Entscheidungsstichwort (Thema)
Ausschlussfrist des EStG § 66 Abs. 3 i.d.F vom 18. 12. 1995: Antrag auf rückwirkende Gewährung von Kindergeld
Leitsatz (redaktionell)
1. Dass § 66 Abs. 3 EStG a.F. die rückwirkende Zahlung von Kindergeld auf sechs Monate vor Antragstellung begrenzt, ist verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden.
2. Es steht dem Gesetzgeber grundsätzlich frei, die kindesbedingte Minderung der Leistungsfähigkeit entweder im Steuerrecht zu berücksichtigen oder ihr statt dessen im Sozialrecht durch die Gewährung eines dafür ausreichenden Kindergeldes Rechnung zu tragen oder auch eine Entlastung im Steuerrecht und eine solche durch das Kindergeld miteinander zu kombinieren.(Leitsätze nicht amtlich)
Normenkette
EStG § 66 Abs. 3, § 52 Abs. 32b, 62; GG Art. 3 Abs. 1, Art. 1, 20 Abs. 1, Art. 6 Abs. 1
Verfahrensgang
Tenor
Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen.
Gründe
Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Frage, ob die Ausschlussfrist des § 66 Abs. 3 EStG in der für das Kindergeld für die Jahre 1996 und 1997 geltenden Fassung i.V.m. § 52 Abs. 32b EStG in der im Jahr 1998 geltenden Fassung, wonach das Kindergeld rückwirkend nur für die letzten sechs Monate vor Beginn des Monats gezahlt wurde, in dem der Antrag auf Kindergeld eingegangen ist, verfassungsgemäß ist.
I.
§ 66 Abs. 3 EStG ist durch das Jahressteuergesetz 1996 im Zusammenhang mit der Neuregelung des Familienleistungsausgleichs mit Wirkung ab 1. Januar 1996 eingeführt worden. Nach dieser Vorschrift ist die rückwirkende Zahlung von Kindergeld auf sechs Monate begrenzt. Für weiter zurückliegende Zeiträume ist das Kindergeld demgemäß auch dann nicht zu zahlen, wenn die Anspruchsvoraussetzungen im Übrigen vorliegen. Der Gesetzgeber hat mit dem Ersten Gesetz zur Änderung des Dritten Buches Sozialgesetzbuch und anderer Gesetze vom 16. Dezember 1997 (BGBl I, S. 2970) § 66 Abs. 3 EStG mit Wirkung ab 1. Januar 1998 gestrichen und gleichzeitig geregelt, dass die Vorschrift letztmals für das Kalenderjahr 1997 anzuwenden ist, § 52 Abs. 32b EStG (Anwendungsvorschrift wurde seit dem beibehalten, derzeit geregelt in Abs. 62 des § 52 EStG), so dass Kindergeld auf einen nach dem 31. Dezember 1997 gestellten Antrag rückwirkend längstens bis einschließlich Juli 1997 gezahlt werden kann. Durch diese Vorschrift wollte der Gesetzgeber sicherstellen, dass die Geltung des § 66 Abs. 3 EStG a.F. für die Jahre 1996 und 1997 nicht durch einen nach dem 31. Dezember 1997 gestellten Antrag umgangen werden kann (BTDrucks 13/8994, S. 76).
II.
1. Der Beschwerdeführer beantragte am 6. Februar 1998 bei der Familienkasse des Arbeitsamtes die Festsetzung des Kindergeldes für seinen Sohn Stefan (geb. am 22. September 1978) für den Zeitraum von Januar 1996 bis September 1996. Die Familienkasse lehnte den Antrag des Beschwerdeführers mit Bescheid vom 20. Februar 1998 ab, da bei einer Antragstellung nach dem 31. Dezember 1997 rückwirkend längstens ab Juli 1997 Kindergeld gezahlt werden könne. Für weiter zurückliegende Monate bestehe kein Anspruch auf Kindergeld. Einspruch und Klage blieben ohne Erfolg. Die Revision hat der Bundesfinanzhof mit Urteil vom 14. Mai 2002 als unbegründet zurückgewiesen; er hält insbesondere die gemäß § 52 Abs. 32b EStG 1998 anzuwendende Antragsfrist des § 66 Abs. 3 EStG a.F. für mit der Verfassung vereinbar.
