Entscheidungsstichwort (Thema)
Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung
Verfahrensgang
Tenor
Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung wird abgelehnt.
Tatbestand
Die Kammer hat die Begründung ihrer Entscheidung gemäß § 32 Abs. 5 Satz 2 BVerfGG nach Bekanntgabe des Tenors des Beschlusses schriftlich abgefasst.
I.
Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung betrifft die behördlich angeordnete sofortige Vollziehung eines Versammlungsverbots. Er ist inhaltlich auf eine Auflage hinsichtlich der Wegstrecke beschränkt.
1. Mit Schreiben vom 4. November 2005 meldete die Beschwerdeführerin, die „Jungen Nationaldemokraten” – eine Jugendorganisation der NPD – für den 8. Mai 2005 einen inhaltlich im Zusammenhang mit dem Ende des Zweiten Weltkrieges stehenden Aufzug in Berlin unter dem Motto „60 Jahre Befreiungslüge – Schluss mit dem Schuldkult” an. Die Versammlung sollte in der Zeit von 10.00 Uhr bis 18.00 Uhr stattfinden, als Route war die Strecke Alexanderplatz, Karl-Liebknecht-Straße, Unter den Linden, Glinkastraße, Behrenstraße, Ebertstraße bis zum Platz des 18. März (beim Brandenburger Tor) geplant.
2. Mit Bescheid vom 25. April 2005 erließ der Polizeipräsident zwölf für sofort vollziehbar erklärte Auflagen. Nach der mit der Verfassungsbeschwerde allein angegriffenen Auflage Nr. 1 darf der angemeldete Aufzug am Alexanderplatz starten und ist über die Wegstrecke Karl-Liebknecht-Straße, Unter den Linden, Friedrichsstraße bis zum Bahnhof Friedrichsstraße zu führen und dort zu beenden. Die Durchführung des Aufzuges über Glinkastraße, Behrenstraße, Ebertstraße bis Platz des 18. März wird untersagt. Zur Begründung dieser Auflage führte die Behörde unter anderem aus, der andernfalls unvermeidbare Vorbeimarsch am Holocaust-Mahnmal erfülle die tatbestandlichen Voraussetzung des § 15 Abs. 2 Versammlungsgesetz (VersG). Es stelle eine Verhöhnung der Opfer des NS-Terrors dar, wenn eine Gruppierung mit offenkundiger Nähe zum NS-Regime am Tag des Endes dieses Regimes, der für die betroffenen Juden das Ende der Verfolgung und unendlichen Leids bedeute, mit dem Thema „60 Jahre Befreiungslüge – Schluss mit dem Schuldkult” am Denkmal für die ermordeten Juden Europas vorbeiziehe. Die Beschwerdeführerin mobilisiere Teilnehmer aus dem rechtsextremistischen Spektrum der Bundesrepublik, stelle jüdische Opferzahlen in Frage und bediene sich in einem Aufruf für den Aufzug einer Wortwahl, die der NS-Propaganda äußerst nahe stehe und den Holocaust relativiere. Dass der Aufzug am Mahnmal schweigend vorbeiziehen solle, ändere an der Einschätzung nichts; es handele sich um ein „beredtes Schweigen”, dem ein Relativierungs- und Verhöhnungscharakter in gleichem Maße zukomme wie einer entsprechenden Erklärung.
