Verfahrensgang
LG München I (Beschluss vom 24.03.2010; Aktenzeichen 15 Qs 13/10) |
AG München (Beschluss vom 05.03.2010; Aktenzeichen ER V Gs 1493/10) |
Tenor
Die Beschlüsse des Landgerichts München I vom 24. März 2010 – 15 Qs 13/10 – und des Amtsgerichts München vom 5. März 2010 – ER V Gs 1493/10 – verletzen die Beschwerdeführerin in ihrem Grundrecht aus Artikel 2 Absatz 1 in Verbindung mit Artikel 20 Absatz 3 des Grundgesetzes. Sie werden aufgehoben. Die Sache wird an das Landgericht zurückverwiesen.
Der Freistaat Bayern hat der Beschwerdeführerin die notwendigen Auslagen für das Verfassungsbeschwerdeverfahren zu erstatten.
Tatbestand
A.
Die Verfassungsbeschwerde betrifft den fernmündlichen Verkehr zwischen einem Untersuchungsgefangenen und seinem Verteidiger.
I.
1. Die Beschwerdeführerin wurde am 9. Dezember 2009 wegen Flucht- und Verdunkelungsgefahr in der Justizvollzugsanstalt München in Untersuchungshaft genommen. Am selben Tag traf die Ermittlungsrichterin folgende Anordnung zum Vollzug der Untersuchungshaft mit Geltung ab 1. Januar 2010:
„I. Gemäß § 119 Abs. 1 StPO wird angeordnet: (…)
2. Telekommunikation:
- Die Telekommunikation bedarf der Erlaubnis
- Die Telekommunikation ist zu überwachen (…)
II. Zuständige Stelle:
Die Ausführung der Anordnungen gemäß Ziffer I dieses Beschlusses wird gemäß § 119 Abs. 2 Satz 2 StPO widerruflich auf die Staatsanwaltschaft München I übertragen. (…)”
In den Gründen des Beschlusses heißt es unter anderem:
„Der Verkehr des/der Beschuldigten mit dem Personenkreis gemäß § 119 Abs. 4 Sätze 1 und 2 StPO (insbesondere Verteidiger) bleibt unberührt. Die Entscheidung, ob die Voraussetzungen hierzu vorliegen, trifft die zuständige Stelle (vgl. Ziffer II).”
2. Mit zwei Fernschriften vom 16. Februar 2010 beantragte der Verteidiger der Beschwerdeführerin bei der Justizvollzugsanstalt die Genehmigung für ein fernmündliches Gespräch mit seiner Mandantin an einem der nachfolgenden Tage. Die Justizvollzugsanstalt lehnte eine Genehmigung ab, weil es einer richterlichen Genehmigung bedürfe. Der Verteidiger beantragte sodann mit Schreiben vom 3. März 2010 die richterliche Genehmigung eines fernmündlichen Gesprächs mit seiner Mandantin. Bisher habe er dreimal die Gelegenheit zu solchen Gesprächen von je etwa fünfminütiger Dauer gehabt, um verteidigungsrelevante Fragen zu erörtern. Das nunmehr beantragte Telefonat sei zur Fertigung eines Schriftsatzes erforderlich. Wegen des besonderen Vertrauensverhältnisses und aus wirtschaftlichen Gründen könne kein weiterer Verteidiger einbezogen werden. Brieflicher Verkehr sei unzureichend, weil Fragen im direkten Dialog zu klären seien. Unabhängig davon, dass die Forderung der Angabe von Gründen für die Durchführung eines Verteidigertelefonats die anwaltliche Schweigepflicht berühre, habe er bereits angegeben, dass er mit der Beschwerdeführerin die Reaktion auf die Ablehnung der Außervollzugsetzung des Haftbefehls besprechen wolle.
