Verfahrensgang
OLG Stuttgart (Beschluss vom 08.08.2002; Aktenzeichen 2 Ss 293/2002) |
AG Tettnang (Urteil vom 18.04.2002; Aktenzeichen AK 1344/2001) |
Tenor
Der Beschluss des Oberlandesgerichts Stuttgart vom 8. August 2002 – 2 Ss 293/2002 –, das Urteil des Amtsgerichts Tettnang vom 18. April 2002 – 7 OWi 32 Js 17976/2001 – AK 1344/2001 – und der Bußgeldbescheid des Landratsamts Bodenseekreis vom 10. September 2001 – 505.21.926589.6 – verletzen den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 12 Absatz 1 des Grundgesetzes. Der Beschluss des Oberlandesgerichts und das Urteil des Amtsgerichts werden aufgehoben. Das Verfahren wird an das Amtsgericht zurückverwiesen.
Das Land Baden-Württemberg hat dem Beschwerdeführer die notwendigen Auslagen zu erstatten.
Tatbestand
Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Auferlegung einer Geldbuße wegen einer nach § 1 Abs. 1 Satz 1 in Verbindung mit § 7 des Gesetzes zur Ordnung des Handwerks (Handwerksordnung) in der Fassung vom 24. September 1998 (BGBl I S. 3074; im Folgenden: HwO a.F.) unzulässigen selbständigen Handwerksausübung.
I.
1. Der Beschwerdeführer ist gelernter Zimmerer. Nach seiner Ausbildung von August 1986 bis August 1989 und erfolgreichem Gesellenabschluss arbeitete er bis einschließlich März 1994 in seinem Lehrbetrieb. Noch im selben Jahr machte sich der Beschwerdeführer zusammen mit einer weiteren Person selbständig und meldete ein Gewerbe unter der Bezeichnung „Handel und Montage von Türen und Holzdecken” an. Nachdem ein Zimmerermeister als Betriebsleiter in die Gesellschaft aufgenommen worden war, wurde die Gesellschaft bürgerlichen Rechts im Februar 1995 in die Handwerksrolle als Zimmereibetrieb eingetragen. Die Eintragung wurde nach dem Ausscheiden des Zimmerermeisters aus der Gesellschaft im März 1998 aus der Handwerksrolle gelöscht. Im Juni 1999 wurde der Beschwerdeführer mit dem Gewerbe „Einbau von genormten Baufertigteilen” in die Handwerksrolle eingetragen; die zusätzlich beantragte Eintragung für Zimmererarbeiten wurde jedoch wegen der fehlenden Meisterprüfung abgelehnt.
Nachdem er Ende 1999 die erste Teilprüfung im Zimmererhandwerk mit Erfolg absolviert hatte, bestand der Beschwerdeführer die zweite Teilprüfung im Frühjahr 2000 nicht. An der Wiederholungsprüfung nahm er nicht mehr teil. Sein Antrag auf Erteilung einer Ausnahmegenehmigung nach § 8 HwO a.F. wurde im April 2001 abgelehnt.
Gleichwohl erbrachte der Beschwerdeführer durch seinen Betrieb von April 1998 bis einschließlich Dezember 2001 Zimmerer- und Dachdeckerarbeiten, wobei er Umsatzerlöse von etwa 1 Mio. EUR erzielte.
2. Wegen unerlaubten Betreibens insbesondere des Zimmerei- und Dachdeckerhandwerks wurde gegen den Beschwerdeführer im September 2001 durch Bußgeldbescheid eine Geldbuße in Höhe von 70.000 DM festgesetzt. Sein hiergegen gerichteter Einspruch hatte nur hinsichtlich der Höhe der Geldbuße Erfolg, die das Amtsgericht auf 9.000 EUR reduzierte. Der Beschwerdeführer habe wegen des unerlaubt geführten Handwerksbetriebs eine Ordnungswidrigkeit gemäß § 1 Abs. 1 Nr. 3 des Gesetzes zur Bekämpfung der Schwarzarbeit und illegalen Beschäftigung (in der Fassung vom 16. Dezember 1997 ≪BGBl I S. 2970≫) begangen. Der Antrag des Beschwerdeführers auf Zulassung der Rechtsbeschwerde wurde vom Oberlandesgericht als unbegründet verworfen, weil Rechtsfehler zum Nachteil des Beschwerdeführers nicht gegeben seien.
