Verfahrensgang
OLG Nürnberg (Beschluss vom 07.05.2012; Aktenzeichen 2 Ws 197/12) |
Tenor
Der Beschluss des Oberlandesgerichts Nürnberg vom 7. Mai 2012 – 2 Ws 197/12 – verletzt den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 2 Absatz 2 Satz 2 in Verbindung mit Artikel 104 Absatz 1 und Artikel 20 Absatz 3 des Grundgesetzes.
Er wird aufgehoben und die Sache zur erneuten Entscheidung an das Oberlandesgericht Nürnberg zurückverwiesen.
Damit erledigt sich der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung.
Im Übrigen wird die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen.
Der Freistaat Bayern hat dem Beschwerdeführer die notwendigen Auslagen zu erstatten.
Tatbestand
Mit der Verfassungsbeschwerde wendet sich der Beschwerdeführer gegen die Anordnung der Fortdauer der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung in einem sogenannten Altfall im Anwendungsbereich des § 67d Abs. 3 Satz 1 StGB.
I.
1. Der mehrfach vorbestrafte Beschwerdeführer wurde im März 1994 mit Urteil des Landgerichts Bayreuth wegen schweren Raubes in zwei Fällen, davon in einem Fall rechtlich zusammentreffend mit sexueller Nötigung, zu einer Freiheitsstrafe von acht Jahren verurteilt. Überdies wurde die Unterbringung in der Sicherungsverwahrung angeordnet. Er hatte im einen Fall einer Asylbewerberin ihre Tasche entrissen und ihr dann drohend ein Messer vorgehalten. Bei der anderen Tat – für die eine Einzelstrafe von sieben Jahren verhängt wurde – hatte er eine Frau in ein Gehölz gezerrt und ihre Hände gefesselt. Mit einem Messer hatte er ihr sodann die Hose im Schrittbereich aufgeschnitten, ihr an die Scheide gefasst und dort einen harten Gegenstand eingeführt. Das Menstruationsblut der Geschädigten hatte ihn von weiteren sexuellen Handlungen abgehalten. Der Beschwerdeführer hatte ihr sodann ihre Geldbörse mit etwa 400 DM weggenommen. Bei der Begehung beider, nur zwei Tage auseinander liegenden Taten hatte er sich im Lockerungsurlaub von der gegen ihn wegen vorheriger Delikte verhängten Maßregel der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt befunden.
2. Zur Vorbereitung der Entscheidung über die Fortdauer der Sicherungsverwahrung wurde im Januar 2012 ein Sachverständigengutachten erstellt, an welchem der Beschwerdeführer nicht mitwirkte. Der Sachverständige kam zu dem Ergebnis, deliktanaloge Taten „bis hin zu Vergewaltigungen” seien zu befürchten. Die Wahrscheinlichkeit für Gewalt- und Sexualdelikte liege bei „über 50 %”. Im Anhörungstermin erklärte der Sachverständige, die Rückfallwahrscheinlichkeit für einschlägige Delikte „vorwiegend mit Drohungen” liege bei 50 %. Eine psychische Störung könne nach Aktenlage nicht festgestellt werden. Es müsse ein „klinisch erkennbarer Komplex von Symptomen oder Verhaltensauffälligkeiten” vorliegen, der „auf der individuellen und oft auch auf der Gruppen- oder sozialen Ebene mit Belastung und mit Beeinträchtigung von Funktionen verbunden ist”. Dies sei in den inhaltlich nachvollziehbaren Vorgutachten nicht geprüft worden, so dass sich dieses Kriterium anhand der Aktenlage nicht zuverlässig habe belegen lassen.
3. Am 8. März 2012 waren die Freiheitsstrafe sowie zehn Jahre der Sicherungsverwahrung vollstreckt. Unter Hinweis auf die Übergangsregelung im Urteil des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 4. Mai 2011 (vgl. BVerfGE 128, 326 ff.) erklärte die auswärtige Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Regensburg mit dem Sitz in Straubing die Sicherungsverwahrung durch Beschluss vom 12. März 2012 für erledigt. Aus konkreten Umständen in der Person des Beschwerdeführers oder aus seinem Verhalten sei keine hochgradige Gefahr schwerster Gewalt- und Sexualstraftaten abzuleiten. Daher könne dahinstehen, ob eine „psychische Störung” vorliege.