3. Mit angegriffenem Beschluss vom 5. März 2010 lehnte die Ermittlungsrichterin den Antrag ab. Aus Gründen der Anstaltssicherheit und der Gleichbehandlung könne die Erlaubnis zum fernmündlichen Verkehr nur erteilt werden, wenn ein gewichtiger Grund vorliege. Fernmündliche Gespräche seien mit einem erheblichen, die Anstaltssicherheit gefährdenden personellen und organisatorischen Aufwand verbunden und könnten aus Sicherheitsgründen nur aus dem Geschäftszimmer der Dienstleitung und im Beisein eines Vollzugsbediensteten erfolgen. Die Erteilung der Erlaubnis zöge zahlreiche gleichartige Anträge anderer Gefangener nach sich, denen dann ebenso nachzukommen wäre. Zudem bestehe für das Strafverfahren und die Anstaltssicherheit ein Risiko, weil sich nicht mit Sicherheit feststellen lasse, ob der Gesprächspartner tatsächlich der Verteidiger oder eine sonstige, gegebenenfalls verfahrensrelevante Person sei. Gewichtige Gründe, welche das fernmündliche Gespräch notwendig erscheinen ließen, seien nicht ersichtlich. Dass bereits drei Telefonate stattgefunden hätten, rechtfertige nicht die Erwartung einer Fortsetzung dieser Praxis. Der Beschwerdeführerin seien die praktischen Nachteile der Wahl eines ortsfremden Verteidigers bekannt. Ein beschleunigter Informationsaustausch sei durch Beauftragung eines ortsansässigen Korrespondenzanwalts oder im Wege des Schriftverkehrs möglich. Da seit der Ablehnung des Antrags auf Aussetzung des Haftbefehls fast ein Monat vergangen sei, sei die Besprechung einer Reaktion auf diesen Beschluss zumindest nicht dringlich.
4. Mit der gegen diesen Beschluss gerichteten Beschwerde rügte der Verteidiger eine Verkürzung der Verteidigungsrechte. Die Beschränkung der Genehmigung fernmündlichen Verteidigerkontakts auf Ausnahmefälle widerspreche der Gesetzeslage, die eine Beschränkung der Telekommunikation nur im Ausnahmefall erlaube. Die organisatorischen Belange der Justizvollzugsanstalt genügten nicht, um das Telefonat abzulehnen.
Mit angegriffenem Beschluss verwarf die Strafkammer die Beschwerde „aus den zutreffenden Gründen des angefochtenen Beschlusses” und ergänzte, dass die Ausführung der Anordnung über den Vollzug der Untersuchungshaft der Ermittlungsrichterin oblegen habe, weshalb die etwaige Erlaubniserteilung durch die Justizvollzugsanstalt rechtswidrig gewesen sei, zumal der Haftgrund der Verdunkelungsgefahr eine strenge, in der Praxis kaum durchführbare Identitätsprüfung erfordere.
5. Nach Erhebung der Verfassungsbeschwerde wurde die Beschwerdeführerin durch die Wirtschaftsstrafkammer zu einer mehrjährigen Freiheitsstrafe verurteilt. Der Haftbefehl wurde aufgehoben und die Beschwerdeführerin aus der Untersuchungshaft entlassen.
II.
1. Mit ihrer fristgerecht erhobenen Verfassungsbeschwerde rügt die anwaltlich vertretene Beschwerdeführerin die Verletzung ihrer Rechte aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 und Art. 3 Abs. 1 GG (Willkürverbot). In der Sache rügt sie zudem die Verletzung ihres Rechts auf effektive Verteidigung.
