Entscheidungsstichwort (Thema)
Antrag auf Erlaß einer einstweiligen Anordnung
Verfahrensgang
Tenor
Dem Landkreis Wittenberg – Landrat – wird einstweilen bis zur Entscheidung über die Verfassungsbeschwerde untersagt, die im Bescheid des Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge vom 8. September 1995 angedrohte Abschiebung in die Türkei zu vollziehen.
Gründe
Der Antrag auf Erlaß einer einstweiligen Anordnung ist gemäß § 32 Abs. 1 BVerfGG zulässig und begründet.
Nach § 32 Abs. 1 BVerfGG kann das Bundesverfassungsgericht im Streitfall einen Zustand durch einstweilige Anordnung vorläufig regeln, wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile oder aus einem anderen wichtigen Grund zum gemeinen Wohl dringend geboten ist. Dabei haben die Gründe, die für die Verfassungswidrigkeit des angegriffenen Hoheitsakts vorgetragen werden, grundsätzlich außer Betracht zu bleiben. Gemäß der Sicherungsfunktion der einstweiligen Anordnung ist für deren Erlaß aber im Rahmen eines Verfassungsbeschwerde-Verfahrens kein Raum, wenn davon auszugehen ist, daß die Verfassungsbeschwerde gemäß den §§ 93a, 93b BVerfGG nicht zur Entscheidung anzunehmen sein wird. Das ist hier nicht der Fall.
Die Verfassungsbeschwerde ist weder unzulässig noch offensichtlich unbegründet. Die Beschwerdeführerin rügt, daß das Oberverwaltungsgericht unter Verstoß gegen die Rechtsschutzgarantie des Art. 19 Abs. 4 GG außer acht gelassen habe, ihren Antrag auf Zulassung der Berufung wegen grundsätzlicher Bedeutung (§ 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylVfG) im Hinblick auf die zwischenzeitlich ergangene Grundsatzentscheidung des Oberverwaltungsgerichts vom 26. September 1996 – 1 L 10/95 – in einen Antrag auf Berufungszulassung wegen Divergenz (§ 78 Abs. 3 Nr. 2 AsylVfG) umzudeuten (vgl. Kanein/Renner, Ausländerrecht, 6. Auflage, § 78 AsylVfG, Rn. 17 und 22). Ob dies von Verfassungs wegen zu beanstanden ist, bedarf der Klärung im Hauptsacheverfahren. Die Feststellung des Verwaltungsgerichts, wonach eine inländische Fluchtalternative (nur) dann nicht gegeben sei, wenn Anhaltspunkte dafür bestünden, daß gegen die Person eine landesweite Fahndung eingeleitet worden sei (vgl. Urteilsabdruck, S. 8), stellt sich möglicherweise als Rechtssatz dar, der von der (nachträglich) ergangenen Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts vom 26. September 1996 abweicht, wonach (bereits) solche Personen, die bei den Sicherheitskräften am Heimatort im Verdacht stehen, mit der militanten kurdischen Bewegung zu sympathisieren, in der West-Türkei vor politischer Verfolgung nicht hinreichend sicher seien (vgl. Beschlußabdruck, S. 4).
Es ist auch sonst derzeit kein Grund ersichtlich, warum die Verfassungsbeschwerde – ungeachtet der nicht auszuschließenden Verletzung der Antragstellerin im Recht aus Art. 19 Abs. 4 GG – nicht zur Entscheidung anzunehmen sein könnte; insbesondere ist nicht zu erkennen, daß ein Berufungsverfahren (§ 128 VwGO) mit Sicherheit zum Nachteil der Beschwerdeführerin ausgehen müßte.
Die nach allem gebotene Abwägung führt zu folgendem Ergebnis: Ergeht die einstweilige Anordnung nicht, erweist sich die Verfassungsbeschwerde später jedoch als begründet, so entstünde der Antragstellerin durch den Vollzug der Abschiebung ein schwerer und nicht wiedergutzumachender Nachteil. Ergeht die einstweilige Anordnung und erwiese sich die Verfassungsbeschwerde später als erfolglos, so wögen die damit verbundenen Nachteile durch den auf überschaubare Zeit verlängerten Aufenthalt der Antragstellerin in Deutschland weniger schwer.
Diese Entscheidung ist unanfechtbar.
Unterschriften
Hassemer, Sommer, Jentsch
Fundstellen
Haufe-Index 1276471 |
InfAuslR 1999, 36 |