4. Auf die sofortige Beschwerde der Staatsanwaltschaft hob das Oberlandesgericht Nürnberg mit angegriffenem Beschluss vom 7. Mai 2012 den landgerichtlichen Beschluss auf und ordnete die weitere Vollziehung der Sicherungsverwahrung an. Es bestehe die aus konkreten Umständen ableitbare Gefahr der Begehung schwerster Gewalt- oder Sexualstraftaten. Eine der begangenen Taten sei als besonders schwere Vergewaltigung gemäß § 177 Abs. 4 StGB mit Strafe ab fünf Jahren bedroht und daher als schwerste Sexualstraftat einzustufen. Ferner bestehe eine Rückfallwahrscheinlichkeit von mindestens 50 %, insbesondere da der Beschwerdeführer die Taten während des Freigangs auf dem Rückweg in die Entziehungsanstalt begangen habe. Eine psychische Störung in Form der dissozialen Persönlichkeitsstörung liege vor, auch wenn sich der Sachverständige diese Diagnose nach der Weigerung des Beschwerdeführers, an der Gutachtenerstattung mitzuwirken, letztlich nicht zugetraut habe.
Entscheidungsgründe
II.
Der anwaltlich nicht vertretene Beschwerdeführer sieht sich durch den angegriffenen Beschluss in seinen Grundrechten und grundrechtsgleichen Rechten aus Art. 2 in Verbindung mit Art. 20 und Art. 104 GG verletzt. Bei ihm handele es sich um einen „Altfall”, so dass er nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu Art. 5 und 7 EMRK nach Ablauf von zehn Jahren in der Sicherungsverwahrung zwingend zu entlassen sei. Auf die Gefahr der Begehung weiterer Straftaten dürfe es dabei nicht ankommen. Die Fortdauer der Sicherungsverwahrung verstoße gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit.
Ferner macht der Beschwerdeführer die Zahlung von Haftkosten, die ihm wegen seines Status als Sicherungsverwahrter im Mai 2010 nicht hätten auferlegt werden dürfen, und die Festsetzung einer Entschädigungszahlung geltend.
III.
1. Das Bayerische Staatsministerium der Justiz und für Verbraucherschutz hatte Gelegenheit zur Stellungnahme. Es führt insbesondere aus, das Oberlandesgericht sei in verfassungsrechtlich nicht zu beanstandender Weise zu dem Ergebnis gekommen, dass eine hochgradige Gefahr schwerster Gewalt- und Sexualstraftaten vorliege. Die durch den Sachverständigen festgestellte „mindestens 50-prozentige Rückfallwahrscheinlichkeit” sei nachvollziehbar. Die Wertung, dass es sich bei den drohenden Straftaten um schwerste Taten handle, sei verfassungsrechtlich nicht angreifbar.
2. Der Generalbundesanwalt hatte Gelegenheit zur Stellungnahme. Er ist der Auffassung, die oberlandesgerichtliche Rechtsanwendung halte der verfassungsrechtlichen Nachprüfung noch stand. Das Oberlandesgericht habe das Vorliegen einer hochgradigen Gefahr für schwerste Gewalt- und Sexualstraftaten willkürfrei angenommen. Da eine besonders hohe Rückfallgefahr festgestellt worden sei, stelle sich die Fortdauer auch dann als verhältnismäßig dar, wenn die drohenden Straftaten innerhalb der Bandbreite schwerster Gewalt- und Sexualstraftaten eher am unteren Ende anzusiedeln seien. Zudem sei die Annahme einer psychischen Störung verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. Auch wenn der Sachverständige nicht sämtliche Elemente einer dissozialen Persönlichkeitsstörung habe nachweisen können, habe das Gericht das Vorliegen dieser Störung insbesondere unter Bezugnahme auf Vorgutachten festgestellt.