Der Vollzug der Untersuchungshaft müsse die in Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG gewährleistete persönliche Freiheit beachten. Die angegriffenen Entscheidungen hätten willkürlich verkannt, dass die Untersagung des Telefonverkehrs mit dem Verteidiger besonderer Begründung bedürfe. Die Wahl des Verteidigers sei frei, weswegen der Staat auch ortsfernen Verteidigern effektive Verteidigungsmöglichkeiten gewährleisten müsse. Dies schließe die Ermöglichung von Verteidigertelefonaten ein, weil die Dynamik des Ermittlungsverfahrens und die teils verzögerte Erkenntnis des Beschuldigten von der Relevanz zuvor unterschätzter Sachverhaltsmomente das Bedürfnis nach mehrfachem Informationsaustausch mit dem Verteidiger erhöhten. Die Mehrkosten für die zusätzliche Mandatierung eines ortsnahen Korrespondenzanwalts seien unzumutbar. Zudem wisse kein Festgenommener, in welcher Vollzugsanstalt er inhaftiert und wie sich dies in Zukunft verändern werde.
Eine Identitätsprüfung des Gesprächspartners sei technisch möglich. Dass ein Strafverteidiger den Hörer an Dritte weiterreichen könnte, rechtfertige die Beschränkung nicht; der Verteidiger genieße als Organ der Rechtspflege einen Vertrauensvorschuss, solange nicht konkrete Anhaltspunkte gegen seine Integrität sprächen. Auf derartige Anhaltspunkte stützten sich die angegriffenen Entscheidungen jedoch nicht.
Soweit die angegriffenen Entscheidungen auf eine Gefährdung der Anstaltsordnung abstellten, sei zu erinnern, dass Untersuchungsgefangene nur den unvermeidlichen Beschränkungen unterworfen werden dürften, weswegen Grundrechtseingriffe eine reale Gefährdung der Haftzwecke voraussetzten. Hieran fehle es im Fall eines Verteidigertelefonats. Der hierzu erforderliche personelle und sächliche Aufwand entbinde den Staat nicht von seiner Pflicht, Untersuchungsgefangenen eine effektive Verteidigung zu ermöglichen.
2. Das Bayerische Staatsministerium der Justiz und für Verbraucherschutz erachtet die Verfassungsbeschwerde für unzulässig, jedenfalls aber für unbegründet.
a) Die Beschwerdeführerin gebe nicht an, in welchem Grundrecht sie verletzt sei. Ein Verstoß gegen Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG sei nicht schlüssig dargetan, weil Maßnahmen im Vollzug der Untersuchungshaft nicht an Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG zu messen seien. Für die Rüge eines Verstoßes gegen das Recht auf effektive Verteidigung fehle, nachdem der Untersuchungshaftbefehl aufgehoben worden sei, das Rechtsschutzbedürfnis.
b) Jedenfalls sei die Verfassungsbeschwerde unbegründet.
Das Recht auf effektive Verteidigung gewährleiste keinen Anspruch auf uneingeschränkten Kontakt eines Beschuldigten in der vom Verteidiger bevorzugten Kommunikationsart. Es genüge, wenn der Beschuldigte über das eigene Prozessverhalten nach fachlicher Beratung entscheiden und sachdienliche Anträge stellen könne. Die von den angegriffenen Entscheidungen nicht ausgeschlossene Möglichkeit von Verteidigertelefonaten in Dringlichkeitsfällen sei verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. Nach der gesetzgeberischen Konzeption sei nur scheinbar mit dem Verteidiger geführte Kommunikation zu unterbinden. Es bestehe zudem nur ein Anspruch auf Überwachungsfreiheit der Verteidigerkommunikation.
