Richter bekannte Übung, auf den Aufruf der Sache außerhalb des Verhandlungsraumes zu warten. – Eine Sitzungsliste verliert ihren Sinn, wenn sich der Richter vor Beginn der Verhandlung, in der nur der Anwalt einer Partei erscheint, nicht vergewissert, ob die andere Partei als anwesend geführt wird, und daraus die nötigen Folgerungen zieht. Der Umstand, daß die Wachtmeisterin der Beschwerdeführerin versprochen hatte, sie vom Aufruf der Sache zu verständigen, und der Umstand, daß es bei diesem Gericht üblich war, daß die Geladenen vor dem Verhandlungsraum warten, macht den Aufruf der Sache vor dem Verhandlungsraum notwendig auch dann, wenn das Gericht geglaubt haben sollte, es könne darauf vertrauen, daß ein Anwalt, der die Gepflogenheiten bei Gericht genau kennt, seinerseits kein Versäumnisurteil beantragen werde, wenn die nicht anwaltschaftlich vertretene Gegenseite in der Sitzungsliste als anwesend geführt wird, oder gar, wie hier, der Rechtsanwalt die Anwesenheit der Beklagten kennt. Der vorliegende Fall würde dann beweisen, daß der Richter auch ein möglicherweise grob standeswidriges Verhalten eines Rechtsanwalts in Rechnung stellen muß, wenn er sich für eine bestimmte Art und Weise der Ausführung des “Aufrufs der Sache” entscheidet.
Jedenfalls steht jetzt schon fest: Die Auffassung des Landgerichts im angegriffenen Urteil vom 26. Mai 1975, daß eine Partei, die sich in die Sitzungsliste eingetragen hat und wegen Überfüllung des Sitzungssaales außerhalb des Raumes wartet, nicht in jedem Fall durch einen Aufruf der Sache vor dem Sitzungssaal von dem Beginn der Verhandlung ihrer Sache in Kenntnis gesetzt werden muß, und daß diese Partei, obwohl sie vor dem Verhandlungsraum vergeblich auf den Aufruf ihrer Sache wartete, als säumig zu behandeln ist, ist mit Art. 103 Abs. 1 GG nicht vereinbar.
4. Das angegriffene Urteil beruht auch auf dieser Verletzung des Art. 103 Abs. 1 GG. Unter Beachtung der sich für diesen Fall aus Art. 103 Abs. 1 GG für das Gericht ergebenden Pflicht hätte das Landgericht die im Ausgangsverfahren streitige und vom Gericht offengelassene Frage, ob die Beschwerdeführerin vor dem Sitzungssaal anwesend war und auf den Aufruf wartete, nicht dahingestellt lassen dürfen. Nach Sach- und Rechtslage kann mithin nicht ausgeschlossen werden, daß die Berufung Erfolg hat.
III.
Da die Beschwerdeführerin durch das angegriffene Urteil in ihrem Recht aus Art. 103 Abs. 1 GG verletzt ist, kommt es auf eine von der Beschwerdeführerin weiterhin gerügte Verletzung des Art. 2 Abs. 1 und des Art. 3 Abs. 1 GG nicht mehr an.
IV.
Die angegriffene Entscheidung ist wegen Verstoßes gegen Art. 103 Abs. 1 GG aufzuheben und die Sache gemäß § 95 Abs. 2 BVerfGG an das Landgericht zurückzuverweisen.
Der Freistaat Bayern, dem die Grundrechtsverletzung zuzurechnen ist, hat der Beschwerdeführerin die notwendigen Auslagen zu erstatten (§ 34 Abs. 4 BVerfGG).
Fundstellen
Haufe-Index 1677236 |
BVerfGE, 364 |
NJW 1977, 1443 |
DRiZ 1977, 54 |
JZ 1977, 20 |