2. Mit seiner Verfassungsbeschwerde begehrt der Beschwerdeführer festzustellen, dass § 66 Abs. 3 EStG a.F. i.V.m. § 52 Abs. 32b EStG 1998 mit dem Grundgesetz unvereinbar und deshalb das Urteil des Bundesfinanzhofs aufzuheben sei. Zur Begründung heißt es, nach den Vorstellungen des Gesetzgebers werde durch die Kindergeldzahlungen im Einkommensteuerrecht das Prinzip der Besteuerung nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit verwirklicht. Die leistungsfähigkeitsgerechte Besteuerung könne aber ebenso wenig von einem Antrag des Berechtigten abhängig gemacht werden wie die Berücksichtigung von Kinderfreibeträgen. Durch den 1996 eingeführten Familienleistungsausgleich (§ 31 EStG) werde im laufenden Jahr das Existenzminimum des Kindes nur bei rechtzeitiger Antragstellung steuerlich berücksichtigt. Verfahrensrechtliche Schranken wie das Antragsverfahren als solches, aber auch die geltenden Ausschlussfristen in § 66 Abs. 3 EStG a.F. seien mit dem Gebot der steuerlichen Verschonung des Familienexistenzminimums nicht zu vereinbaren. Es könne nicht mit dem Gleichbehandlungsgrundsatz des Art. 3 GG vereinbar sein, dass ein Steuerpflichtiger mit einem Einkommen unterhalb des zu versteuernden Einkommens leer ausgehe, während ein gutverdienender Steuerpflichtiger bei der Einkommensteuerveranlagung durch den Kinderfreibetrag entlastet werde, auch wenn er die Antragsfrist des § 66 Abs. 3 EStG a.F. versäumt habe. Dies stelle zugleich eine Verletzung des Art. 6 Abs. 1 GG dar.
III.
Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen. Die Annahmevoraussetzungen liegen nicht vor. Der Verfassungsbeschwerde kommt weder grundsätzliche verfassungsrechtliche Bedeutung zu noch ist ihre Annahme zur Durchsetzung der in § 90 Abs. 1 BVerfGG genannten Rechte angezeigt (§ 93a Abs. 2 BVerfGG). Die Verfassungsbeschwerde ist jedenfalls unbegründet und hat daher keine hinreichende Aussicht auf Erfolg (vgl. BVerfGE 90, 22 ≪24 ff.≫).
1. Die Ausschlussfrist des § 66 Abs. 3 EStG a.F. i.V.m. § 52 Abs. 32b EStG 1998 verstößt nicht gegen das verfassungsrechtliche Gebot der steuerlichen Verschonung des Familienexistenzminimums.
a) Nach gefestigter Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (zusammenfassend BVerfGE 99, 246 ≪259 f.≫ m.w.N. der ständigen Rechtsprechung) fordert das Grundgesetz, dass existenznotwendiger Aufwand in angemessener, realitätsgerechter Höhe von der Einkommensteuer freigestellt wird. Verfassungsrechtlicher Prüfungsmaßstab ist der sich aus Art. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 1 GG ergebende Grundsatz, dass der Staat dem Steuerpflichtigen sein Einkommen insoweit steuerfrei belassen muss, als es zur Schaffung der Mindestvoraussetzungen für ein menschenwürdiges Dasein benötigt wird. Der existenznotwendige Bedarf bildet von Verfassungs wegen die Untergrenze für den Zugriff durch die Einkommensteuer. Art. 6 Abs. 1 GG gebietet darüber hinaus, dass bei der Besteuerung einer Familie das Existenzminimum sämtlicher Familienmitglieder steuerfrei bleiben muss.
Mindestens das, was der Gesetzgeber dem Bedürftigen zur Befriedigung seines existenznotwendigen Bedarfs aus öffentlichen Mitteln zur Verfügung stellt, muss er auch dem Einkommensbezieher von dessen Erwerbsbezügen belassen (vgl. BVerfGE 87, 153 ≪171≫; 91, 93 ≪111≫; 99, 246 ≪260≫).
Dem Gesetzgeber steht es jedoch grundsätzlich frei, die kindesbedingte Minderung der Leistungsfähigkeit entweder im Steuerrecht zu berücksichtigen oder ihr statt dessen im Sozialrecht durch die Gewährung eines dafür ausreichenden Kindergeldes Rechnung zu tragen oder auch eine Entlastung im Steuerrecht und eine solche durch das Kindergeld miteinander zu kombinieren (vgl. BVerfGE 82, 60 ≪84≫; 99, 246 ≪265≫).