Dem Aufzug stehe weiterhin der größte Teil der angemeldeten Wegstrecke und damit die Möglichkeit zur Verfügung, die Öffentlichkeit anzusprechen. Der gewünschte Endplatz am Brandenburger Tor sei nicht verfügbar, da er durch eine am 19. April 2005 erteilte Sondernutzungserlaubnis des Bezirksamts Mitte von Berlin am 7. und 8. Mai 2005 dem Gemeingebrauch entzogen und dem Senat von Berlin für die Durchführung einer zentralen Gedenkveranstaltung unter dem Motto „Tag für Demokratie” überlassen worden sei. Es sei von Anfang an zu erwarten gewesen, dass eine zentrale Gedenkveranstaltung am 8. Mai 2005, dem Tag der Kapitulation, an einem Ort stattfinden würde, der im In- und Ausland als Symbol für die Vergangenheit und die Gegenwart Deutschlands angesehen werde. Das Grundrecht auf Versammlungsfreiheit gehe nicht so weit, diese Örtlichkeit der Allgemeinheit zu entziehen und sie individuell für eine einseitige Veranstaltung zu reservieren. In einer Lage, in der von vornherein damit zu rechnen gewesen sei, dass eine Vielzahl von Veranstaltungen berechtigter Weise an einem bestimmten Ort stattfinden sollten, sei eine umfassende praktische Konkordanz herzustellen, die alle Veranstaltungen größtmöglich zur Geltung bringen und nicht zu Gunsten einer einzelnen Veranstaltung etwa eine Anmeldereihenfolge abzuarbeiten habe.
3. Gegen den Bescheid legte die Beschwerdeführerin Widerspruch ein und beantragte beim Verwaltungsgericht, die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs gegen die Auflage Nr. 1 hinsichtlich der Untersagung der Wegstrecke Glinkastraße, Behrenstraße, Ebertstraße und Platz des 18. März wieder herzustellen. Das Gericht wies den Antrag zurück und führte zur Begründung aus, es bestehe ein überwiegendes öffentliches Interesse an der sofortigen Vollziehung, da die Rechtmäßigkeit der angegriffenen Auflagen bei summarischer Prüfung keinen ernstlichen Zweifeln unterläge.
Die Voraussetzungen des § 15 Abs. 2 VersG für eine Auflage, mit der der Beschwerdeführin untersagt werde, auf der Behrenstraße am Denkmal für die ermordeten Juden Europas vorbeizulaufen, lägen vor. Das Denkmal sei ein Ort nach § 15 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 VersG und es sei nach den zur Zeit des Erlasses der Verfügung konkret feststellbaren Umständen zu besorgen gewesen, dass durch den Aufzug die Würde der Opfer der menschenunwürdigen Behandlung unter der nationalsozialistischen Gewalt- und Willkürherrschaft beeinträchtigt werde. Dies ergebe sich aus Anlass und Motto der Veranstaltung im Zusammenhang mit dem gewählten Tag und Ort, dem im Internet veröffentlichten Versammlungsaufruf und Äußerungen von Personen, die auf der Versammlung als Redner auftreten sollen. Mit dem Motto „60 Jahre Befreiungslüge – Schluss mit dem Schuldkult!” wende sich die Versammlung am 60igsten Jahrestag des Kriegsendes gegen die Art und Weise, in der in Deutschland der nationalsozialistischen Gewalt- und Willkürherrschaft gedacht werde.
Auch der Aufruf zur Versammlung und begleitende Äußerungen im Internet enthielten eindeutige Anklänge an antisemitisches Gedankengut. Mit der dort erwähnten „kleinen Minderheit, welche aus dem Schuldkult gegenüber der deutschen Nation ihre Milliardenzahlungen ziehe”, könne niemand anders als „die Juden” gemeint sein. Der als Redner auf der Versammlung vorgesehene Bundesvorsitzende der NPD, Bernd Voigt, habe im Oktober 2004 die Betonstelen des Mahnmals als Fundament und Baumaterial für eine zukünftig dort zu errichtende „neue Reichskanzlei” bezeichnet und damit die Tradition benannt, an die er und seine Partei anzuknüpfen beabsichtigen. Derartige Äußerungen seien Angriffe auf das am Mahnmal verortete Gedenken an den Völkermord des NS-Regimes an den Juden Europas. Der durch die Versammlung angeprangerte „Schuldkult” sei auf die jüdischen Opfer des Nationalsozialismus bezogen; diese würden zu Objekten eines Kultes degradiert. Unerheblich sei, was sich die Teilnehmer des Aufzuges beim schweigenden Vorbeimarsch denken würden.