Die Beschränkung auf dringende Verteidigertelefonate sei auch sachlich gerechtfertigt. Sei Untersuchungshaft wegen Verdunkelungsgefahr angeordnet, müsse genau kontrolliert werden, mit wem der Beschuldigte in Kontakt trete. Die Beschränkung sei insbesondere angesichts knapper personeller und sächlicher Mittel erforderlich. Die für die Ermöglichung von Verteidigertelefonaten allein in Betracht kommenden Dienstapparate stünden für die Gesprächsdauer nicht für dienstliche Zwecke zur Verfügung. Das Vollzugspersonal müsse während des Gesprächs sicherstellen, dass Gesprächspartner tatsächlich der Verteidiger sei und der Gefangene keinen Zugriff auf im Dienstzimmer vorhandene Vorgänge oder Gegenstände nehme. Die Grundsätze des Ehegattenbesuchs ließen sich nicht auf die Verteidigerkommunikation übertragen, da letztere keinem Selbstzweck diene und effektive Verteidigung auch durch unmittelbaren Kontakt gewährleistet werden könne. Im Strafverfahren, dem die Abfassung umfangreicher Schriftsätze mit entsprechendem Rücksprachebedarf ohnehin eher fremd sei, drohe auch keine Präklusion. Das primär als Abwehrrecht zu verstehende Recht auf effektive Verteidigung gebiete keine Ausweitung sächlicher Mittel zur Ermöglichung von Verteidigerferngesprächen. Nur in Ausnahmefällen begründe es Leistungsansprüche, welche der Staat bezogen auf den Verteidigerkontakt durch Ermöglichung von Verteidigerbesuchen erfülle. Die Ermöglichung von Verteidigertelefonaten entspreche auch nicht dem von diesem Recht sichergestellten Bild einer Strafverteidigung, da das vertrauliche Gespräch unter vier Augen hier zu kurz komme. Da Entscheidungen stets sowohl dem Beschuldigten als auch seinem Verteidiger bekanntzugeben seien, bestehe ein geringer Bedarf nach Informationsaustausch. Dies gelte auch für Beschuldigte, die sich eines ortsfernen Verteidigers bedienten. Für die Wahl eines ortsfernen Verteidigers sei der Beschuldigte selbst verantwortlich. Er könne zudem einen Korrespondenzanwalt mandatieren. Überdies bestehe kein Recht auf unbedingte Gewährleistung der Verteidigung durch den Anwalt, den der Beschuldigte für am besten geeignet hält.
3. Die Akten des fachgerichtlichen Verfahrens haben der Kammer vorgelegen.
Entscheidungsgründe
B.
I.
Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an, weil dies zur Durchsetzung des Grundrechts der Beschwerdeführerin auf ein faires Verfahren (Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip) angezeigt ist (§ 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG). Die Voraussetzungen für eine stattgebende Kammerentscheidung (§ 93c Abs. 1 BVerfGG) liegen vor. Die für die Beurteilung der Verfassungsbeschwerde maßgeblichen verfassungsrechtlichen Grundsätze sind in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts geklärt (s. unter II.2.). Nach diesen Grundsätzen ist die Verfassungsbeschwerde zulässig und in einem die Zuständigkeit der Kammer begründenden Sinn offensichtlich begründet.
II.
1. Der Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde steht es nicht entgegen, dass der gegen die Beschwerdeführerin erlassene Haftbefehl inzwischen außer Kraft gesetzt ist. Bei gewichtigen Grundrechtseingriffen ist vom Fortbestehen des Rechtsschutzbedürfnisses im Verfassungsbeschwerdeverfahren auch dann auszugehen, wenn sich die direkte Belastung durch den angegriffenen Hoheitsakt auf eine Zeitspanne beschränkt, in welcher der Betroffene nach dem regelmäßigen Geschäftsgang eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts kaum erlangen konnte (vgl. BVerfGE 117, 244 ≪268≫; BVerfGK 11, 54 ≪59≫; BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 24. Januar 2008 – 2 BvR 1661/06 –, juris). Gewichtig im hier maßgeblichen Sinne können neben Grundrechtseingriffen, die das Grundgesetz unter Richtervorbehalt gestellt hat (vgl. BVerfGE 96, 27 ≪40≫; 104, 220 ≪233≫; 117, 244 ≪269≫), auch Eingriffe in andere Grundrechte sein (vgl. nur BVerfGE 110, 77 ≪86≫; BVerfGK 11, 54 ≪59≫; BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 15. Juli 2010 – 2 BvR 1023/08 –, NJW 2011, S. 137 ≪138≫; Beschlüsse der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 15. März 2006 – 2 BvR 1419/05 –, juris, vom 28. September 1999 – 2 BvR 1897/95 u.a. –, NJW 2000, S. 273, und vom 14. Februar 1994 – 2 BvR 2091/93 –, juris).