3. Mit seiner Verfassungsbeschwerde wendet sich der Beschwerdeführer gegen den Bußgeldbescheid, die diesen bestätigenden gerichtlichen Entscheidungen sowie die zugrunde liegenden Regelungen der Handwerksordnung. Er rügt eine Verletzung seiner Grundrechte aus Art. 12 Abs. 1 und Art. 3 Abs. 1 GG.
Überragende Allgemeininteressen, die die Einschränkung der Berufswahl in Gestalt des Meisterzwangs rechtfertigen könnten, seien nicht erkennbar. In keinem anderen europäischen Land sei die Eintragung eines Handwerksbetriebs noch an den Erwerb eines Meistertitels geknüpft. In diesen Ländern regele sich die Qualität der Dienstleistungen offenbar sehr gut über die Marktprinzipien und ein zum Teil schärferes Produkthaftungsrecht. Der Meisterzwang sei daher zur Qualitätssicherung nicht nur ungeeignet, sondern vor allem auch nicht erforderlich.
Zudem sei Art. 3 Abs. 1 GG verletzt. Zugunsten von EU-Ausländern gälten erleichterte Zugangsbedingungen für Berufe mit Meisterzwang. Die damit verbundene Inländerdiskriminierung stelle eine ungerechtfertigte Ungleichbehandlung dar.
4. Zu der Verfassungsbeschwerde haben der Präsident des Bundesgerichtshofs, der Präsident des Bundesarbeitsgerichts, der Präsident des Bundesverwaltungsgerichts, die Verbraucherzentrale Bundesverband, der Deutsche Industrie- und Handelskammertag, der Zentralverband des Deutschen Handwerks und der Berufsverband unabhängiger Handwerkerinnen und Handwerker Stellung genommen.
Entscheidungsgründe
II.
Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an und gibt ihr statt, weil dies zur Durchsetzung des Rechts des Beschwerdeführers aus Art. 12 Abs. 1 GG angezeigt ist (§ 93 a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG). Auch die weiteren Voraussetzungen des § 93 c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG liegen vor.
1. Die Verfassungsbeschwerde ist zulässig.
a) Das erforderliche Rechtsschutzinteresse des Beschwerdeführers ist nicht durch das inzwischen in Kraft getretene Dritte Gesetz zur Änderung der Handwerksordnung und anderer handwerksrechtlicher Vorschriften vom 24. Dezember 2003 (BGBl I S. 2934) und den hierdurch erleichterten Zugang zur selbständigen Ausübung von Handwerksberufen entfallen. Die Verfassungsbeschwerde richtet sich gegen die Verhängung einer Geldbuße auf der Grundlage des früheren Rechts. An der damit geltend gemachten Beschwer hat sich durch die Neuregelung nichts geändert.
b) Der Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde steht auch der Subsidiaritätsgrundsatz gemäß § 90 Abs. 2 BVerfGG nicht entgegen. Hiernach ist der Beschwerdeführer zwar auch verpflichtet, eine Beseitigung des Eingriffsakts unter Berufung auf eine Ausnahmeregelung zu erlangen, wenn dies nicht offensichtlich aussichtslos erscheint (vgl. BVerfGE 78, 58 ≪69≫). Dem Beschwerdeführer war es jedoch nicht zuzumuten, die von ihm beantragte Ausnahmebewilligung nach § 8 HwO a.F. durch gerichtliche Anfechtung der ablehnenden Entscheidung weiterzuverfolgen. Dies wäre angesichts auch der aktuellen Rechtsprechung der Verwaltungsgerichte (vgl. BVerwG, NVwZ-RR 1997, S. 350; GewArch 1998, S. 470; NVwZ-RR 1999, S. 498 f.) nicht Erfolg versprechend gewesen.
2. Die Verfassungsbeschwerde ist im Sinne des § 93 c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG begründet. Der mit der Verfassungsbeschwerde angegriffene Bußgeldbescheid sowie die diesen bestätigenden gerichtlichen Entscheidungen verletzen den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Art. 12 Abs. 1 GG. Einer zusätzlichen Prüfung am Maßstab des Art. 3 Abs. 1 GG bedarf es daher nicht.
a) Grundlage der angegriffenen Maßnahmen sind die Vorschriften über den großen Befähigungsnachweis für das Handwerk (Meisterzwang) gemäß § 1 Abs. 1 Satz 1 in Verbindung mit § 7 HwO a.F. Hiernach war der selbständige Betrieb eines Handwerks als stehendes Gewerbe nur den in der Handwerksrolle eingetragenen natürlichen und juristischen Personen und Personengesellschaften gestattet (§ 1 Abs. 1 Satz 1 HwO a.F.). Eingetragen in die Handwerksrolle wurde grundsätzlich nur, wer in dem von ihm zu betreibenden Handwerk oder in einem diesem verwandten Handwerk die Meisterprüfung bestanden hatte (§ 7 HwO a.F.).