Die angegriffene Auflage sei auch insoweit rechtmäßig, als untersagt werde, die Versammlung auf dem Platz des 18. März zu beenden, weil bei summarischer Prüfung die Voraussetzungen des § 15 Abs. 1 VersG erfüllt seien. Die angemeldete Abschlusskundgebung treffe zeitlich und örtlich mit der vom Senat geplanten Gedenkveranstaltung zusammen. Eine gleichzeitige Durchführung beider Veranstaltungen mit unterschiedlichem Programm sei objektiv unmöglich und würde die öffentliche Sicherheit unmittelbar gefährden. Der auf dem Platz des 18. März vorhandene Raum reiche für beide Veranstaltungen nicht aus; wegen ihrer offenkundig unvereinbaren Zielsetzungen sei zu befürchten, dass es zu gewalttätigen Auseinandersetzungen kommen werde, mit denen eine Gefährdung der Gesundheit von Teilnehmern verbunden sei, die durch polizeiliche Maßnahmen nicht abgewendet werden könne. Dass die Beschwerdeführerin – wie sie ausführe – „nichts dagegen hat, in die zentrale Veranstaltung des Senats einbezogen zu werden”, liege neben der Sache, weil Gegenstand der angegriffenen Auflage nicht die Frage sei, ob Teilnehmer der streitigen Versammlung sich dem „Tag für Demokratie” anschließen dürften.
Die Behörde habe der Veranstaltung zum „Tag für Demokratie” rechts- und ermessensfehlerfrei den Vorrang eingeräumt. Die Inanspruchnahme öffentlichen Raums durch Hoheitsträger mit dem Ziel, nationale Gedenktage festzulegen und sie mit öffentlichen Veranstaltungen zu begehen, sei aufgrund der Organisationsgewalt des Staates zulässig. Das Recht zur Durchführung einer solchen Gedenkveranstaltung scheitere nicht schon daran, dass dadurch ein Konflikt mit einer beabsichtigten Versammlung entstehe, solange die grundrechtlich gewährleistete Versammlungsfreiheit nicht ausgehöhlt werde. Bei der Abwägung seien auch die aus Art. 2 Abs. 1 und Art. 5 Abs. 1 GG folgenden Grundrechte der an dem Gedenktag Teilnehmenden zu berücksichtigen. Ein Vorrang der von der Beschwerdeführerin angemeldeten Versammlung lasse sich nicht aus dem so genannten Erstanmelderprivileg herleiten. Ein Vorrang desjenigen, der seinen Willen zur Veranstaltung als erster kundtue, sei nicht im Versammlungsgesetz vorgesehen. Andernfalls hätte es ein Veranstalter in der Hand, durch besonders frühe Anmeldung bestimmte Veranstaltungsorte zu einer bestimmten Zeit zu reservieren und andere Veranstaltungen von vornherein auszuschließen. Die behördliche Entscheidung zwischen verschiedenen angemeldeten beziehungsweise außerhalb des Versammlungsrechts durchgeführten Veranstaltungen könne sinnvollerweise erst zu einem Zeitpunkt erfolgen, zu dem alle Gesamtumstände bekannt seien. Dass mit dem „Tag für Demokratie” auch auf den von der Beschwerdeführerin angemeldeten Aufzug reagiert werden solle, ändere daran nichts. Es bestehe kein Anhalt dafür, dass diese Veranstaltung allein oder überwiegend zur Verhinderung der Versammlung initiiert worden sei. Der 8. Mai 2005 sei ungeachtet der von der Beschwerdeführerin geplanten Versammlung für die Bundesrepublik in hervorgehobenem Maße bedeutsam.
