Entscheidungsstichwort (Thema)
Fristbeginn für einen Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand
Leitsatz (redaktionell)
1. Aufgrund der Gewährleistungen des Art. 19 Abs. 4 GG und des Art. 103 Abs. 1 GG dürfen bei der Auslegung und Anwendung der für die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand (hier nach § 60 VwGO) maßgeblichen Vorschriften die Anforderungen an das, was der Betroffene veranlasst haben muss, um eine Wiedereinsetzung zu erlangen, nicht überspannt werden.
2. Dem Bürger dürfen Verzögerungen der Briefbeförderung oder -zustellung durch die Deutsche Post AG nicht als Verschulden zugerechnet werden. Dabei bedeutet die Behandlung der Versäumung der Klagefrist als unverschuldet nicht, dass deshalb der Betroffene jeglicher Sorgfaltspflicht in der (weiteren) Wahrnehmung seiner Rechte enthoben ist.
3. Bevollmächtigte Rechtsanwälte, deren Verhalten sich der Beschwerdeführer zurechnen lassen muss (§ 173 VwGO i.V.m. § 85 Abs. 2 ZPO), müssen auf Grund eines Gerichtsschreibens mit der Angabe über das Datum des Klageeingangs die Fristversäumung erkennen. Rechtsanwälte sind bei Eingang eines entsprechenden Schreibens gehalten, das mitgeteilte Eingangsdatum bei Gericht mit dem in den Akten vermerkten Zustellungsdatum des Behördenbescheids abzugleichen. Dieser Abgleich dient der Kontrolle, ob die Rechtsmittelfrist gewahrt wurde und gegebenenfalls Wiedereinsetzung in die Rechtsmittelfrist beantragt werden muss. Dies gilt unabhängig davon, ob mit der Einlegung des Rechtsmittels – anders als bei der verwaltungsgerichtlichen Klageerhebung – eine Rechtsmittelbegründungsfrist in Lauf gesetzt wird oder nicht.
Normenkette
GG Art. 19 Abs. 4, Art. 103 Abs. 1; VwGO § 60 Abs. 1, 2 S. 1, § 173; ZPO § 85 Abs. 2
Verfahrensgang
VG Stuttgart (Urteil vom 18.02.2002; Aktenzeichen A 17 K 11725/01) |
Tatbestand
I.
Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Frage des Fristbeginns für einen Antrag auf Wiedereinsetzung in eine versäumte Klagefrist.
Die Bevollmächtigten des Beschwerdeführers gaben im Rahmen eines Asylverfahrens eine Klageschrift innerhalb der üblichen Postlaufzeiten vor Ablauf der Frist zur Erhebung einer Klage zur Post; die Klage ging erst nach Ablauf dieser Frist bei dem Verwaltungsgericht ein. Das Gericht übersandte den Rechtsanwälten eine Eingangsbestätigung, die außer dem Datum der Klageschrift und dem Zugangsdatum keinen weiteren Hinweis auf die Versäumung der Klagefrist enthielt, ansonsten auf die Anzahl der Abschriften bei der künftigen Vorlage von Schriftsätzen und die Übersendung von Verwaltungsakten nach deren Eingang hinwies. Nachdem Monate später das Gericht die verspätete Klageerhebung schriftlich den Bevollmächtigten mitgeteilt hatte, beantragten diese die Wiedereinsetzung in die versäumte Klagefrist.
Das Verwaltungsgericht wies die Klage unter Ablehnung des Antrags auf Wiedereinsetzung als offensichtlich unzulässig ab. Der Antrag sei nicht binnen zwei Wochen nach Wegfall des Hindernisses, d.h. dem Zeitpunkt, in dem die Fristversäumung bekannt war oder hätte bekannt sein müssen, gestellt worden. Die Versäumung der Klagefrist habe hier spätestens zu dem Zeitpunkt bekannt sein müssen, als dem Rechtsanwalt das Eingangsbestätigungsschreiben mit dem Datum des Klageeingangs zugegangen sei.
Entscheidungsgründe
II.
Die Verfassungsbeschwerde ist nicht zur Entscheidung anzunehmen, weil die Voraussetzungen des § 93a Abs. 2 BVerfGG nicht vorliegen. Ihr kommt keine grundsätzliche verfassungsrechtliche Bedeutung zu. Ihre Annahme ist auch nicht zur Durchsetzung der von dem Beschwerdeführer als verletzt bezeichneten Verfassungsrechte angezeigt. Denn die Verfassungsbeschwerde hat keine hinreichende Aussicht auf Erfolg (vgl. BVerfGE 90, 22 ≪25 f.≫).
1. Im Hinblick auf die Gewährleistungen des Art. 19 Abs. 4 GG und des Art. 103 Abs. 1 GG dürfen bei der Auslegung und Anwendung der für die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand (hier nach § 60 VwGO) maßgeblichen Vorschriften die Anforderungen an das, was der Betroffene veranlasst haben muss, um eine Wiedereinsetzung zu erlangen, nicht überspannt werden (vgl. BVerfGE 40, 88 ≪91≫; 67, 208 ≪212 f.≫; 69, 381 ≪385≫; stRspr). Insbesondere dürfen dem Bürger Verzögerungen der Briefbeförderung oder -zustellung durch die Deutsche Post AG nicht als Verschulden zugerechnet werden. Er darf vielmehr darauf vertrauen, dass die nach den organisatorischen und betrieblichen Vorkehrungen der Post für den Normalfall festgelegten Postlaufzeiten eingehalten werden, vorausgesetzt, das zu befördernde Schriftstück wurde rechtzeitig und ordnungsgemäß zur Post gegeben (vgl. BVerfGE 53, 25 ≪28 f.≫; 62, 334 ≪336 f.≫; Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 15. Mai 1995 – 1 BvR 2440/94 –, NJW 1995, S. 2546). Versagen diese Vorkehrungen, darf das dem Betroffenen, der darauf keinen Einfluss hat, im Rahmen der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nicht als Verschulden zur Last gelegt werden.