Durch diese gesetzliche Regelung wurde die Freiheit der Berufswahl eingeschränkt. Das Bundesverfassungsgericht hat bereits 1961 festgestellt, dass der selbständigen Ausübung eines Handwerks ein besonderes, und zwar gerade das den „Handwerker” in den Augen der Öffentlichkeit eigentlich kennzeichnende soziale Gewicht zukommt (vgl. BVerfGE 13, 97 ≪105≫). An dieser Einschätzung ist auch unter den veränderten wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Bedingungen der jüngsten Vergangenheit festzuhalten. Nach wie vor wird in der Öffentlichkeit mit der Berufsbezeichnung „Handwerker” ein eigenverantwortlich geführter Handwerksbetrieb verbunden. Auch in dem hier maßgeblichen Zeitraum zwischen 1998 und 2001 hatte die Entscheidung für die Selbständigkeit mithin eigene berufliche Qualität und war Akt der Berufswahl. Der Befähigungsnachweis in Gestalt der Meisterprüfung ist hiernach eine subjektive Berufszulassungsvoraussetzung (vgl. BVerfGE 13, 97 ≪106≫).
b) Eingriffe in die Freiheit der Berufswahl sind nach Art. 12 Abs. 1 Satz 2 GG nur auf der Grundlage einer gesetzlichen Regelung erlaubt, die den Anforderungen der Verfassung an grundrechtsbeschränkende Gesetze genügt (vgl. BVerfGE 7, 377 ≪399 ff.≫; 86, 28 ≪40≫; 102, 197 ≪213≫). Dies setzt eine kompetenzmäßig erlassene Norm voraus, die durch hinreichende, der Art der betroffenen Betätigung und der Intensität des Eingriffs Rechnung tragende Gründe des Gemeinwohls gerechtfertigt ist und dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit entspricht (vgl. BVerfGE 95, 193 ≪214≫; 102, 197 ≪213≫).
aa) Mit Blick auf die Veränderung der wirtschaftlichen und rechtlichen Umstände sind Zweifel daran angebracht, ob die bis Ende des Jahres 2003 geltenden Regelungen über die Ausgestaltung des Meisterzwangs (§ 1 Abs. 1 Satz 1 i.V.m. § 7 HwO a.F.) dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit in dem hier maßgeblichen Zeitraum noch gerecht werden konnten.
Mit der Normierung des Meisterzwangs im Jahre 1953 verfolgte der Gesetzgeber im Wesentlichen zwei Ziele: Es sollten Leistungsstand und Leistungsfähigkeit des Handwerks erhalten und die Ausbildung qualifizierten Nachwuchses für die gesamte gewerbliche Wirtschaft gesichert werden (vgl. BVerfGE 13, 97 ≪107≫). Das Bundesverfassungsgericht hat diese – aus besonderen wirtschafts-, sozial- und gesellschaftspolitischen Erwägungen des Gesetzgebers folgenden – Ziele als wichtige Gemeinwohlbelange gebilligt (vgl. BVerfGE 13, 97 ≪110, 113≫).
(1) Für das gesetzgeberische Ziel der Qualitätssicherung handwerklicher Leistungen erscheint allerdings zweifelhaft, ob der große Befähigungsnachweis unter den veränderten rechtlichen und wirtschaftlichen Umständen gegen Ende des vergangenen Jahrhunderts weiterhin als verhältnismäßig im engeren Sinne angesehen werden konnte. Hierfür ist es notwendig, dass bei einer Gesamtabwägung zwischen der Schwere des Eingriffs und dem Gewicht der ihn rechtfertigenden Gründe die Grenze der Zumutbarkeit noch gewahrt ist (vgl. BVerfGE 83, 1 ≪19≫; 102, 197 ≪220≫). Der große zeitliche, fachliche und finanzielle Aufwand, den die Meisterprüfung erfordert (vgl. zu dieser Einschätzung Ehlers, in: Achterberg/Püttner/Würtenberger, Besonderes Verwaltungsrecht, Bd. I, 2. Aufl. ≪2000≫, S. 146, Rn. 92), müsste mit Blick auf die Erhaltung des Leistungsstandes und der Leistungsfähigkeit des Handwerks noch immer zumutbar gewesen sein.