Die Bewertung der Versammlungsbehörde, dass das Interesse der Beschwerdeführerin an der Nutzung des Platzes des 18. März hinter den Interessen an der Durchführung der Veranstaltung zum „Tag für Demokratie” zurückzustehen habe, sei nicht zu beanstanden. Die Durchführung des Aufzuges bleibe auf wesentlichen Teilen der Streckenführung möglich und ende im historischen Stadtzentrum am Bahnhof Friedrichstraße. Nach Art und Inhalt der Demonstration sei die Beschwerdeführerin auf den Platz des 18. März nicht essentiell angewiesen. Demgegenüber habe der Platz wegen seiner Nähe zum Brandenburger Tor, zum Reichtagsgebäude und zum sowjetischen Ehrenmal an der Straße des 17. Juni für die offizielle Begehung des 8. Mai als „Tag für Demokratie” besondere Bedeutung.
4. Die gegen diese Entscheidung gerichtete Beschwerde wies das Oberverwaltungsgericht zurück. Abgesehen von der teilweisen Unzulässigkeit der Beschwerde – ihre Begründung entspreche weitgehend nicht dem Darlegungserfordernis des § 146 Abs. 4 Satz 3 VwGO – sei sie nicht begründet. Die von der Beschwerdeführerin gegen die Bejahung der tatbestandlichen Voraussetzungen des § 15 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 VersG erhobenen Einwände griffen nicht durch. Eine Beeinträchtigung der Würde der Opfer sei selbst dann zu besorgen, wenn der Aufzug am Denkmal für die ermordeten Juden Europas schweigend und mit eingerollten Fahnen vorbeiführen würde. Dies ergebe sich bereits aus dem den Aufzug seinem Erscheinungsbild nach außen prägenden Veranstaltungsmotto im Zusammenwirken mit Zeit und Ort der beabsichtigten Veranstaltung. Erst recht schließe es das Gepräge des Aufzuges aus, das Schweigen – wie die Beschwerdeführerin glauben machen wolle – als Ausdruck der Ehrerbietung und Trauer gegenüber den Opfern aufzufassen. Schon der Begriff „Befreiungslüge” stelle das befreiende Moment der Beendigung des Nationalsozialismus in einer die Opfer der Nazi-Diktatur entwürdigenden Weise vorbehaltlos in Abrede. Auch der Aufruf „Schluß mit dem Schuldkult” beeinträchtige die Würde der Opfer, derer am Denkmal für die ermordeten Juden gedacht werde.
Die Beschwerde habe auch insoweit keinen Erfolg, als sich die Beschwerdeführerin dagegen wende, dass ihr untersagt werde, ihren Aufzug auf dem Platz des 18. März zu beenden. Insbesondere sei ihr als Erstanmelderin nicht grundsätzlich der Vorrang einzuräumen. Das Prioritätsprinzip sei nicht das allein maßgebende Kriterium bei der Auswahl mehrerer zeitlich und örtlich miteinander konkurrierender Veranstaltungen. Das Verwaltungsgericht habe zutreffend ausgeführt, dass den Veranstaltern des „Tages für Demokratie” der Vorrang einzuräumen sei, zumal das Demonstrationsanliegen der Beschwerdeführerin weitgehend gewahrt werde. Im Übrigen könne der Aufzug schon deshalb nicht auf dem Platz des 18. März beendet werden, weil nach dem eigenen Vortrag der Beschwerdeführerin der Weg zu diesem Ort notwendig am Denkmal für die ermordeten Juden Europas vorbeiführen müsse, also der entsprechenden Auflage gemäß § 15 Abs. 2 VersG widerspreche.