Danach kann der Beschwerdeführerin ein fortbestehendes Rechtsschutzinteresse nicht abgesprochen werden. Wegen der typischerweise kurzen Dauer der Untersuchungshaft kann ein Untersuchungsgefangener nach dem regelmäßigen Geschäftsgang eine stattgebende Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zu Maßnahmen in deren Vollzug nicht erlangen, während die Untersuchungshaft noch andauert. Entfiele das Rechtsschutzbedürfnis für Verfassungsbeschwerden, die Maßnahmen im Vollzug der Untersuchungshaft betreffen, jeweils mit dem Übergang des Betroffenen in die Strafhaft oder mit einer aufgrund dessen erfolgenden Verlegung, so fiele ein wirksamer verfassungsgerichtlicher Grundrechtsschutz in diesem Bereich weitgehend aus (vgl. BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 15. November 2010 – 2 BvR 1183/09 –, juris). Angesichts der herausragenden Bedeutung des Zugangs eines Beschuldigten zu dem Verteidiger seines Vertrauens (vgl. BVerfGE 15, 226 ≪234≫; 34, 293 ≪302 f.≫; BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 9. Dezember 2008 – 2 BvR 2341/08 –, juris) und des daraus folgenden Gewichts von Grundrechtseingriffen, die die Kommunikation mit dem Verteidiger betreffen, entfällt das Rechtsschutzinteresse auch nicht deshalb, weil der gerügte Grundrechtseingriff nicht die erforderliche Schwere erreichte.
2. Die angegriffenen Beschlüsse verletzen die Beschwerdeführerin in ihrem Grundrecht auf ein faires Verfahren aus Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip.
a) Maßnahmen, die den freien Kontakt zwischen dem Beschuldigten und seinem Verteidiger behindern, berühren das Recht auf ein faires Verfahren (vgl. BVerfGE 49, 24 ≪55≫), das seine Grundlage im Grundrecht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit aus Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip hat (vgl. BVerfGE 26, 66 ≪71≫; 38, 105 ≪111≫; 40, 95 ≪99≫; 65, 171 ≪174≫; 66, 313 ≪318≫; 77, 65 ≪76≫; 86, 288 ≪317≫). Das Recht auf ein faires Verfahren, dem in vieler Hinsicht auf unterschiedliche Weisen Rechnung getragen werden kann, in einer den sachlichen Gegebenheiten angemessenen Weise zu konkretisieren, ist in erster Linie Sache des Gesetzgebers (vgl. BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 8. Juni 2010 – 2 BvR 432/07 u.a. –, NJW 2011, S. 591 ≪592 f.≫). Werden die das Recht auf ein faires Verfahren ausgestaltenden Vorschriften der Strafprozessordnung missachtet oder berücksichtigen die Gerichte bei ihrer Auslegung und Anwendung nicht hinreichend die Tragweite des Rechtsstaatsgebots, so ist das Recht auf ein faires Verfahren verletzt (vgl. zu den Vorschriften über die Mitwirkung des Verteidigers BVerfGE 65, 171 ≪174, 175 f.≫; 66, 313 ≪318, 319 f.≫).
b) Ein solcher Fall liegt hier vor.