(a) Die Zumutbarkeit steht in Frage, weil sich für den hier maßgeblichen Zeitraum durch die wachsende Konkurrenz aus dem EU-Ausland eine erhebliche Veränderung der Umstände ergeben hatte. Nach den insoweit übereinstimmenden Stellungnahmen des Deutschen Industrie- und Handelskammertages, der Verbraucherzentrale Bundesverband und des Zentralverbandes des Deutschen Handwerks standen zumindest in den grenznahen Gebieten deutsche Handwerker in ernsthafter Konkurrenz mit Handwerkern aus anderen EU-Staaten. Hierbei war nach § 9 HwO a.F. in Verbindung mit § 1 der Verordnung über die für Staatsangehörige der übrigen Mitgliedstaaten der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft geltenden Voraussetzungen der Eintragung in die Handwerksrolle – EWG-Handwerk-Verordnung – (in der Fassung vom 20. Dezember 1993 ≪BGBl I S. 2256≫; im Folgenden: EWG-HwV) für Handwerker aus dem EU-Ausland lediglich eine mehrjährige Berufserfahrung mit herausgehobener beruflicher Verantwortung, nicht dagegen eine dem Meistertitel entsprechende Qualifikation Voraussetzung für ein selbständiges Tätigwerden in Deutschland. Von dem größten Teil ausländischer Konkurrenz war eine solche Qualifikation auch nicht zu erwarten. Außer in Luxemburg und bis 1999 auch in Österreich gab es in keinem anderen EU-Mitgliedstaat eine der deutschen Meisterprüfung entsprechende Zulassungsbeschränkung.
(b) Die spürbare Konkurrenz aus dem EU-Ausland lässt bereits daran zweifeln, ob der große Befähigungsnachweis nach § 1 Abs. 1 Satz 1 in Verbindung mit § 7 HwO a.F., weil er diese Anbieter nicht erreichte, zur Sicherung der Qualität der in Deutschland angebotenen Handwerkerleistungen noch geeignet sein konnte. Vor allem aber erscheint fraglich, ob angesichts des Konkurrenzdrucks durch Handwerker aus dem EU-Ausland deutschen Gesellen noch die Aufrechterhaltung einer gesetzlichen Regelung zuzumuten war, die ihnen für den Marktzugang in zeitlicher, fachlicher und finanzieller Hinsicht deutlich mehr abverlangte als ihren ausländischen Wettbewerbern auf dem deutschen Markt. Daher könnte die Schwere des Eingriffs, den der große Befähigungsnachweis für ihren beruflichen Werdegang bedeutete, zu dem – zunehmend verwischten – Ziel der Qualitätssicherung nicht länger in einem angemessenen Verhältnis gestanden haben (kritisch bereits BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats, NVwZ 2001, S. 187; vgl. auch König, AöR 118 ≪1993≫, S. 591 ≪611≫; Marx, INF 2004, S. 193 ≪195≫).
(2) Für das daneben vom Gesetzgeber verfolgte Ziel der Ausbildungssicherung steht die Erforderlichkeit des Meisterzwangs nicht außerhalb jeden Zweifels.