5. Die Beschwerdeführerin hat Verfassungsbeschwerde erhoben und gleichzeitig beantragt, die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs gegen die Nr. 1 der Auflagenverfügung durch einstweilige Anordnung insoweit wieder herzustellen, als die Wegstrecke Glinkastraße, Behrenstraße, Ebertstraße, Platz des 18. März untersagt wird. Die Verfügung des Polizeipräsidenten und die angegriffenen Beschlüsse verletzten sie in ihren Grundrechten aus Art. 8 und Art. 5 GG. Die Änderung der Wegstrecke sei durch § 15 Abs. 2 VersG nicht gerechtfertigt. Nach den konkret feststellbaren Umständen sei gerade nicht zu besorgen, dass durch den Vorbeimarsch die Würde der Opfer beeinträchtigt werde. Dies ergebe sich insbesondere daraus, dass der Aufzug am Holocaust-Mahnmal schweigend erfolgen solle. Darin könne keine Verletzung der Würde der Opfer gesehen werden, weil über die Opfer nichts ausgesagt werde und die Gedanken der Versammlungsteilnehmer in der Öffentlichkeit nicht sichtbar seien. Auch das Motto der Veranstaltung stelle keine Verletzung der Würde der Opfer dar; die Beschwerdeführerin beabsichtige, mit ihrer Versammlung an die andere, leidvolle Seite des 8. Mai 1945 zu erinnern. Schließlich sei das Zitat über die „kleine Minderheit, die aus dem Schuldkult ihre Milliardenzahlung ziehe” mehrdeutig und erfasse nicht unbedingt und nicht eindeutig die Juden, da auch andere Personen Entschädigungszahlungen erhalten hätten. Im Übrigen sei ein Vorbeigehen des Aufzugs am Holocaust-Mahnmal von der Beschwerdeführerin ursprünglich gar nicht geplant gewesen, sondern eine Folge der erst nach der Anmeldung begonnenen Bauarbeiten zur U-Bahn am Brandenburger Tor. Dies zeige im Übrigen, dass die Beschwerdeführerin niemals die Absicht gehabt habe zu provozieren.
Der Platz des 18. März vor dem Brandenburger Tor könne der Beschwerdeführerin als Ort der Abschlusskundgebung nicht entzogen werden, weil sie als Erstanmelderin Vorrang gegenüber den zentralen Gedenkveranstaltung des Senats habe. Das Erstanmelderprivileg werde insbesondere nicht dadurch außer Kraft gesetzt, dass die Veranstaltung des Senats eine größere Zahl von Menschen vereine. Dadurch werde der Minderheitenschutz außer Kraft gesetzt. Im Übrigen sei sie nach wie vor bereit, in die zentrale Veranstaltung einbezogen zu werden. Schließlich sei eine Gefährdung der öffentlichen Sicherheit durch eine Abschlusskundgebung am Platz des 18. März nicht ausreichend dargelegt.
Entscheidungsgründe
II.
Der zulässige Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung hat keinen Erfolg.
Nach § 32 Abs. 1 BVerfGG kann das Bundesverfassungsgericht im Streitfall einen Zustand durch einstweilige Anordnung vorläufig regeln, wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile, zur Verhinderung drohender Gewalt oder aus einem anderen wichtigen Grund zum gemeinen Wohl dringend geboten ist. Dabei haben die Gründe, die für die Verfassungswidrigkeit des angegriffenen Hoheitsaktes vorgetragen werden, grundsätzlich außer Betracht zu bleiben. Der Antrag auf Eilrechtsschutz hat jedoch keinen Erfolg, wenn die Verfassungsbeschwerde offensichtlich unbegründet ist (vgl. BVerfGE 88, 169 ≪171 f.≫; 91, 328 ≪332≫; stRspr). Die Erfolgsaussichten der Verfassungsbeschwerde können ferner maßgeblich werden, wenn verwaltungsgerichtliche Beschlüsse betroffen sind, die im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes ergangen sind und die Entscheidung in der Hauptsache vorwegnehmen, insbesondere wenn die behauptete Rechtsverletzung bei Verweigerung einstweiligen Rechtsschutzes nicht mehr rückgängig gemacht werden könnte, die Entscheidung in der Hauptsache also zu spät käme (vgl. BVerfGE 46, 160 ≪164≫; Beschluss vom 23. Juni 2004 – 1 BvQ 19/04 –, NJW 2004, S. 2814). Einstweiliger Rechtsschutz ist in einem solchen Fall aber nicht zu gewähren, wenn der Grundrechtseingriff offensichtlich nicht im Widerspruch zum Schutzgehalt der betroffenen Grundrechte steht. So liegt es hier.