Nach Maßgabe dieser Grundsätze hat das Verwaltungsgericht, ohne es ausdrücklich auszuführen, eine unverschuldete Versäumung der Klagefrist zu Grunde gelegt.
2. Die Behandlung der Versäumung der Klagefrist als unverschuldet bedeutet nicht, dass deshalb der Betroffene jeglicher Sorgfaltspflicht in der (weiteren) Wahrnehmung seiner Rechte enthoben ist (vgl. BVerfGE 42, 120 ≪126≫). Die Wiedereinsetzung greift in die Rechtskraft ein, weshalb das Verfahren zur Überwindung der Ungewissheit über die Rechtsbeständigkeit auf Beschleunigung angelegt ist. Dies äußert sich darin, dass der Antrag binnen zwei Wochen nach Wegfall des Hindernisses unter Darlegung von Gründen zu stellen ist (vgl. § 60 Abs. 2 VwGO). Davon ausgehend ist es mit den genannten Verfassungsrechten zu vereinbaren, wenn von einem Betroffenen, der Anlass hat und in der Lage ist, von sich aus zum Wegfall des Hindernisses beizutragen, verlangt wird, zumutbare Anstrengungen in dieser Richtung zu unternehmen (vgl. BVerfGE 42, 120 ≪126≫).
3. Die Auffassung des Verwaltungsgerichts, die bevollmächtigten Rechtsanwälte, deren Verhalten sich der Beschwerdeführer zurechnen lassen muss (§ 173 VwGO i.V.m. § 85 Abs. 2 ZPO), hätten auf Grund des Gerichtsschreibens mit der Angabe über das Datum des Klageeingangs die Fristversäumung erkennen müssen, unterliegt danach keiner verfassungsrechtlichen Beanstandung. Die Rechtsanwälte waren bei Eingang dieses Schreibens gehalten, das dort mitgeteilte Eingangsdatum bei Gericht mit dem in den Akten vermerkten Zustellungsdatum des Behördenbescheids abzugleichen (Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 25. November 1994 – 2 BvR 852/93 –, NJW 1995, S. 711, 712). Dieser Abgleich dient der Kontrolle, ob die Rechtsmittelfrist gewahrt wurde und gegebenenfalls Wiedereinsetzung in die Rechtsmittelfrist beantragt werden muss. Dies gilt unabhängig davon, ob mit der Einlegung des Rechtsmittels – anders als bei der verwaltungsgerichtlichen Klageerhebung – eine Rechtsmittelbegründungsfrist in Lauf gesetzt wird oder nicht (vgl. Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 25. November 1994 – 2 BvR 852/93 –, a.a.O.). Es ist nicht ersichtlich oder dargetan, dass den Rechtsanwälten damit in unzumutbarer, aus Sachgründen nicht mehr zu rechtfertigender Weise der Zugang zu dem Gericht erschwert worden wäre. Das Eingangsbestätigungsschreiben, das das für die Rechtsanwälte selbst nicht feststellbare Datum der Rechtshängigkeit der Klage wiedergibt, steht in unmittelbarem zeitlichen und inhaltlichen Zusammenhang mit der Klageerhebung. Darin musste ein Anhalt gesehen werden, sich mit der Rechtsmittelfrist zu befassen. Verstärkend kommt vorliegend hinzu, dass das Schreiben auf den Eingang der Klage vom 24. Juli 2001 am 31. Juli 2001 hinweist, damit also bereits auf den ersten Blick einen Zeitraum bezeichnet, der nicht unerheblich über die übliche Postlauffrist von drei Tagen hinausgeht.
Die verfassungsrechtliche Betrachtung gebietet es nicht, die Feststellung des Hindernisses für die fristgemäße Klageerhebung auf der Grundlage des Eingangsbestätigungsschreibens als für die Rechtsanwälte unzumutbar anzusehen, weil sie sich auf den fristgerechten Klageeingang bei Gericht auf dem Postweg hätten verlassen dürfen. Verzögerungen bei grundsätzlich regulärem Postlauf hindern lediglich die Annahme einer verschuldeten Versäumnis der Rechtsmittelfrist. Hier geht es um die Anschlussfrage, welche Anforderungen im Zusammenhang mit einem Wiedereinsetzungsantrag zu stellen sind. Die Annahme der unverschuldeten Versäumung der Rechtsmittelfrist schlägt nicht auf das Wiedereinsetzungsverfahren selbst durch, indem es die Sorgfaltsanforderungen für die weitere Rechtswahrnehmung herabsetzt. Dafür gibt es weder eine sachliche Notwendigkeit noch eine sachliche Rechtfertigung. Dem Zweck der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand, eine Abwägung der Erfordernisse der Rechtssicherheit mit der Forderung nach materieller Gerechtigkeit zu treffen, wird die verwaltungsgerichtliche Entscheidung auf angemessene Weise gerecht.
Diese Entscheidung ist unanfechtbar.
Fundstellen
Haufe-Index 1491751 |
NJW 2003, 1516 |
SGb 2003, 456 |
KammerForum 2003, 275 |