Zwar lässt sich angesichts der noch immer hohen Ausbildungsquote des Handwerks im hier maßgeblichen Zeitraum (vgl. BTDrucks. 15/1206, S. 20) eine fehlende Eignung des Meisterzwangs für die Ausbildung des Nachwuchses der gesamten gewerblichen Wirtschaft nicht feststellen, problematisch erscheint jedoch die Erforderlichkeit dieser Regelung. Sie ist nur dann gegeben, wenn das Ziel der Ausbildungssicherung nicht durch ein im Vergleich zum großen Befähigungsnachweis milderes, aber gleich wirksames Mittel erreicht werden konnte (vgl. BVerfGE 53, 135 ≪146 f.≫; 68, 193 ≪218 f.≫). Das zur Verteidigung des Meisterzwangs nahe liegende Argument, ohne den großen Befähigungsnachweis werde die Anzahl der Meisterbetriebe im Handwerk zurückgehen, so dass weniger Ausbilder zur Verfügung stünden, kann nur dann überzeugen, wenn die Ausbildung ausschließlich Handwerksmeistern anvertraut werden darf. Dass diese Voraussetzung nicht zwingend ist, könnte indessen aus der Neuregelung des Handwerksrechts durch das Dritte Gesetz zur Änderung der Handwerksordnung und anderer handwerklicher Vorschriften vom 24. Dezember 2003 (BGBl I S. 2934) folgen. Obgleich der Gesetzgeber auch für das novellierte Recht ausdrücklich an dem Ziel der Ausbildungssicherung festhält (vgl. Bericht des Staatsministers Erwin Huber zu Punkt 64 a der Tagesordnung, Protokoll des Bundesrates, 795. Sitzung, 19. Dezember 2003, S. 517), hat er sich von der Vorstellung gelöst, zur Ausbildung seien nur Handwerker mit bestandener Meisterprüfung in der Lage. Nach der seit 2004 geltenden Fassung der Handwerksordnung sind vielmehr berufserfahrene Gesellen „Altgesellen”), die die Eintragung in die Handwerksrolle nach § 7 b HwO erreicht haben, gemäß § 21 Abs. 1 in Verbindung mit § 21 Abs. 5 Nr. 2 HwO ebenfalls zur Ausbildung fachlich geeignet, falls sie Teil IV der Meisterprüfung (Nachweis der erforderlichen berufs- und arbeitspädagogischen Kenntnisse, vgl. § 45 Abs. 3 HwO) oder eine gleichwertige Prüfung bestanden haben. Da entscheidende Veränderungen der wirtschaftlichen und rechtlichen Umstände in den wenigen Jahren bis zur Novellierung des Handwerksrechts nicht zu erkennen sind, könnte angesichts dieser weniger belastenden Regelung die Erforderlichkeit des Meisterzwangs auch bereits im hier maßgeblichen Zeitraum entfallen sein.
bb) Die geschilderten Bedenken gegen die Verhältnismäßigkeit des Eingriffs in die Freiheit der Berufswahl – über die zu entscheiden die Kammer nicht berufen ist – bekräftigen die Notwendigkeit, die Ausnahmeregelung des § 8 HwO a.F. mit Blick auf Bedeutung und Tragweite des Grundrechts des Beschwerdeführers aus Art. 12 Abs. 1 GG großzügig anzuwenden. Die Verwaltungspraxis hat dem jedoch nicht hinreichend Rechnung getragen.
(1) Das Bundesverfassungsgericht hat bereits 1961 in seiner Entscheidung über den Befähigungsnachweis für Handwerker deutlich gemacht, dass für die Annahme einer insgesamt dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit entsprechenden Regelung auch die im Gesetz vorgesehene Möglichkeit von Bedeutung ist, an Stelle der Meisterprüfung „in Ausnahmefällen” einen anderen Nachweis der zur selbständigen Berufsausübung erforderlichen Kenntnisse und Fertigkeiten genügen zu lassen (vgl. BVerfGE 13, 97 ≪120 f.≫). In diesem Zusammenhang hat das Bundesverfassungsgericht darauf hingewiesen, dass nach dem Willen des Gesetzgebers von der Erteilung einer Ausnahmebewilligung „nicht engherzig” Gebrauch gemacht werden solle, und eine „großzügige Praxis” dem Ziel des Gesetzes entgegenkomme, die Schicht leistungsfähiger selbständiger Handwerkerexistenzen zu vergrößern.
Obwohl hiernach der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit insbesondere deshalb als gewahrt angesehen wurde, weil in § 8 HwO a.F. (damals noch § 7 Abs. 2 HwO) eine Ausnahmeregelung vorhanden war, die großzügig ausgelegt werden konnte, machte die Praxis – soweit ersichtlich – von dieser Möglichkeit nur zurückhaltend Gebrauch. Insbesondere erfolgte – trotz des insoweit offenen Gesetzeswortlauts – keine Anwendung des § 8 HwO a.F. zugunsten berufserfahrener Gesellen; gefordert wurden vielmehr in etwa meistergleiche Kenntnisse und Fähigkeiten, die regelmäßig durch Sachverständige im Wege einer Vergleichsprüfung festgestellt wurden (vgl. Ehlers, in: Achterberg/Püttner/Würtenberger, a.a.O., S. 163, Rn. 133). Auch mit den Beschlüssen des Bund-Länder-Ausschusses Handwerksrecht zum Vollzug der Handwerksordnung vom 21. November 2000 (so genannte Leipziger Beschlüsse; vgl. BAnz 2000, Nr. 234 vom 13. Dezember 2000, S. 23193) war keine Änderung hinsichtlich des Maßstabes und des Nachweises der erforderlichen Fertigkeiten und Kenntnisse verbunden (vgl. Teil II, Punkt 2.4).