1. Die hier allein angegriffene Auflage hindert die Beschwerdeführerin nicht, die von ihr geplante Versammlung unter dem vorgesehenen Motto im Zentrum Berlins durchzuführen, und zwar als Aufzug mit Abschlusskundgebung und unter Einsatz der geplanten Redner. Erfasst sind lediglich Modalitäten der Versammlungsdurchführung in örtlicher und zeitlicher Hinsicht, die nicht so wesentlich sind, dass die Auflage faktisch einem Verbot gleichkommt. Die behördliche Verfügung ist daher an den rechtlichen Voraussetzungen einer versammlungsrechtlichen Auflage, nicht an denen eines Versammlungsverbots zu messen.
2. Es ist verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden, der Beschwerdeführerin durch eine Auflage zu untersagen, den geplanten Aufzug am Denkmal für die ermordeten Juden Europas vorbeizuführen.
Keinen verfassungsrechtlichen Bedenken begegnet es, dass dieses Denkmal durch § 15 Abs. 2 Satz 2 VersG als ein Ort bestimmt worden ist, an dem ein Aufzug unter den Voraussetzungen des Satzes 1 Nr. 2 verboten oder von Auflagen abhängig gemacht werden kann, darunter auch der Auflage, den Aufzug nicht am Denkmal vorbeizuführen. Ebenfalls verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden ist die Annahme der Behörde und der Gerichte, der Aufzug lasse nach den zur Zeit des Auflagenerlasses konkret feststellbaren Umständen besorgen, dass die Würde der jüdischen Opfer der nationalsozialistischen Gewalt- und Willkürherrschaft durch ihn beeinträchtigt werde.
Dabei bedarf hier keiner Klärung, ob insoweit sämtliche von der Behörde und den Gerichten herangezogenen Umstände beachtlich sind. Aus verfassungsrechtlicher Sicht ist es jedenfalls nicht zu beanstanden, wenn die Behörde und die Gerichte eine Beeinträchtigung des sozialen Geltungsanspruchs und damit der Würde der Juden Europas, derer an diesem Ort gedacht wird, darin sehen, dass am Jahrestag der Beendigung der nationalsozialistischen Gewalt- und Willkürherrschaft ein rechtsextremistischer Aufzug unter dem Motto „60 Jahre Befreiungslüge – Schluss mit dem Schuldkult” an dem Denkmal vorbeizieht, der durch dieses Motto die Millionen jüdischer Opfer des Nationalsozialismus zum Gegenstand eines Kultes degradiert und ihnen zugleich abstreitet, dass die Kapitulation für die vom Nationalsozialismus verfolgten Juden ein Akt der Befreiung war.
3. Die mit der Verfassungsbeschwerde angegriffene Auflage ist auch insoweit mit dem Grundrechten der Beschwerdeführerin vereinbar, als dieser untersagt wird, die Versammlung auf dem Platz des 18. März zu beenden. Behörde und Gerichte durften die vom Senat initiierte Veranstaltung bei der Entscheidung über Auflagen nach § 15 Abs. 1 VersG einbeziehen und ihr Vorrang bei der Nutzung des Gebiets um das Brandenburger Tor gewähren.
a) Es ist verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden, dass die Behörde der Versammlung der Beschwerdeführerin nicht allein deshalb den Vorrang bei der Benutzung des Gebiets um das Brandenburger Tor eingeräumt hat, weil die Anmeldung schon vorlag, als die Pläne zur Durchführung einer Veranstaltung mit dem Motto „Tag für Demokratie” noch nicht bestanden oder konkretisiert waren.