3. Die Akte des Ausgangsverfahrens hat dem Bundesverfassungsgericht ebenso vorgelegen wie das Vollstreckungsheft.
IV.
Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an, weil dies zur Durchsetzung des Grundrechts des Beschwerdeführers aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Art. 104 Abs. 1 und Art. 20 Abs. 3 GG angezeigt ist (§ 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG) und auch die weiteren Voraussetzungen für eine stattgebende Kammerentscheidung nach § 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG erfüllt sind. Das Bundesverfassungsgericht hat die für die Beurteilung der Verfassungsbeschwerde maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen – insbesondere hinsichtlich der Verhältnismäßigkeit der Fortdauer einer vor 1999 angeordneten Sicherungsverwahrung über den Zeitraum von zehn Jahren hinaus – bereits entschieden (§ 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG; vgl. BVerfGE 128, 326 ≪399≫). Die Verfassungsbeschwerde ist im Wesentlichen offensichtlich begründet.
1. Soweit der Beschwerdeführer die Erstattung von Haftkosten und die Zahlung einer Entschädigung geltend macht, ist die Verfassungsbeschwerde unzulässig, da sie nicht hinreichend substantiiert (§ 23 Abs. 1 Satz 2, § 92 BVerfGG) und der Rechtsweg gemäß § 90 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG nicht erschöpft ist.
2. Im Übrigen ist die Verfassungsbeschwerde offensichtlich begründet. Der angegriffene Beschluss zur Fortdauer der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung verletzt den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Art. 104 Abs. 1 Satz 1 und Art. 20 Abs. 3 GG. Er genügt den Anforderungen nicht, die sich für die Fortdauer der Sicherungsverwahrung auf der Grundlage der verfassungswidrigen, aber für vorläufig weiter anwendbar erklärten Vorschrift des § 67d Abs. 3 Satz 1 in Verbindung mit § 2 Abs. 6 StGB aus Nr. III.2.a) des Tenors des Urteils des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 4. Mai 2011 (BVerfGE 128, 326 ≪399≫) ergeben.
a) Das Bundesverfassungsgericht hat – neben anderen Vorschriften über die Anordnung und Dauer der Sicherungsverwahrung – auch § 67d Abs. 3 Satz 1 StGB in der Fassung des Gesetzes zur Bekämpfung von Sexualdelikten und anderen gefährlichen Straftaten vom 26. Januar 1998 (BGBl I S. 160) wegen Verstoßes gegen das Abstandsgebot für unvereinbar mit Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Art. 104 Abs. 1 GG erklärt (BVerfGE 128, 326 f.). Zugleich hat es gemäß § 35 BVerfGG die Weitergeltung der Norm bis zu einer Neuregelung durch den Gesetzgeber, längstens bis zum 31. Mai 2013, angeordnet (BVerfGE 128, 326 ≪332≫). Danach darf § 67d Abs. 3 Satz 1 nur nach Maßgabe einer – insbesondere im Hinblick auf die Anforderungen an die Gefahrenprognose und die gefährdeten Rechtsgüter – strikten Verhältnismäßigkeitsprüfung angewandt werden (BVerfGE 128, 326 ≪406≫).