b) Diesen Maßstäben genügt die den angegriffenen Entscheidungen zugrunde liegende Regelung des § 66 Abs. 3 EStG a.F. unter Berücksichtigung der übrigen Regelungen zum Familienleistungsausgleich. Nach der gesetzgeberischen Konzeption des Familienleistungsausgleichs gemäß § 31 Satz 1 EStG wird die steuerliche Freistellung eines Einkommensbetrags in Höhe des Existenzminimums eines Kindes durch die Freibeträge nach § 32 Abs. 6 oder durch Kindergeld bewirkt. Das Kindergeld wird – auf Antrag (§ 67 EStG) – im laufenden Jahr als Steuervergütung monatlich gezahlt (§ 31 Satz 3 EStG). Damit wird zunächst nur sicher gestellt, dass bereits im Rahmen der (vorläufigen) Steuererhebung (Lohnsteuer, Einkommensteuervorauszahlungen) auch die subjektive Leistungsfähigkeit der Steuerpflichtigen näherungsweise berücksichtigt wird. Wird durch das Kindergeld die gebotene steuerliche Freistellung nicht bewirkt, werden bei der Veranlagung die Freibeträge berücksichtigt (§ 31 Satz 4 EStG). Soweit das Kindergeld allerdings zur steuerlichen Freistellung eines Einkommensbetrags in Höhe des Existenzminimums eines Kindes nicht erforderlich ist, dient es der Förderung der Familie (§ 31 Satz 2 EStG).
Bereits mit den Freibetragsregelungen wird demnach gewährleistet, dass ein einkommensteuerlicher Zugriff auf Einkommen, das zur Deckung des Familienexistenzminimums benötigt wird, im Ergebnis nicht erfolgt, ohne dass es auf einen gesonderten Antrag ankäme.
Soweit das Kindergeld nach § 31 Satz 2 EStG der Förderung der Familie dient, wie z.B. im vorliegenden Fall, in dem der unterhaltspflichtige Beschwerdeführer mit seinem zu versteuernden Einkommen in Höhe von 10.310 DM unterhalb des Grundfreibetrages von 12.095 DM im Jahr 1996 (§ 32a Abs. 1 EStG) liegt, sind die Maßstäbe zum Gebot der steuerlichen Verschonung des Existenzminimums nicht anzuwenden. Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Familienbesteuerung (insbesondere BVerfGE 99, 246 m.w.N.) betrifft die steuerliche Verschonung durch Kinderfreibeträge oder Kindergeld, nicht aber die Frage, ob und inwieweit das Kindergeld über seine Funktion der steuerlichen Verschonung des Existenzminimums hinaus verfassungsrechtlich geboten ist.
2. Die Ausschlussfrist des § 66 Abs. 3 EStG a.F. verstößt nicht gegen Art. 3 Abs. 1 GG, soweit – wie im Ausgangsverfahren – lediglich die Funktion des Kindergeldes als Förderung der Familie betroffen ist. Vielmehr ist die unterschiedliche Regelung der Fristen bei der Festsetzung der Einkommensteuer und hinsichtlich des Kindergeldes im Wesentlichen aus den Gründen, die der Bundesfinanzhof in seiner hier angegriffenen Entscheidung genannt hat, sachlich gerechtfertigt. Zwar trifft es zu, dass der Kinderfreibetrag bis zum Ablauf der für die Einkommensteuerveranlagung maßgeblichen vierjährigen Festsetzungsfrist (§ 169 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AO 1977) berücksichtigt werden kann, während der Anspruch auf Zahlung von Kindergeld für zurückliegende Monate nach § 66 Abs. 3 EStG a.F. erlischt, wenn er nicht spätestens innerhalb von sechs Monaten bei der zuständigen Behörde geltend gemacht wird. Mit dieser unterschiedlichen Regelung hat der Gesetzgeber, der bei der Gewährung einer staatlichen Sozialleistung eine größere Gestaltungsfreiheit als bei der steuerlichen Berücksichtigung von Unterhaltsleistungen hat(BVerfGE 87, 1 ≪36≫), diese Gestaltungsfreiheit nicht missbraucht. Zu Recht stellt der Bundesfinanzhof fest, dass es nicht evident sachwidrig ist, wenn für einen Antrag auf Kindergeld andere Fristen gelten als für eine Einkommensteuerveranlagung. Das Kindergeld wird als Steuervergütung ohne Rücksicht auf die steuerlichen Verhältnisse des Antragstellers gewährt, während für eine Einkommensteuerveranlagung alle einkommensteuerrechtlich relevanten Verhältnisse des Steuerpflichtigen für den betreffenden Veranlagungszeitraum zu ermitteln sind. Im Gegensatz zur Festsetzung der Einkommensteuer kann das Vorliegen der Voraussetzungen für die Gewährung des Kindergeldes im Allgemeinen ohne besonderen Aufwand festgestellt werden.
Von einer weiteren Begründung wird gemäß § 93d Abs. 1 Satz 3 BVerfGG abgesehen.
Diese Entscheidung ist unanfechtbar.
Unterschriften
Hassemer, Osterloh, Mellinghoff
Fundstellen
Haufe-Index 1067465 |
HFR 2004, 260 |
FamRZ 2004, 253 |
NVwZ-RR 2004, 81 |
FPR 2004, 271 |