aa) Der Gesetzgeber hat das Recht des Beschuldigten auf ein faires Verfahren mit § 148 Abs. 1 StPO dahingehend konkretisiert, dass auch dem inhaftierten Beschuldigten schriftlicher und mündlicher Verkehr mit dem Verteidiger gestattet ist. Eine – eng auszulegende (vgl. BGHSt 36, 205 ≪208 f.≫ m.w.N.) – Ausnahme sieht § 148 Abs. 2 StPO lediglich für Fälle des dringenden Verdachts einer Straftat nach § 129a StGB, auch in Verbindung mit § 129b StGB, vor. Unabhängig von der Frage, inwieweit dies Beschränkungen der Häufigkeit telefonischer Kontaktaufnahme zwischen dem Beschuldigten und seinem Verteidiger aus Gründen der Anstaltsordnung zulässt (vgl. OLG Stuttgart, Beschluss vom 21. September 1994 – 1 Ws 197/94 –, StV 1995, S. 260 f.; KG, Beschluss vom 2. November 2001 – 1 AR 1192/00 u.a. –, juris; OLG Rostock, Beschluss vom 2. April 2003 – I Ws 118/03 –, juris; LG Dresden, Beschluss vom 6. September 2011 – 5 Qs 110/11 –, StraFo 2011, S. 393 ≪394≫; zur notwendigen Sicherstellung der Verteidigereigenschaft OLG Köln, Beschluss vom 12. August 2010 – 2 Ws 498/10 –, NStZ 2011, S. 55), ist danach für die nicht von § 148 Abs. 2 StPO erfassten Fälle jedenfalls eine Überwachung stattfindender Telefonate zwischen einem Beschuldigten und seinem nicht selbst tat- oder teilnahmeverdächtigen Verteidiger ausgeschlossen (vgl. BGHSt 33, 347 ≪350≫ m.w.N. zur Frage der Überwachung nach § 100a StPO; Meyer-Goßner, StPO, 54. Aufl. 2011, § 148 Rn. 16; Laufhütte, in: Karlsruher Kommentar zur StPO, 6. Aufl. 2008, § 148 Rn. 7; Julius, in: Heidelberger Kommentar zur StPO, 4. Aufl. 2009, § 148 Rn. 9; Lüderssen/Jahn, in: Löwe-Rosenberg, StPO, Bd. 4, 26. Aufl. 2007, § 148 Rn. 14).
Die Neufassung des § 119 Abs. 1 StPO durch das Gesetz zur Änderung des Untersuchungshaftrechts vom 29. Juli 2009 (BGBl I S. 2274), gemäß dessen Art. 8 Abs. 1 in Kraft getreten am 1. Januar 2010, hat daran nichts geändert. § 119 Abs. 1 StPO n.F. ermöglicht Beschränkungen der Telekommunikation von Untersuchungsgefangenen zur Abwehr einer Flucht-, Verdunkelungs- oder Wiederholungsgefahr. § 119 Abs. 4 Satz 1 StPO n.F. bestimmt jedoch ausdrücklich, dass die §§ 148, 148a StPO unberührt bleiben. Damit wird klargestellt, dass Maßnahmen nach § 119 Abs. 1 StPO n.F., soweit sie den durch § 148 Abs. 1 StPO garantierten freien Verkehr des Gefangenen mit seinem Verteidiger einschränken würden, nach wie vor nur in dem durch § 148 Abs. 2 StPO bestimmten Ausmaß zulässig sind (vgl. BTDrucks 16/11644, S. 28).
Unabhängig von der durch die angegriffenen Beschlüsse nicht beantworteten Frage, ob als Rechtsgrundlage der hier umstrittenen Beschränkung § 119 Abs. 1 StPO n.F. oder der zum Zeitpunkt der angegriffenen Entscheidungen im Freistaat Bayern gemäß Art. 125a Abs. 1 GG als Rechtsgrundlage für haftvollzugsrechtliche Maßnahmen fortgeltende § 119 Abs. 3 StPO a.F. in Betracht kam (zum kompetenzrechtlichen Hintergrund, zur Abgrenzung zwischen strafverfahrenssichernden und haftvollzugsrechtlichen Eingriffsgrundlagen und zu möglichen Überschneidungen vgl. BTDrucks 16/11644, S. 23), konnte daher die angegriffene Versagung des Telefonkontakts zwischen der Beschwerdeführerin und ihrem Verteidiger jedenfalls nicht – ohne jede Auseinandersetzung mit den Vorgaben des § 148 StPO – mit der Erwägung gerechtfertigt werden, Telefongespräche zwischen Gefangenen und ihrem Verteidiger seien allgemein nur unter Überwachung zuzulassen und daher wegen des damit verbundenen organisatorischen und personellen Aufwandes aus einem Anlass der von der Beschwerdeführerin angeführten Art nicht genehmigungsfähig.