Darüber hinaus hat das Bundesverfassungsgericht festgestellt, dass § 67d Abs. 3 Satz 1 in Verbindung mit § 2 Abs. 6 StGB – soweit er zur Anordnung der Fortdauer der Sicherungsverwahrung über zehn Jahre hinaus auch bei Verurteilten ermächtigt, deren Anlasstaten vor Inkrafttreten von Art. 1 des Gesetzes zur Bekämpfung von Sexualdelikten und anderen gefährlichen Straftaten vom 26. Januar 1998 (BGBl I S. 160) begangen wurden – mit Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG unvereinbar ist (BVerfGE 128, 326 ≪331, 332≫). In diesen Fällen tritt unter Berücksichtigung der Wertungen der EMRK der legitime gesetzgeberische Zweck, die Allgemeinheit vor gefährlichen Straftätern zu schützen, weitgehend hinter das grundrechtlich geschützte Vertrauen in ein Ende der Sicherungsverwahrung nach Ablauf von zehn Jahren zurück (vgl. BVerfGE 128, 326 ≪399≫). Daher darf gemäß Nr. III.2.a) des Tenors des Urteils des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 4. Mai 2011 die Fortdauer der Sicherungsverwahrung nur noch angeordnet werden, wenn eine hochgradige Gefahr schwerster Gewalt- oder Sexualstraftaten aus konkreten Umständen in der Person oder dem Verhalten des Untergebrachten abzuleiten ist und dieser an einer psychischen Störung im Sinne von § 1 Abs. 1 Nr. 1 des Gesetzes zur Therapierung und Unterbringung psychisch gestörter Gewalttäter (Therapieunterbringungsgesetz – ThUG) leidet (BVerfGE 128, 326 ≪332≫).
Dabei handelt es sich bei dem Begriff der „psychischen Störung” in § 1 Abs. 1 Nr. 1 ThUG um einen unbestimmten Rechtsbegriff, der mit den überkommenen Kategorisierungen der Psychiatrie nicht deckungsgleich ist. Ob seine Merkmale im Einzelfall erfüllt sind, haben die Gerichte eigenständig zu prüfen (vgl. BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 15. September 2011 – 2 BvR 1516/11 –, juris, Rn. 39). In den Fällen einer „dissozialen Persönlichkeitsstörung” kommt es im Rahmen des § 1 Abs. 1 Nr. 1 ThUG entscheidend auf den Grad der objektiven Beeinträchtigung der Lebensführung in sozialer und ethischer Hinsicht an, der anhand des gesamten – auch des strafrechtlich relevanten – Verhaltens des Betroffenen zu bestimmen ist (vgl. BVerfG, a.a.O., Rn. 40).
Darüber hinaus beinhaltet der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, dass die Anordnung und Fortdauer der Sicherungsverwahrung als letztes Mittel nur in Betracht kommt, wenn andere, weniger einschneidende Maßnahmen nicht ausreichen, um den Sicherheitsinteressen der Allgemeinheit Rechnung zu tragen (BVerfGE 128, 326 ≪379≫; 70, 297 ≪314≫).
Zwar setzt die Feststellung der dargestellten Voraussetzungen für die Fortdauer der Sicherungsverwahrung eine wertende richterliche Entscheidung voraus, die das Bundesverfassungsgericht nicht in allen Einzelheiten nachprüfen kann (vgl. BVerfGE 70, 297 ≪314, 315≫). Aufgrund des zunehmenden Gewichts des Freiheitsanspruchs erhöhen sich bei langandauernden Unterbringungen aber die Anforderungen an die Wahrheitserforschung (vgl. im Einzelnen BVerfGE 109, 133 ≪162 ff.≫) und die verfassungsgerichtliche Kontrolldichte (vgl. BVerfGE 70, 297 ≪316≫). Daher ist in diesen Fällen im Wege verfassungsgerichtlicher Kontrolle nachzuvollziehen, ob die Annahme der Voraussetzungen für die Fortdauer der Sicherungsverwahrung auf einer hinreichenden tatsächlichen Grundlage beruht und dem Gebot bestmöglicher Sachaufklärung Rechnung getragen ist (vgl. BVerfGE 70, 297 ≪308 f.≫).
b) Diesen verfassungsrechtlichen Vorgaben genügt der Beschluss des Oberlandesgerichts Nürnberg vom 7. Mai 2012 nicht. Das Gericht legt zwar die Anforderungen, die sich aus Nr. III.2.a) des Tenors des Urteils des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 4. Mai 2011 für die Fortdauer der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung ergeben, seiner Entscheidung zugrunde. Die Feststellungen des Gerichts vermögen aber die Annahme einer hochgradigen Gefahr schwerster Sexual- oder Gewaltstraftaten nicht zu rechtfertigen und verletzen dadurch das Freiheitsgrundrecht des Beschwerdeführers. Auch im Übrigen trägt der Beschluss den Anforderungen an eine strikte Verhältnismäßigkeitsprüfung nicht hinreichend Rechnung.