(2) Dass die Anwendung der Ausnahmeregelung zugunsten des Beschwerdeführers angezeigt war, wird dadurch bestätigt, dass sich der Gesetzgeber den Zweifeln an der Verfassungsmäßigkeit des großen Befähigungsnachweises in seiner ursprünglichen Ausgestaltung nicht verschlossen (vgl. BTDrucks. 15/1206, S. 21 f.) und durch das Dritte Gesetz zur Änderung der Handwerksordnung und anderer handwerksrechtlicher Vorschriften vom 24. Dezember 2003 (BGBl I S. 2934) den Zugang zur selbständigen Tätigkeit insbesondere für berufserfahrene Gesellen – wie den Beschwerdeführer – erleichtert hat. Zwar zählt der Zimmererberuf noch immer zu den in der Anlage A zur Handwerksordnung aufgeführten Handwerken, die als selbständiger Betrieb nur nach Eintragung in die Handwerksrolle gestattet sind (§ 1 Abs. 1 und 2 HwO n.F.). In die Handwerksrolle können jetzt aber auch Handwerker eingetragen werden, die in Besitz einer Ausübungsberechtigung nach § 7 b HwO n.F. sind (§ 7 Abs. 7 HwO n.F.).
(3) Wird die Regelung des novellierten Handwerksrechts als Maßstab für die zuvor gebotene großzügige Anwendung des § 8 HwO a.F. herangezogen, so deutet vieles darauf hin, dass dem Beschwerdeführer eine Ausnahmegenehmigung hätte erteilt werden müssen. Der Beschwerdeführer könnte die Voraussetzungen, die § 7 b HwO für die Erteilung der Ausübungsberechtigung vorsieht, bereits im hier maßgeblichen Zeitraum erfüllt haben. Er hat insbesondere die Gesellenprüfung bestanden (§ 7 b Abs. 1 Nr. 1 HwO) und dürfte auch wesentliche Tätigkeiten des Zimmererhandwerks (zur Zuordnung der Dachdeckerarbeiten zum Zimmererhandwerk vgl. § 1 Abs. 1 Übergangsgesetz aus Anlass des Zweiten Gesetzes zur Änderung der Handwerksordnung und anderer handwerksrechtlicher Vorschriften vom 25. März 1998 ≪BGBl. I S. 596≫) ausgeübt haben (§ 7 b Abs. 1 Nr. 3 HwO). Problematisch erscheint allein, ob der Beschwerdeführer für die erforderliche Zeit in leitender Stellung tätig war (§ 7 b Abs. 1 Nr. 2 HwO). Werden als Maßstab für die Anwendung des § 8 HwO a.F. die gemeinschaftsrechtlichen Vorgaben, die durch § 1 EWG-HwV in deutsches Recht umgesetzt sind, herangezogen, so könnte die Berufserfahrung des Beschwerdeführers auch diesen Anforderungen entsprechen. Insoweit steht lediglich in Frage, ob es die Position des Beschwerdeführers in dem von ihm mitgeführten Handwerksbetrieb erlaubt, von einem „Selbständigen” oder „Betriebsleiter” zu sprechen.
c) Die angegriffenen Entscheidungen lassen nicht erkennen, dass der Umstand der von Verfassungs wegen gebotenen, jedoch bereits im Verwaltungsverfahren unterlassenen Prüfung einer großzügigen Anwendung des § 8 HwO a.F. Beachtung fand. Wäre dies geschehen, hätte es nahe gelegen, das Ordnungswidrigkeitenverfahren gegen den Beschwerdeführer nach § 47 Abs. 2 OWiG einzustellen. Diese Vorschrift erlaubt dem Gericht eine – durch das Erfordernis pflichtgemäßen Ermessens eingegrenzte – Opportunitätsentscheidung (vgl. BGHSt 44, 258 ≪260≫). Hierdurch wird es möglich, dem im konkreten Fall mit Blick auf die Berufsfreiheit des Beschwerdeführers zumindest geringen Unrechtsgehalt seines Verhaltens Rechnung zu tragen. Zur Entscheidung über die Einstellung des Verfahrens ist die Sache mithin an das Amtsgericht zurückzuverweisen.
3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 34 a Abs. 2 BVerfGG.
Unterschriften
Papier, Steiner, Gaier
Fundstellen