aa) Zum Selbstbestimmungsrecht des Veranstalters gehört zwar die Entscheidung über Ort und Zeitpunkt der geplanten Versammlung. Kommt es zur Rechtsgüterkollision, kann das Selbstbestimmungsrecht aber durch Rechte Anderer beschränkt sein. In diesem Fall ist für die wechselseitige Zuordnung der Rechtsgüter mit dem Ziel ihres jeweils größtmöglichen Schutzes zu sorgen. Wird den gegenläufigen Interessen Dritter oder der Allgemeinheit bei der Planung der angemeldeten Versammlung nicht hinreichend Rechnung getragen, kann die praktische Konkordanz zwischen den Rechtsgütern durch versammlungsbehördliche Auflagen hergestellt werden (vgl. BVerfGE 104, 92 ≪111≫). Dies gilt auch dann, wenn Staatsorgane – wie der Berliner Senat – handeln, die sich nicht auf Grundrechte berufen können. Zu berücksichtigen ist im vorliegenden Fall aber auch, dass Grundrechte der Teilnehmer der Gedenkveranstaltung betroffen sind. Bei der Veranstaltung handelt es sich um die örtliche Zusammenkunft mehrerer Personen zur gemeinschaftlichen, auf die Teilhabe an der öffentlichen Meinungsbildung gerichteten Erörterung oder Kundgebung, also um eine Versammlung im Sinne des Art. 8 GG (vgl. BVerfGE 104, 92 ≪104≫). Der versammlungsrechtliche Charakter der Veranstaltung enfällt nicht durch den Umstand, dass im Programm etliche musikalische Einlagen mit mehr oder minder intensivem Bezug zum Motto des Gedenktages vorgesehen sind. Bestimmend für den Gesamtcharakter der Veranstaltung sind die auf das Motto „Tag für Demokratie” bezogenen Programmpunkte, so insbesondere Gespräche mit Zeitzeugen oder die Vorstellung von Projekten gegegen Rechtsradikalismus und Fremdenfeindlichkeit und von solchen über zivilgesellschaftliche Teilhabe. Dass diese Veranstaltung vom Senat initiiert worden ist, ändert nichts an dem grundrechtlichen Schutz der Bürger, die an ihr teilnehmen wollen.
bb) Die von der Beschwerdeführerin geforderte formale Anknüpfung an den Zeitpunkt der Anmeldung und die grundsätzliche Einräumung einer zeitlichen Priorität für den Erstanmelder werden zwar dem das Versammlungsrecht prägenden Grundsatz staatlicher Neutralität gegenüber den Inhalten von Versammlungszwecken gerecht. Sie tragen insbesondere dem Verbot Rechnung, diese Inhalte staatlicherseits als wichtig oder weniger wichtig zu bewerten und auf eine solche Einschätzung rechtliche Folgen zu stützen. Auch wird auf diese Weise gesichert, dass die zuerst angemeldete Versammlung nicht allein deshalb zurückzutreten hat, weil ein anderer Veranstalter – etwa mit dem Ziel der Verhinderung dieser Veranstaltung – für den vorgesehenen Zeitpunkt und Ort ebenfalls eine Versammlung anmeldet. Die Ausrichtung allein am Prioritätsgrundsatz würde es allerdings ausschließen, gegenläufige Erwägungen zu berücksichtigen. So können wichtige Gründe, etwa die besondere Bedeutung des Ortes und Zeitpunktes für die Verfolgung des jeweiligen Versammlungszwecks, für eine andere Vorgehensweise sprechen. Die Ausrichtung allein am Prioritätsgrundsatz könnte im Übrigen dazu verleiten, Versammlungen an bestimmten Tagen und Orten frühzeitig – gegebenfalls auf Jahre hinaus auf Vorrat – anzumelden und damit anderen potentiellen Veranstaltern die Durchführung von Versammlungen am gleichen Tag und Ort unmöglich zu machen. Dies widerspräche dem Anliegen, die Ausübung der Versammlungsfreiheit grundsätzlich allen Grundrechtsträgern zu ermöglichen.