aa) Hinsichtlich des Vorliegens einer hochgradigen Gefahr schwerster Gewalt- oder Sexualstraftaten geht das Oberlandesgericht in seinem angegriffenen Beschluss davon aus, dass beide Merkmale nicht isoliert voneinander zu betrachten seien. Stehe ein Delikt im Raum, das sich am unteren Rand der Bandbreite bewege, bedürfe es einer besonders hohen Rückfallgefahr. Vorliegend bestehe nach den Feststellungen des Sachverständigen die Gefahr von Straftaten, die in ihrer Intensität den bisher begangenen Delikten entsprechen. Dabei sei insbesondere auf die letzte begangene Tat abzustellen, bei der der Beschwerdeführer ein Messer eingesetzt habe, um sexuelle Handlungen vornehmen zu können. Derartige Taten seien gemäß § 177 Abs. 1 Nr. 1, 2, Abs. 2 Nr. 1, Abs. 4 Nr. 1 StGB mit einer Mindestfreiheitsstrafe von fünf Jahren bedroht. Da der Sachverständige eine mindestens 50-prozentige Rückfallwahrscheinlichkeit angenommen habe, liege eine hochgradige Gefahr schwerster Gewalt- oder Sexualstraftaten vor.
Damit lässt das Oberlandesgericht bereits die von ihm selbst dargelegte Wechselwirkung zwischen Rückfallrisiko und Deliktsschwere außer Betracht. Auch wenn in Fällen des § 177 Abs. 4 Nr. 1 StGB angesichts einer Mindestfreiheitsstrafe von fünf Jahren eine „schwerste Sexualstraftat” im Sinne der Übergangsregelung des Bundesverfassungsgerichts vom 4. Mai 2011 vorliegen kann, ist zu berücksichtigen, dass es noch schwerere, mit höheren Strafdrohungen verbundene Sexual- und Gewaltdelikte gibt (§§ 176b, 178, 211, § 212 Abs. 2, § 251 StGB). Die sexuelle Nötigung gemäß § 177 Abs. 4 Nr. 1 StGB ist daher allenfalls dem mittleren Bereich der schwersten Taten einzuordnen. Vor diesem Hintergrund hätte aber für das Oberlandesgericht Veranlassung bestanden, sich mit der Frage auseinanderzusetzen, ob eine Rückfallwahrscheinlichkeit von (mindestens) 50 % ausreicht, um eine „hochgradige Gefahr schwerster Gewalt- oder Sexualstraftaten” annehmen zu können. Hierzu verhält sich der angegriffene Beschluss jedoch nicht.
Vor allem aber gibt das Gericht die Feststellungen des Sachverständigen nur unvollständig wieder. Zwar hat er in seinem Gutachten die Wahrscheinlichkeit weiterer Gewalt- und Sexualdelikte mit über 50 % eingestuft. Bei der mündlichen Anhörung hat er demgegenüber nur noch von einer Wahrscheinlichkeit von 50 % gesprochen und diesen Wahrscheinlichkeitsgrad auf „einschlägige Delikte (vorwiegend mit Drohungen)” beschränkt. Unter einschlägigen Delikten versteht der Sachverständige ausweislich seines Gutachtens Handlungen der Körperverletzung bis hin zur Vergewaltigung, aber auch andere Delikte wie Betrug, Diebstahl oder Unterschlagung. Außerdem hat er im Rahmen der mündlichen Anhörung erklärt, dass die Wahrscheinlichkeit für noch gravierendere Delikte deutlich geringer sei.