bb) Soweit die angegriffenen Entscheidungen sich darauf berufen, dass nicht in der gebotenen Weise sicherzustellen sei, ob es sich bei einem telefonischen Gesprächspartner tatsächlich um den Verteidiger handele, ist dies jedenfalls nicht ohne nähere Darlegung nachvollziehbar. Die gewünschte telefonische Verbindung kann unter Nutzung der Telefonnummer, die der als solcher ausgewiesene Verteidiger angegeben hat, von der Justizvollzugsanstalt selbst hergestellt werden. Die Annahme, es sei grundsätzlich nicht hinreichend gewährleistet, dass es sich bei einer auf diesem Wege erreichten Person, die der Verteidiger zu sein behauptet, tatsächlich um den Verteidiger handelt, bedürfte näherer Begründung, die sich auch damit auseinanderzusetzen hätte, dass der Strafverteidiger kraft seiner Stellung als Organ der Rechtspflege nach geltendem Recht einen Vertrauensvorschuss genießt (vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 5. Januar 2006 – 2 BvR 2/06 –, NJW 2006, S. 1500 ≪1501≫; vgl. auch EGMR, Urteil vom 28. November 1991, S. ./. Schweiz, Beschwerde Nr. 12629/87 u.a., Rn. 48; Urteil vom 25. März 1992, Campbell ./. Vereinigtes Königreich, Beschwerde Nr. 13590/88, Rn. 46; Urteil vom 12. Mai 2005, Öcalan ./. Türkei, Beschwerde Nr. 46221/99, Rn. 133; Urteil vom 13. März 2007, Castravet ./. Moldawien, Beschwerde Nr. 23393/05, Rn. 49 f.; zur Frage des Missbrauchsausschlusses BGH, Beschluss vom 17. Mai 2011 – 1 StR 208/11 –, NStZ 2011, S. 592).
cc) Die Gerichte haben sich darüber hinaus auch mit der Frage, inwieweit schon die Darlegungslast, die Beschuldigten beziehungsweise ihren Verteidigern mit der Beschränkung wechselseitigen Telefonkontakts auf besonders zu begründende Dringlichkeitsfälle auferlegt wird, mit dem Anspruch auf Vertraulichkeit der Verteidigerkommunikation in Konflikt gerät, sowie mit der Bedeutung telefonischer Kontaktmöglichkeiten für die Effektivität des vom Recht auf ein faires Verfahren umfassten (vgl. BVerfGE 34, 293 ≪302≫; 38, 105 ≪111 f.≫; 39, 156 ≪163≫; 66, 313 ≪319≫; 68, 237 ≪255≫; 110, 226 ≪253≫) und in § 137 StPO einfachgesetzlich verankerten Rechts auf freie Wahl des Verteidigers nicht auseinandergesetzt.
c) Da die angegriffenen Entscheidungen auf dem festgestellten Verfassungsverstoß beruhen, sind sie nach § 95 Abs. 2 BVerfGG aufzuheben und die Sache an das Landgericht zurückzuverweisen.
III.
Die Entscheidung über die Auslagenerstattung beruht auf § 34a Abs. 2 BVerfGG.
Unterschriften
Lübbe-Wolff, Huber, Kessal-Wulf
Fundstellen
Haufe-Index 2997554 |
NJW 2012, 2790 |
PStR 2012, 187 |
NJW-Spezial 2012, 441 |
StV 2012, 610 |
StraFo 2012, 129 |