Der Prioritätsgrundsatz wird aber maßgebend, wenn die spätere Anmeldung allein oder überwiegend zu dem Zweck erfolgt, die zuerst angemeldete Versammlung an diesem Ort zu verhindern. Die zeitlich nachrangig angemeldete Veranstaltung hat allerdings nicht schon deshalb zurückzutreten, weil die geplante Versammlung des Erstanmelders einen Anstoß zur Durchführung der später angemeldeten Versammlung gegeben hat. Aufrufe zu Versammlungen reagieren häufig auf aktuelle Anstöße. Kommt es zu konkurrierenden Nutzungwünschen, ist eine praktische Konkordanz bei der Ausübung der Grundrechte unterschiedlicher Grundrechtsträger herzustellen. Dabei kann die Behörde aus hinreichend gewichtigen Gründen unter strikter Berücksichtigung des Grundsatzes inhaltlicher Neutralität von der zeitlichen Reihenfolge der Anmeldung einer Versammlung abweichen.
cc) Das Verwaltungsgericht hat vorliegend festgestellt, dass zwar ein Anstoß für die Veranstaltung des Senats von den Versammlungsplänen der Antragstellerin ausgegangen ist, dass aber kein Anhalt für die Annahme besteht, diese Veranstaltung an dem 8. Mai 2005, einem für die Bundesrepublik Deutschland in hervorgehobenen Maße bedeutsamen Tag, sei vom Senat des Landes Berlin allein oder überwiegend zur Verhinderung der Versammlung der Beschwerdeführerin initiiert worden. An derartige Tatsachenfestellungen ist das Bundesverfassungsgericht gebunden (vgl. BVerfGE 34, 211 ≪216≫; 36, 37 ≪40≫).
b) Es ist im Zuge der verfassungsrechtlichen Überprüfung nicht zu beanstanden, dass die Behörde und die Gerichte bei ihrer Entscheidung über Auflagen an die Beschwerdeführerin angenommen haben, dass die geplante Veranstaltung des Senats und die von der Beschwerdeführerin angemeldete Versammlung aus inhaltlichen Gründen und wegen des Risikos gewalttätiger Auseinandersetzungen nicht gleichzeitig am identischen Ort durchgeführt werden können. Dies führt zu der Notwendigkeit von Vorkehrungen zur Vermeidung der örtlichen Überschneidung beider Veranstaltungen.
Es ist ebenfalls verfassungsrechtlich bedenkenfrei, dass die Gerichte bei der Entscheidung über die Nutzung des Platzes in der Bedeutung des Ortes für die Verwirklichung des Veranstaltungszwecks einen wichtigen Grund zum Abweichen vom Prioritätsgrundsatz gesehen haben. Dabei sind sie davon ausgegangen, dass der Platz des 18. März wegen seiner Nähe zum Brandenburger Tor, zum Reichstagsgebäude und zum sowjetischen Ehrenmal an der Straße des 17. Juni besondere Bedeutung für eine Veranstaltung am Jahrestag der Kapitulation für die Darstellung und Würdigung der historische Ursprünge für die Bundesrepublik Deutschland nach innen und außen habe. Die Beschwerdeführerin habe diese Annahme in ihrer Beschwerde an das Oberverwaltungsgericht nicht substantiiert in Frage gestellt.
Auch im vorliegenden Verfahren ist die Beschwerdeführerin dieser Argumentation nicht entgegen getreten. Sie hat insbesondere nicht dargelegt, warum sie zur Erreichung des Zwecks der von ihr angemeldeten Versammlung in vergleichbarer Weise auf diesen Ort angewiesen ist.
Unterschriften
Papier, Steiner, Hoffmann-Riem
Fundstellen
Haufe-Index 1379976 |
NJW 2005, 3060 |
NVwZ 2005, 1055 |
NVwZ 2005, 912 |
JuS 2005, 1031 |
BayVBl. 2005, 592 |
DVBl. 2005, 969 |
NPA 2006, -- |