Damit rechtfertigen die Feststellungen des Sachverständigen die Annahme einer hochgradigen Gefahr sexueller Nötigungen im Sinne des § 177 Abs. 4 Nr. 1 StGB oder vergleichbar schwerwiegender Straftaten nicht. Eine überwiegende Wahrscheinlichkeit der Begehung schwerster Sexual- oder Gewaltstraftaten kann weder aus den Ausführungen des Sachverständigen noch aus sonstigen Umständen abgeleitet werden. Eine Fortdauer der Sicherungsverwahrung hätte aber die Feststellung einer hochgradigen Gefahr der Begehung gerade derartiger Straftaten zur Voraussetzung. Insofern beruhen die Feststellungen des Oberlandesgerichts auf einer unzureichenden tatsächlichen Grundlage. Um eine überwiegende Wahrscheinlichkeit schwerster Sexualstraftaten anzunehmen, hätte es weiterer Sachaufklärung bedurft.
bb) Auch die Annahme des Vorliegens einer „psychischen Störung” im Sinne des § 1 Abs. 1 Nr. 1 ThUG begegnet durchgreifenden verfassungsrechtlichen Bedenken. Das Oberlandesgericht nimmt insoweit das Vorliegen einer dissozialen Persönlichkeitsstörung an.
Im vorliegenden Verfahren hat der Sachverständige erklärt, angesichts der Weigerung des Beschwerdeführers zur Mitwirkung bei der Gutachtenerstellung eine entsprechende Diagnose nicht stellen zu können. Soweit das Oberlandesgericht stattdessen zur Begründung einer dissozialen Persönlichkeitsstörung des Beschwerdeführers auf die Feststellungen der Vorgutachter zurückgreift, hat der Sachverständige in der mündlichen Anhörung erklärt, dass eine Persönlichkeitsstörung nur festgestellt werden könne, wenn eine Beeinträchtigung der Lebensführung durch einen Symptomkomplex vorliege. Dies sei bei früheren Gutachten aber nicht geprüft worden. Hierzu verhält sich der angegriffene Beschluss nicht.
Des Weiteren begründet das Oberlandesgericht das Vorliegen einer dissozialen Persönlichkeitsstörung damit, dass der Beschwerdeführer in seiner Lebensführung in sozialer und ethischer Hinsicht objektiv beeinträchtigt sei, weil er seinen spontanen körperlichen Angriffen gegen Frauen keine willentliche Gegenwehr entgegensetzen könne. Worauf sich diese Annahme gründet, ist nicht ersichtlich. Sie steht im Widerspruch zu den Feststellungen des anlässlich der Begehung der Ausgangstat eingeholten Sachverständigengutachtens, auf das das Oberlandesgericht sich in seinem Beschluss ebenfalls bezieht. Dort wurde ausdrücklich festgestellt, der Beschwerdeführer unterliege keinem zwanghaften Trieb. Vielmehr sei sein Gewissen nicht ausreichend ausgebildet und er verfüge über ein hohes Maß an Bedenkenlosigkeit. Vor diesem Hintergrund hätte die Annahme einer dissozialen Persönlichkeitsstörung weiterer Begründung bedurft.
cc) Darüber hinaus verhält der angegriffene Beschluss sich nicht zu der Frage, ob und inwieweit die Möglichkeit bestand, durch Maßnahmen der Führungsaufsicht ein ausreichendes Maß an Kontrolle und Betreuung des Beschwerdeführers zu erreichen.
3. Der Beschluss des Oberlandesgerichts Nürnberg ist daher aufzuheben. Die Sache ist an das Oberlandesgericht Nürnberg zurückzuverweisen (§ 95 Abs. 2 BVerfGG).
4. Mit der Entscheidung über die Verfassungsbeschwerde erledigt sich der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung.
5. Die Entscheidung über die Auslagenerstattung beruht auf § 34a Abs. 2 und 3 BVerfGG.
Unterschriften
Gerhardt Hermanns Müller
Fundstellen
Haufe-Index 4808596 |
NPA 2014 |
R&P 2013, 217 |